Staatsgerichtshof des Landes Hessen, Urteil vom 27.10.2021, Az. P.St. 2783, P.St. 2827

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Gegenstand

Zur Verfassungswidrigkeit des hessischen Corona-Sondervermögens.


Leitsatz

1. Nichtrechtsfähige Sondervermögen, bei denen nach § 26 Abs. 2 LHO nur die Zuführungen oder die Ablieferungen im Haushaltsplan veranschlagt werden, durchbrechen die in Art. 139 Abs. 2 Satz 1 HV normierten haushaltsverfassungsrechtlichen Grundsätze der Haushaltsvollständigkeit und Haushaltseinheit. Sie sind nur unter strengen Voraussetzungen verfassungsrechtlich zulässig. Ihre Zulässigkeit hängt maßgeblich davon ab, ob und in welcher Intensität sie das Budgetrecht des Landtags beeinträchtigen.

2. Soweit in Ausführung nichtrechtsfähiger Sondervermögen Entscheidungen über staatliche Finanzmittel getroffen werden, die aufgrund ihrer Größenordnung für das Budgetrecht von struktureller Bedeutung sind, muss ein hinreichender parla-mentarischer Einfluss auf die Art und Weise der Mittelbeschaffung und Mittelvergabe gesichert sein.

3. Sondervermögen mit einer leicht überschaubaren, eindeutigen Zwecksetzung sowie einer eindeutigen, abschließend bestimmten Mittelzuweisung, bei denen alle relevanten fiskalischen Entscheidungen bereits mit dem Akt der Errichtung des Sondervermögens durch das Parlament selbst getroffen werden, greifen in das parlamentarische Budgetrecht nicht ein.

4. Je größer das Finanzvolumen für durch ein Sondervermögen zu finanzierende Maßnahmen ist, desto detaillierter müssen die Maßnahmen bestimmt sein, um eine hinreichende Steuerung der Mittelverausgabung des Landes zu garantieren und eine wirksame Wahrnehmung des parlamentarischen Budgetrechts zu gewährleisten. Dies gilt umso mehr, wenn das Finanzvolumen ausschließlich aus Kreditaufnahmen resultiert.

5. Beeinträchtigen die Errichtung und Bewirtschaftung eines Sondervermögens das Budgetrecht des Landtags, wiegen diese Beeinträchtigungen umso schwerer, je größer das Finanzvolumen des Sondervermögens ist, je größer der kreditfinanzierte Teil des Finanzvolumens ist, je größer der Zeitrahmen für Kreditaufnahmen ist und je unpräziser die Verwendung der Mittel des Sondervermögens normiert ist.

6. Eine Beeinträchtigung des Budgetrechts des Landtags und die Durchbrechung der das Budgetrecht effektuierenden Grundsätze der Haushaltseinheit und Haushaltsvollständigkeit durch ein Sondervermögen können nur durch hinreichend gewich-tige verfassungsrechtliche Gründe gerechtfertigt werden, die sich auf den Zweck des Sondervermögens und die Verwendung der Mittel des Sondervermögens beziehen müssen. Die Anforderungen an die Rechtfertigung steigen mit der Intensität der Beeinträchtigung des Budgetrechts. Das Sondervermögen muss eine effektivere Zweckverfolgung ermöglichen als ein Einsatz regulärer Haushaltsmittel. Zudem muss der Effektivitätsgewinn im Vergleich mit dem Ausmaß der Durchbrechung der haushaltsverfassungsrechtlichen Grundsätze hinreichend gewichtig sein.

7. Für jeden Landtagsabgeordneten folgt aus seinem verfassungsrechtlichen Status ein Recht auf Teilhabe am Diskurs und auf Mitentscheidung über geplante Ausgaben staatlicher Finanzmittel. Eine Übertragung von Entscheidungsbefugnissen auf einen beschließenden Ausschuss ist daher nur in Ausnahmefällen zum Schutz an-derer Rechtsgüter von Verfassungsrang und unter strikter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit zulässig.

8. Eine Kreditermächtigung zugunsten eines Sondervermögens ist nicht generell ausgeschlossen. Sowohl das Verbot der Neuverschuldung aus Art. 141 Abs. 1 HV als auch der Ausnahmetatbestand des Art. 141 Abs. 4 HV sind auf Sondervermögen anwendbar.

9. Es obliegt der Beurteilung des Gesetzgebers, ob gem. Art. 141 Abs. 4 HV eine Naturkatastrophe oder eine außergewöhnliche Notsituation vorliegt, die sich der Kontrolle des Staates entzieht. Dem Gesetzgeber kommt insoweit ein Einschätzungs- und Beurteilungsspielraum zu. Der Staatsgerichtshof hat im Streitfall zu prüfen, ob die Beurteilung und Einschätzung des Gesetzgebers nachvollziehbar und vertretbar sind.

10. Soll von dem Neuverschuldungsverbot des Art. 141 Abs. 1 HV nach Art. 141 Abs. 4 HV abgewichen werden, müssen sowohl die Kreditaufnahme als auch die kreditfinanzierten Projekte und Maßnahmepakete zur Krisenbekämpfung geeignet sein. Die Kreditaufnahme muss darüber hinaus auch erforderlich sein. An der Erforderlichkeit fehlt es nur dann, wenn die Notsituation ohne Kreditaufnahme und unter Inanspruchnahme der sonstigen haushaltsrechtlichen Möglichkeiten eindeutig ebenso effektiv bekämpft werden könnte. Die Kreditaufnahme und die Verwendung der kreditfinanzierten Mittel müssen zudem in einem angemessenen Verhältnis zum Ausmaß der Krise und zum voraussichtlichen Krisenbewältigungspotential der kreditfinanzierten Projekte und Maßnahmepakete stehen. Der Gesetzgeber verfügt diesbezüglich über einen weiten Einschätzungs- und Beurteilungsspielraum. Die Eignung, Erforderlichkeit und Angemessenheit der vom Gesetzgeber ergriffenen Maßnahmen unterliegen daher lediglich einer verfassungsgerichtlichen Vertretbarkeitskontrolle.

11. Mit dem Entscheidungsspielraum des Haushaltsgesetzgebers und seiner nur eingeschränkten verfassungsgerichtlichen Überprüfung korrespondiert eine Darlegungs- und Begründungsobliegenheit des Gesetzgebers im Gesetzgebungsverfahren, welche Erwägungen für seine Beurteilung der krisenhaften Situation und die zu ihrer Bewältigung ergriffenen Maßnahmen maßgeblich waren. Je größer die Gesamtsumme der Nettokredite und je höher die kreditfinanzierten Mittel sind, die für die verschiedenen Maßnahmen, Projekte und Maßnahmepakete zur Krisenbekämpfung zur Verfügung gestellt werden, desto strengere Anforderungen sind an diese Begründungspflicht zu stellen.

12. Um sicherzustellen, dass der Haushaltsvollzug ausschließlich der Krisenbewältigung dient, hat der Gesetzgeber die Zwecke, für die kreditfinanzierte Mittel vergeben werden, hinreichend bestimmt festzulegen. Je höher die kreditfinanzierten Mittel für die einzelnen Projekte, Maßnahmepakete und Einzelmaßnahmen sind, desto strengere Vorgaben gelten für das Maß ihrer parlamentarischen Bestimmt-heit. Eine Darlegung der Zweckbestimmung im Gesetzgebungsverfahren genügt nicht. Sie hat im Haushaltsplan oder in Gesetzen zu erfolgen.

13. Voraussetzung für die Ausnahme vom Neuverschuldungsverbot nach Art. 141 Abs. 4 HV ist zudem, dass zwischen dem Neuverschuldungsbedarf und der Notsituation ein konkreter Veranlassungszusammenhang besteht. Sowohl die Kreditaufnahme als solche als auch die durch die Kreditaufnahme finanzierten Maßnahmen müssen final auf die Beseitigung der Naturkatastrophe bzw. auf die Überwindung der außergewöhnlichen Notsituation und ihrer Folgen gerichtet sein. Ergibt sich dieser Veranlassungszusammenhang nicht schon aus den Zweckbestimmungen im Haushaltsplan oder in den Gesetzen, in denen die Mittelvergabe geregelt ist, bedarf es einer entsprechenden Begründung im Gesetzgebungsverfahren, die einer verfassungsgerichtlichen Plausibilitätskontrolle unterliegt.

14. Das Verbot der Neuverschuldung aus Art. 141 Abs. 1 HV verpflichtet den Gesetzgeber, bei der Beurteilung der krisenbedingten erheblichen Beeinträchtigung der staatlichen Finanzlage i. S. d. Art. 141 Abs. 4 HV auch zu prüfen, ob er über Spielräume verfügt, um eine Neuverschuldung zu vermeiden oder zumindest zu reduzieren. Existieren derartige Spielräume, hat er diese grundsätzlich zu nutzen, be-vor er von dem Neuverschuldungsverbot abweicht. Nutzt der Gesetzgeber die ihm zu Verfügung stehenden Spielräume nicht oder nicht in vollem Umfang, hat er dies im Gesetzgebungsverfahren substantiell zu begründen.

15. Dem Gesetzgeber kommt bei der Bestimmung, welcher Zeitraum nach Art. 141 Abs. 4 Satz 3 HV als angemessen für die Zurückführung aufgenommener Kredite anzusehen ist, ein Einschätzungs- und Beurteilungsspielraum zu. Hierbei hat er zu beachten, dass Kreditrückzahlungen im Lichte der Konzeption der Schuldenbremse grundsätzlich zügig innerhalb kurzer Tilgungszeiträume zu erfolgen haben, um möglichst schnell zu einer haushaltswirtschaftlichen Normallage zurückzukehren und ein weiteres Anwachsen der Staatsverschuldung zu verhindern. Verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden ist eine Tilgungsfrist, die unter Berücksichtigung des Ausmaßes der Notsituation, ihrer besonderen Umstände, der Höhe der Kredite und der allgemeinen, auch zukünftig zu erwartenden Finanzlage des Landes vertretbar erscheint.

16. Ein im Ausführungsgesetz des Artikel 141 HV enthaltenes qualifiziertes Mehrheitserfordernis für einen Beschluss, mit dem die Mitglieder des Landtages abweichend von dem in Art. 141 Abs. 1 HV normierten Neuverschuldungsverbot beschließen, Kredite aufzunehmen, kann durch ein Änderungsgesetz, das mit einfacher Mehrheit beschlossen wurde, aufgehoben werden. Eine unwiderrufliche einfachgesetzliche Selbstbindung des Gesetzgebers an ein qualifiziertes Mehrheitserfordernis widerspricht dem Demokratieprinzip.

Entscheidungsgründe

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Meta

P.St. 2783, P.St. 2827

27.10.2021

Staatsgerichtshof des Landes Hessen

Urteil

Sachgebiet: False

Zitier­vorschlag: Staatsgerichtshof des Landes Hessen, Urteil vom 27.10.2021, Az. P.St. 2783, P.St. 2827 (REWIS RS 2021, 1552)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2021, 1552

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