Bundesgerichtshof, Beschluss vom 23.11.2022, Az. XII ZB 384/22

12. Zivilsenat | REWIS RS 2022, 8374

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Gegenstand

Unterbringungssache: Pflicht zur Aushändigung des Sachverständigengutachtens an den Betroffenen vor dem Anhörungstermin; Übermittlung des Gutachtens an den Betroffenen


Leitsatz

1. Die Verwertung eines Sachverständigengutachtens als Grundlage einer Entscheidung in der Hauptsache gemäß § 37 Abs. 2 FamFG setzt voraus, dass das Gericht den Beteiligten Gelegenheit zur Stellungnahme eingeräumt hat. Insoweit ist das Gutachten in seinem vollen Wortlaut dem Betroffenen im Hinblick auf seine Verfahrensfähigkeit (§ 316 FamFG) grundsätzlich rechtzeitig vor dem Anhörungstermin zu überlassen, um ihm Gelegenheit zu geben, sich zu diesem und den sich hieraus ergebenden Umständen zu äußern (im Anschluss an Senatsbeschluss vom 24. März 2021 - XII ZB 445/20, FamRZ 2021, 1240).

2. Hat das Amtsgericht die Hinausgabe des Sachverständigengutachtens an den Betroffenen verfügt und ist diese Verfügung ausgeführt, so hat das Amtsgericht grundsätzlich seine Verpflichtung erfüllt, dem Betroffenen das Gutachten im vollen Umfang zu überlassen. Anders verhält es sich aber dann, wenn das Amtsgericht aufgrund weiterer Umstände gleichwohl nicht auf die erfolgreiche Übermittlung des Gutachtens an den Betroffenen vertrauen kann.

Tenor

Auf die Rechtsbeschwerde der Betroffenen wird der Beschluss des [X.] vom 5. September 2022 aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Behandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des [X.], an das [X.] zurückverwiesen.

Das [X.] ist gerichtskostenfrei.

Gründe

1

Die Rechtsbeschwerde der Betroffenen wendet sich mit Erfolg dagegen, dass das [X.] die Beschwerde gegen die Genehmigung ihrer zivilrechtlichen Unterbringung bis längstens 11. August 2023 zurückgewiesen hat. Sie rügt zutreffend, dass der angefochtene Beschluss [X.] ergangen ist, weil das [X.] die Betroffene nicht erneut angehört hat.

2

1. Nach § 319 Abs. 1 Satz 1 FamFG hat das Gericht den Betroffenen vor einer Unterbringungsmaßnahme persönlich anzuhören und sich einen persönlichen Eindruck von ihm zu verschaffen. Diese Pflicht zur persönlichen Anhörung des Betroffenen besteht nach § 68 Abs. 3 Satz 1 FamFG grundsätzlich auch im Beschwerdeverfahren. Zwar räumt § 68 Abs. 3 Satz 2 FamFG auch in einem Unterbringungsverfahren dem Beschwerdegericht die Möglichkeit ein, von einer erneuten Anhörung des Betroffenen abzusehen. Dies setzt jedoch unter anderem voraus, dass die Anhörung bereits im ersten Rechtszug ohne Verletzung zwingender Verfahrensvorschriften vorgenommen worden ist (vgl. Senatsbeschluss vom 24. März 2021 - [X.] 445/20 - FamRZ 2021, 1240 Rn. 15 mwN).

3

2. Gemessen daran durfte das Beschwerdegericht im vorliegenden Fall nicht - wie geschehen - von einer persönlichen Anhörung der Betroffenen nach § 68 Abs. 3 Satz 2 FamFG absehen. Die erstinstanzliche Anhörung war [X.], weil - wie die Rechtsbeschwerde im Ergebnis mit Recht rügt - der Betroffenen das Sachverständigengutachten nicht vor der Anhörung überlassen worden war.

4

a) Nach ständiger Rechtsprechung des Senats setzt die Verwertung eines Sachverständigengutachtens als Grundlage einer Entscheidung in der Hauptsache gemäß § 37 Abs. 2 FamFG voraus, dass das Gericht den Beteiligten Gelegenheit zur Stellungnahme eingeräumt hat. Insoweit ist das Gutachten in seinem vollen Wortlaut dem Betroffenen im Hinblick auf seine [X.] (§ 316 FamFG) grundsätzlich rechtzeitig vor dem Anhörungstermin zu überlassen, um ihm Gelegenheit zu geben, sich zu diesem und den sich hieraus ergebenden Umständen zu äußern (Senatsbeschluss vom 24. März 2021 - [X.] 445/20 - FamRZ 2021, 1240 Rn. 12 mwN). Davon kann nur unter den - hier nicht vorliegenden - Voraussetzungen des entsprechend anwendbaren § 325 Abs. 1 FamFG abgesehen werden (vgl. Senatsbeschluss vom 13. April 2022 - [X.] 267/21 - FamRZ 2022, 1132 Rn. 11).

5

b) [X.] ist vorliegend jedoch davon auszugehen, dass die Betroffene das Sachverständigengutachten nicht vor der amtsgerichtlichen Anhörung erhalten hat.

6

Das Amtsgericht hatte allerdings in der ersten den Anhörungstermin vorbereitenden Verfügung vom 8. August 2022 angeordnet, dass die [X.] zusammen mit dem Gutachten und dem Hinweis, dass dieses der Betroffenen persönlich auszuhändigen sei, per Fax an die Einrichtung, in der die Betroffene bereits untergebracht war, übersendet werden sollte. Diese Verfügung ist in der Akte auch als ausgeführt gekennzeichnet, so dass das Amtsgericht insoweit das Erforderliche veranlasst hatte. Daher ist in derartigen Fällen grundsätzlich rechtsbeschwerderechtlich von der Bekanntgabe des Gutachtens an den Betroffenen auszugehen (vgl. etwa Senatsbeschlüsse vom 24. März 2021 - [X.] 445/20 - FamRZ 2021, 1240 Rn. 13 und vom 5. Februar 2020 - [X.] 252/19, [X.], 784 Rn. 13).

7

Anders verhält es sich aber dann, wenn das Amtsgericht aufgrund weiterer Umstände gleichwohl nicht auf die erfolgreiche Übermittlung des Gutachtens vertrauen kann. So liegt es hier. Denn die Betroffene hatte im Anhörungstermin vom 11. August 2022 gegenüber der Amtsrichterin wiederholt darauf hingewiesen, das Sachverständigengutachten nicht erhalten zu haben. Hinzu kommt, dass die Betroffene in der [X.] zwischen der Gutachtensübersendung und dem Anhörungstermin ausweislich zweier Telefonvermerke vom 10. August 2022 tagsüber kaum in der Einrichtung anzutreffen war. Dass ihr das Gutachten unbeschadet dessen ausgehändigt worden war, erschließt sich auch nicht anderweitig, etwa durch inhaltliche Bezugnahmen der Betroffenen auf die schriftlichen Ausführungen des Sachverständigen oder durch bei der Akte befindliche Stellungnahmen des [X.]. Mithin erlaubte die ausgeführte Übersendungsverfügung hier nicht den Schluss darauf, dass der Betroffenen das Gutachten vor dem Anhörungstermin in seinem vollen Wortlaut überlassen worden war. Vielmehr bestand für das Amtsgericht Veranlassung, dieser Frage nachzugehen, um eine ggf. unterbliebene Aushändigung nachholen zu können und dann auch einen neuen Anhörungstermin anzuberaumen. Dies ist rechtsfehlerhaft unterblieben.

8

3. Weil die Sache noch nicht zur Endentscheidung reif ist, ist sie unter Aufhebung des angefochtenen Beschlusses zur anderweitigen Behandlung und Entscheidung an das [X.] zurückzuverweisen, § 74 Abs. 5 und 6 Satz 2 FamFG.

9

Von einer weiteren Begründung der Entscheidung wird abgesehen, weil sie nicht geeignet wäre, zur Klärung von Rechtsfragen grundsätzlicher Bedeutung, zur Fortbildung des Rechts oder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung beizutragen (§ 74 Abs. 7 FamFG).

[X.]     

      

[X.]     

      

Schilling

      

Günter     

      

Botur     

      

Meta

XII ZB 384/22

23.11.2022

Bundesgerichtshof 12. Zivilsenat

Beschluss

Sachgebiet: ZB

vorgehend LG Offenburg, 5. September 2022, Az: 1 T 106/22

§ 37 Abs 2 FamFG, § 68 Abs 3 FamFG, § 316 FamFG, § 319 Abs 1 S 1 FamFG, Art 103 Abs 1 GG

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Beschluss vom 23.11.2022, Az. XII ZB 384/22 (REWIS RS 2022, 8374)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2022, 8374 NJW 2023, 991 REWIS RS 2022, 8374

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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