Bundesgerichtshof, Entscheidung vom 19.11.2013, Az. 4 StR 448/13

4. Strafsenat | REWIS RS 2013, 1041

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BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
4 [X.]

vom
19. November
2013

Nachschlagewerk:
ja
[X.]St:
nein
Veröffentlichung:
ja
____________________________

StGB § 46 Abs. 2

Die durch §
46 Abs.
2 StGB gezogene Grenze zulässiger strafschärfender Be-rücksichtigung nicht angeklagter, aber [X.] festgestellter Taten ist jedenfalls dann überschritten, wenn diese mangels enger Beziehung zur angeklagten Tat keine Rückschlüsse auf Schuld oder Gefährlichkeit des [X.] zulassen, sondern als sonstiges strafrechtlich relevantes Verhalten ohne gesonderte Anklage und damit außerhalb der Anforderungen eines geordneten Strafverfahrens einer gesonderten Bewertung zugeführt werden sollen.

[X.], Beschluss vom 19. November 2013 -
4 [X.] -
LG [X.]

in der Strafsache
gegen

wegen Totschlags

-
2
-
Der 4.
Strafsenat des [X.] hat nach Anhörung des [X.] und des Beschwerdeführers am 19.
November 2013 gemäß §
349 Abs.
2 und 4 StPO beschlossen:

1.
Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Land-gerichts [X.] vom 29.
Mai 2013 im Strafausspruch mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben.
2.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhand-lung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmit-tels, an eine andere als Schwurgericht zuständige Straf-kammer des [X.] zurückverwiesen.
3.
Die weiter gehende Revision wird verworfen.

Gründe:
Das [X.] hat den Angeklagten wegen Totschlags zu einer Frei-heitsstrafe von dreizehn Jahren verurteilt. Die Revision des Angeklagten führt auf die Sachrüge zur Aufhebung des Strafausspruchs; im Übrigen ist das Rechtsmittel unbegründet im Sinne von §
349 Abs.
2 StPO.
1
-
3
-
I.
Das [X.] hat folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:
1.
Am 21.
September 2012 tötete
der Angeklagte seine Ehefrau bei
einem Streit in der gemeinsamen Wohnung durch einen kraftvoll geführten Stich mit einem Messer in die linke Brust, durch den die rechte Herzkammer eröffnet wurde, so dass das Opfer verblutete. Nachdem der Angeklagte in den folgenden Tagen den Leichnam sowie die Tatspuren beseitigt hatte, wurde er schließlich am 23.
Oktober 2012 festgenommen.
Der weitgehend geständige Angeklagte hat in der Hauptverhandlung, in der eine Verständigung im Sinne von §
257c StPO nicht erfolgt ist, außerdem zahlreiche von der Anklage nicht umfasste Taten des sexuellen Missbrauchs zum Nachteil seiner beiden damals etwa zehn bis vierzehn Jahre alten [X.] eingeräumt, bei denen es über einen Zeitraum von etwa zwei Jahren vor der hier angeklagten Straftat, teilweise aber auch noch danach, regelmäßig zu vaginalem Geschlechtsverkehr kam.
2.
Auf der Grundlage der glaubhaften Angaben des Angeklagten sowie der beiden Geschädigten, so die [X.], müssten mindestens 215
Taten des sexuellen Missbrauchs im Sinne von §
176a Abs.
2 Nr.
1 StGB als erwie-sen angesehen werden, für die das Gesetz eine Mindeststrafe von zwei Jahren androhe. Sie seien

nach entsprechender Belehrung des Angeklagten

auf-geklärt und, obwohl nicht angeklagt, als Teil des [X.] im Sinne von §
46 Abs.
2 StGB zu seinem Nachteil bei der Zumessung der Strafe berücksichtigt worden. Seinem Geständnis komme daher einerseits besonderes Gewicht zu. Andererseits habe er das ihm von den beiden Mädchen entgegengebrachte 2
3
4
5
-
4
-
Vertrauen und
seine Stellung als Autoritätsperson zur Tatbegehung miss-braucht; die konkrete Tatausführung sei für die Geschädigten in einigen Fällen besonders erniedrigend gewesen. Das [X.] führt sodann weiter aus:

Die Kammer hofft unter diesen Umständen, dass es wegen der hier auch auf-grund des Geständnisses des Angeklagten festgestellten Sexualstraftaten der Durchführung eines neuen Strafverfahrens nicht mehr bedarf und den Geschä-digten auf diese Weise weitere Vernehmungen erspart bleiben. Was die hier vorzunehmende Strafzumessung betrifft, geht die Kammer davon als sicher

Diese Erwägungen begegnen durchgreifenden rechtlichen Bedenken.
II.
1.
a)
Gemäß §
46 Abs.
2 StGB hat der Tatrichter bei der Strafzumessung die für und gegen den Täter sprechenden Umstände gegeneinander abzuwä-gen und dabei namentlich auch sein Vorleben zu berücksichtigen. Dies umfasst die im Urteil festgestellten Vorstrafen. Es ist in der ständigen Rechtsprechung des [X.] aber auch anerkannt, dass der Tatrichter bei der [X.] und Bewertung von Strafzumessungstatsachen durch den [X.] (§§
155, 264 StPO) nicht beschränkt ist und daher auch strafbare Handlungen ermitteln und würdigen kann, die nicht Gegenstand der Anklage sind, soweit diese für die Beurteilung der Persönlichkeit des Angeklagten [X.] sein können und Rückschlüsse auf die Tatschuld des Angeklagten gestatten, sofern sie [X.] und damit hinreichend bestimmt festgestellt werden ([X.], Urteil vom 7.
Mai 1974

1
StR
42/75, [X.] 1975, 195
f.; [X.], Urteil vom 6.
März 1992

2
StR
581/91, [X.]R StGB §
46 Abs.
2 6
7
-
5
-
Vorleben
19; Beschluss vom 22.
Mai 2013

2
StR
68/13; Beschluss vom 2.
Juli
2009

3
StR
251/09, [X.], 306; Beschluss vom 5.
Februar 1998

4
StR
16/98, [X.], 404;
Beschluss vom 9.
Oktober 2003

4
StR
359/03, [X.], 359 mwN).
Allerdings bedarf es für die gesonderte Bewertung sonstiger straf-rechtlich relevanter Verhaltensweisen ohne gesonderte Anklage und damit
außerhalb der Anforderungen eines geordneten Strafverfahrens nicht nur der Beachtung des Gewährleistungsgehalts der Unschuldsvermutung gemäß
Art.
6 Abs.
2 [X.] (vgl. dazu [X.], Beschluss vom 5.
April 2010

2
BvR
366/10, [X.]K
17, 223, 225 mwN) und

mangels Verbrauchs der Strafklage

der Vermeidung einer Doppelbestrafung ([X.], Urteil vom 7.
Mai
1974

1
StR
42/74, [X.] 1975, 195
f.; vgl. auch [X.], Urteil vom 16.
Dezember
1975

1
StR
755/75, NStZ 1981, 99, 100; Urteil vom 17.
April
1996

2
StR
57/96; [X.]R StGB §
46 Abs.
2 Vorleben
26; Beschluss vom 5.
Februar
1998

4
StR
16/98, [X.], 404 bezüglich späterer Straf-taten; Beschluss vom 25.
April 2006

4
StR
125/06, [X.], 620). Ein sachlich-rechtlicher Gesichtspunkt kommt hinzu: Es kann in aller Regel nur
darum gehen, Umstände festzustellen, die wegen ihrer engen Beziehung zur Tat als Anzeichen für Schuld oder Gefährlichkeit des [X.] verwertbar sind. Diese
durch Sinn und Zweck von §
46 Abs.
2 StGB gezogene Grenze ist [X.] dann überschritten, wenn es an dem notwendigen inneren Zusammenhang mit dem angeklagten Tatvorwurf fehlt ([X.], Urteil vom 7.
Mai 1974 aaO).
b)
Ausgehend von diesen Grundsätzen lassen die Ausführungen des [X.] besorgen, dass es den Taten des Angeklagten zum Nachteil [X.] bei der Zumessung der schuldangemessenen Strafe für die an-geklagte Tat ein zu großes Gewicht beigemessen hat. Es hat im vorliegenden 8
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6
-
Fall die nicht angeklagten Taten zwar unter Wahrung der Verteidigungsrechte des Angeklagten [X.] festgestellt. Dabei hat es aber das Erfordernis des inneren Zusammenhangs jedenfalls derjenigen Taten, die vor der verfahrensgegenständlichen Tat begangen wurden, mit dem (zeitlich nach-folgenden) Tatvorwurf aus dem Blick verloren. Denn es handelt sich bei diesen Taten weder um vergleichbare bzw. gleichartige Schuldvorwürfe, aus denen sich unmittelbare Rückschlüsse auf die Tatschuld des Angeklagten ableiten ließen, noch waren die Sexualstraftaten Anlass für die Tötung der Ehefrau oder standen dazu in einem sonstigen inneren Zusammenhang. Allein das ver-wandtschaftliche Verhältnis der Geschädigten zueinander und das familiäre Beziehungsgeflecht von Opfern und Täter sind dafür nicht ausreichend. Gegen einen solchen Zusammenhang sprechen ferner die große Zahl der festgestell-ten Einzeltaten und der lange Tatzeitraum.
Zudem deutet auch die in den Urteilsgründen geäußerte Hoffnung des [X.], dass es wegen aller Sexualstraftaten im Hinblick auf die für das Tötungsdelikt verhängte Strafe nicht zu einem weiteren Strafverfahren kommen werde (UA S.
42), darauf hin, dass die außerhalb der Anklage festgestellten Taten durch das angefochtene Urteil mitbestraft worden sind, was unzulässig
wäre ([X.], Beschluss vom 5.
April 2010 aaO). Da das Urteil keine Feststel-lungen zu einem die Taten
betreffenden Ermittlungs-
oder Strafverfahren ent-hält, bestünde insoweit die konkrete Gefahr einer unzulässigen Doppelbestra-fung.
2.
Die Sache bedarf deshalb zum Strafausspruch neuer Verhandlung und Entscheidung.
10
11
-
7
-
Der Senat bemerkt ergänzend, dass der neue Tatrichter
entsprechend den unter II.
1 dargelegten Maßstäben nicht gehindert ist, die im Vorfeld des ausgeurteilten Tötungsdelikts zum Nachteil seiner Ehefrau begangene weitere Straftat des Angeklagten (Würgen bis zur Bewusstlosigkeit Ende April 2012), die ebenfalls nicht von der Anklage umfasst ist, strafschärfend zu [X.]. Im Hinblick auf die nach der abgeurteilten Tat bis zur Festnahme am 23.
Oktober 2013 zum Nachteil der [X.] begangenen Sexualdelikte wird eine strafschärfende Berücksichtigung in Betracht kommen, soweit diese Taten nach ihrer Art und den Umständen ihrer Begehung Rückschlüsse auf eine tat-bezogene besondere Rechtsfeindlichkeit zulassen ([X.], Beschluss vom 16.
September 2009

5
StR
348/09, Tz.
3 mwN, [X.], 8).
Sost-Scheible
Cierniak
Franke

Bender
Quentin
12

Meta

4 StR 448/13

19.11.2013

Bundesgerichtshof 4. Strafsenat

Sachgebiet: StR

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Entscheidung vom 19.11.2013, Az. 4 StR 448/13 (REWIS RS 2013, 1041)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2013, 1041

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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4 StR 448/13

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