Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 17.08.2010, Az. 10 C 20/09

10. Senat | REWIS RS 2010, 4025

© Bundesverwaltungsgericht, Foto: Michael Moser

Tags hinzufügen

Sie können dem Inhalt selbst Schlagworten zuordnen. Geben Sie hierfür jeweils ein Schlagwort ein und drücken danach auf sichern, bevor Sie ggf. ein neues Schlagwort eingeben.

Beispiele: "Befangenheit", "Revision", "Ablehnung eines Richters"

QR-Code

Tatbestand

1

Der Kläger wendet sich nur noch gegen die ihm mit der Abschiebungsandrohung gesetzte Frist zur Ausreise innerhalb einer Woche.

2

Der im Februar 2006 in [X.] geborene Kläger ist das Kind abgelehnter Asylbewerber. Im März 2006 zeigte die Ausländerbehörde dem [X.] - [X.] - gemäß § 14a Abs. 2 AsylVfG die Geburt des [X.] an. Daraufhin erklärten seine Eltern als gesetzliche Vertreter, dass dem Kläger keine politische Verfolgung drohe und auf die Durchführung eines Asylverfahrens verzichtet werde.

3

Mit Bescheid vom 3. April 2006 stellte das [X.] das Asylverfahren gemäß § 32 AsylVfG ein (Nr. 1). Zugleich stellte es fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 bis 7 [X.] nicht vorliegen (Nr. 2). Außerdem forderte es - gestützt auf § 38 Abs. 2 AsylVfG - den Kläger auf, die Bundesrepublik [X.] innerhalb einer Woche nach Bekanntgabe der Entscheidung zu verlassen, und drohte für den Fall der nicht fristgerechten Ausreise die Abschiebung in die [X.] an (Nr. 3).

4

Im Klageverfahren wandte sich der Kläger gegen Nr. 3 des Bescheides. Mit Gerichtsbescheid vom 29. Mai 2008 hob das Verwaltungsgericht den Bescheid des [X.]s auf, soweit dem Kläger eine Frist zur Ausreise von einer Woche nach Bekanntgabe des Bescheides gesetzt worden ist. Im Übrigen wies es die Klage mit der Maßgabe ab, dass die Ausreisefrist einen Monat nach dem unanfechtbaren Abschluss des Asylverfahrens ende. Dabei ging es davon aus, dass sich die Ausreisefrist bei einem Verzicht auf die Durchführung eines Asylverfahrens nach § 38 Abs. 1 AsylVfG richte. Einer erneuten Fristsetzung durch das [X.] bedürfe es nicht. Die richtige Ausreisefrist ergebe sich aus der im Tenor ausgesprochenen Maßgabe. Dies sei möglich, weil sich die Frist zwingend aus dem Gesetz ergebe und kein Spielraum der Beklagten bestehe.

5

Die von der Beklagten hiergegen eingelegte Berufung hat das Oberverwaltungsgericht mit Beschluss vom 9. Juni 2009 zurückgewiesen. Zur Begründung ist ausgeführt: Das Verwaltungsgericht habe die Fristbestimmung in der angefochtenen Verfügung zu Recht aufgehoben. § 38 Abs. 2 AsylVfG sei hier nicht anwendbar. Denn im Gegensatz zu anderen Bestimmungen enthalte diese Vorschrift keine Gleichstellung von Rücknahme und Verzicht. Nach dem Verzicht auf die Durchführung eines Asylverfahrens betrage die Ausreisefrist vielmehr gemäß § 38 Abs. 1 AsylVfG einen Monat. Dem stehe der Regelungszweck des § 14a AsylVfG nicht entgegen. Die Vorschrift solle lediglich sukzessive Antragstellungen einzelner Familienmitglieder verhindern.

6

Hiergegen wendet sich die Beklagte mit der vom Senat zugelassenen Revision. Sie trägt vor, für den Fall des Verzichts auf die Durchführung eines Asylverfahrens fehle eine ausdrückliche Regelung der Ausreisefrist. § 38 Abs. 1 AsylVfG setze, wie die amtliche Überschrift zeige, die Ablehnung des Asylantrags voraus. Da es daran bei einem Verzicht fehle, sei die Vorschrift nicht einschlägig. Auch § 38 Abs. 2 AsylVfG sei nicht unmittelbar anwendbar, da der Gesetzgeber zwischen Verzicht und Rücknahme unterscheide. Diese Regelungslücke sei über eine analoge Anwendung des § 38 Abs. 2 AsylVfG zu schließen. Eine analoge Anwendung des § 38 Abs. 1 AsylVfG würde dem Beschleunigungsgedanken zuwiderlaufen. Die dortige Monatsfrist mit der gesetzlichen Folge, dass der Klage aufschiebende Wirkung zukomme, gelte nur, wenn eine Asyl- oder Flüchtlingsanerkennung nicht von vornherein ausgeschlossen sei. Es sei kein Grund ersichtlich, Personen, die auf einen Schutzanspruch ausdrücklich verzichteten, möglicherweise schutzbedürftigen Antragstellern gleichzustellen.

7

Der Kläger verteidigt die angefochtene Berufungsentscheidung. Er ist der Auffassung, dass die Wochenfrist nach dem Willen des Gesetzgebers nur gelte, wenn dem Asylbewerber ein rechtsmissbräuchliches oder sonst unredliches Verhalten vorgeworfen oder ein unbegründetes Verfahren durch Rücknahme beendet werde. In den Fällen des § 14a AsylVfG werde hingegen erwartet, dass von der Möglichkeit des Verzichts Gebrauch gemacht werde.

Entscheidungsgründe

8

Die Revision, über die der Senat im Einverständnis mit den Beteiligten ohne die Durchführung einer mündlichen Verhandlung entscheidet (§ 101 Abs. 2 i.V.m. § 141 Satz 1 und § 125 Abs. 1 Satz 1 VwGO), ist teilweise begründet. Das Berufungsgericht hat ohne Verstoß gegen Bundesrecht die Entscheidung des [X.] bestätigt, soweit dieses der Klage stattgegeben und den Bescheid des [X.] - [X.] - vom 3. April 2006 aufgehoben hat. Zu Unrecht hat es die Berufung der Beklagten aber in vollem Umfang zurückgewiesen und damit im Ergebnis auch den Maßgabeausspruch des [X.] bestätigt.

9

1. Gegenstand des Revisionsverfahrens ist nur (noch) die dem Kläger gesetzte Frist zur freiwilligen Ausreise. Die Revision der Beklagten ist - wie schon die Berufung - darauf gerichtet, dass die Klage auch hinsichtlich der dem Kläger im Bescheid vom 3. April 2006 gesetzten Ausreisefrist von einer Woche ab Bekanntgabe abgewiesen wird. Diesen Teil des Bescheids hat das Verwaltungsgericht aufgehoben. Zugleich hat es im Tenor seiner Entscheidung die "Maßgabe" ausgesprochen, dass die Ausreisefrist - ohne dass es einer erneuten Fristsetzung durch das [X.] bedarf - einen Monat nach dem unanfechtbaren Abschluss des Asylverfahrens endet. Indem das Berufungsgericht die Berufung der Beklagten in vollem Umfang zurückgewiesen hat, hat es diesen Teil der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung ebenfalls bestätigt. Damit umfasst die Revision auch den in die Kompetenzen des [X.]s eingreifenden gerichtlichen Maßgabeausspruch. In der Rechtsprechung des [X.] ist im Übrigen geklärt, dass jedenfalls in Asylverfahren die Ausreisefrist unabhängig von der Abschiebungsandrohung zum Gegenstand einer gerichtlichen Nachprüfung und damit auch eines Revisionsverfahrens gemacht werden kann (Urteil vom 3. April 2001 - BVerwG 9 [X.] 22.00 - BVerwGE 114, 122 <124 f.>).

2. Der Kläger hat weiterhin ein schutzwürdiges Interesse an der Aufhebung der - vom [X.] auf § 38 Abs. 2 AsylVfG gestützten - einwöchigen Ausreisefrist. Von dieser Festsetzung gehen für den Kläger auch nach Ablauf der Frist noch nachteilige Rechtswirkungen aus, da von ihrem Bestand die gegenwärtige Vollziehbarkeit der Abschiebung abhängt (Urteil vom 3. April 2001 a.a.O. <125>).

3. Zu Recht ist das Berufungsgericht in der Sache davon ausgegangen, dass der Bescheid des [X.]s hinsichtlich der dem Kläger gesetzten Ausreisefrist von einer Woche ab Bekanntgabe rechtswidrig und deshalb insoweit aufzuheben ist.

Bei einer nach § 14a Abs. 1 oder 2 AsylVfG fingierten Asylantragstellung kann nach § 14a Abs. 3 AsylVfG jederzeit auf die Durchführung des Asylverfahrens verzichtet werden. In diesem Fall hat das [X.] festzustellen, dass das Verfahren eingestellt ist und ob ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 2 bis 7 [X.] vorliegt (§ 32 AsylVfG). Zugleich hat es dem Ausländer bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 34 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG die Abschiebung nach §§ 59 und 60 Abs. 10 [X.] anzudrohen (vgl. Urteil des Senats vom 17. Dezember 2009 - BVerwG 10 [X.] 27.08 - [X.] 2010, 263). Dabei soll gemäß § 59 Abs. 1 [X.] die Abschiebung schriftlich unter Bestimmung einer Ausreisefrist angedroht werden. Hinsichtlich der im Fall des Verzichts zu setzenden Ausreisefrist schließt sich der Senat der herrschenden Auffassung an, wonach sich die dem Ausländer vom [X.] zu setzende Ausreisefrist nach § 38 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG richtet. Die den Senat hierbei leitenden Gründe ergeben sich aus dem Urteil vom heutigen Tag im Verfahren BVerwG 10 [X.] 18.09; hierauf wird Bezug genommen.

4. Die gerichtliche Aufhebung der vom [X.] gesetzten Wochenfrist hat entgegen dem - vom Berufungsgericht bestätigten - Maßgabeausspruch im Tenor des Gerichtsbescheids des [X.] aber nicht zur Folge, dass die Ausreisefrist nunmehr - ohne dass es einer erneuten Fristsetzung durch das [X.] bedarf - einen Monat nach dem unanfechtbaren Abschluss des Asylverfahrens endet. Mit dieser Feststellung ist das Verwaltungsgericht nicht nur über das - nur auf Aufhebung der gesetzten Ausreisefrist gerichtete - Klagebegehren des [X.] hinausgegangen (§ 88 VwGO), seine Auffassung zur Entbehrlichkeit einer erneuten Fristsetzung durch das [X.] ist auch in der Sache unzutreffend. Auch insoweit wird Bezug genommen auf die Ausführungen im Urteil vom heutigen Tag im Verfahren BVerwG 10 [X.] 18.09.

5. Das [X.] muss dem Kläger folglich in einem neuen Bescheid erneut eine Ausreisefrist setzen. In diesem besonderen Fall der nachträglichen Fristsetzung ist als Rechtsgrundlage für die vom [X.] zu setzende Ausreisefrist von einem Monat nicht § 38 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG, sondern § 39 Abs. 1 Satz 2 AsylVfG in analoger Anwendung heranzuziehen. Auch insoweit wird Bezug genommen auf die Ausführungen im Urteil vom heutigen Tag im Verfahren BVerwG 10 [X.] 18.09.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 155 Abs. 1 Satz 3 VwGO. Da die Revision der Beklagten nur zu einem geringen Teil Erfolg hat, sind ihr die Kosten des Revisionsverfahrens in vollem Umfang aufzuerlegen und verbleibt es bei den Kostenentscheidungen der Vorinstanzen. Gerichtskosten werden gemäß § [X.] AsylVfG nicht erhoben. Der Gegenstandswert ergibt sich aus § 30 [X.].

Meta

10 C 20/09

17.08.2010

Bundesverwaltungsgericht 10. Senat

Urteil

Sachgebiet: C

vorgehend Oberverwaltungsgericht für das Land Schleswig-Holstein, 9. Juni 2009, Az: 1 LB 20/08, Beschluss

Zitier­vorschlag: Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 17.08.2010, Az. 10 C 20/09 (REWIS RS 2010, 4025)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2010, 4025

Auf dem Handy öffnen Auf Mobilgerät öffnen.


Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

Ähnliche Entscheidungen

10 C 18/09 (Bundesverwaltungsgericht)

Ausreisefrist bei Verzicht auf die Durchführung eines Asylverfahrens für ein Kind


M 17 K 16.35318 (VG München)

Unmöglichkeit der Abschiebung aus rechtlichen Gründen aufgrund eines bestehenden Familienverbands


M 17 S 16.35319 (VG München)

Ausreisefrist nach Verzicht auf Durchführung eins Asylverfahrens für das Kind


A 4 K 10187/18 (Verwaltungsgericht Karlsruhe)


M 2 S 15.31260 (VG München)

Anordnung der aufschiebenden Wirkung - rechtsfehlerhaft gefasste Abschiebungsandrohung


Referenzen
Wird zitiert von

Keine Referenz gefunden.

Zitiert

Keine Referenz gefunden.

Zitieren mit Quelle:
x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.