Bundesgerichtshof, Beschluss vom 05.02.2020, Az. 2 StR 436/19

2. Strafsenat | REWIS RS 2020, 1695

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Gegenstand

Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus: Anforderungen and die Gefährlichkeitsprognose


Tenor

1. Auf die Revision des Beschuldigten wird das Urteil des [X.] vom 3. Juni 2019 mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben; ausgenommen sind die Feststellungen zu der [X.].

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

2. Die weiter gehende Revision wird verworfen.

Gründe

1

Das [X.] hat den Beschuldigten wegen einer im Zustand fehlender Einsichtsfähigkeit begangenen Tat der sexuellen Nötigung in Tateinheit mit versuchter Vergewaltigung in einem psychiatrischen Krankenhaus untergebracht. Seine hiergegen gerichtete und auf die Rüge der Verletzung formellen und materiellen Rechts gestützte Revision ist mit der Sachrüge überwiegend begründet.

I.

2

Nach den Feststellungen des [X.]s kam der im [X.] geborene Beschuldigte 2013 nach [X.] und lebte für einen längeren Zeitraum in [X.], wo er erstmals wegen einer schizophrenen Erkrankung klinisch behandelt wurde. Nachdem er im März 2017 nach [X.] eingereist war, ordnete die Ausländerbehörde im Juli 2018 an, er solle bei seiner Mutter Wohnung nehmen. Das Zusammenleben mit ihr gestaltete sich schwierig, da sich der Beschuldigte psychisch auffällig verhielt. Er trank [X.] und Duschgel, sprach mit nicht anwesenden Personen und verhielt sich gegenüber seiner Mutter aggressiv. Am 27. Juli 2018 sprang er aus dem Fenster der im zweiten Obergeschoss liegenden Wohnung, blieb aber unverletzt. Am 30. Juli 2018 näherte er sich seiner Mutter, bedrohte sie mit einem Küchenmesser, griff ihr an die Brust und sprach sie mit dem Namen seiner Ex-Freundin an. Er zerriss ihre Kleidung, hielt sie umschlungen und führte aus der Hüfte heraus stoßartige Bewegungen aus. Dann zog er seine Hose herunter, umfasste seinen erigierten Penis und forderte seine Mutter unter Vorhalt des Messers auf, ihn oral zu befriedigen. Der Mutter gelang es, sich nach einer kurzen Rangelei loszureißen, sich im Badezimmer einzuschließen und Hilfe herbeizurufen. Als kurz darauf die Polizei eintraf, öffnete der Beschuldigte die Haustür und ließ die Beamten eintreten. Hierbei und bei der anschließenden Verbringung auf die Polizeistation war er ruhig und orientiert.

3

Das sachverständig beratene [X.] hat angenommen, dass die Einsichtsfähigkeit des Beschuldigten aufgrund einer [X.] Schizophrenie bei der Tatbegehung aufgehoben gewesen sei.

II.

4

Die Anordnung der Maßregel nach § 63 StGB hält rechtlicher Überprüfung nicht stand. Während die Annahme fehlender Einsichtsfähigkeit infolge psychotischen Wahnerlebens noch keinen durchgreifenden Bedenken begegnet, gilt dies für die Gefährlichkeitsprognose des [X.]s nicht.

5

1. Die grundsätzlich unbefristete Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus gemäß § 63 StGB ist eine außerordentlich belastende Maßnahme, die einen besonders gravierenden Eingriff in die Rechte des Betroffenen darstellt. Sie darf nur dann angeordnet werden, wenn zweifelsfrei feststeht, dass der Unterzubringende bei Begehung der [X.](en) auf Grund eines psychischen Defekts schuldunfähig oder vermindert schuldfähig war und die Tatbegehung hierauf beruht. Daneben muss eine Wahrscheinlichkeit höheren Grades bestehen, der Täter werde infolge seines fortdauernden Zustands in Zukunft erhebliche rechtswidrige Taten begehen, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich erheblich geschädigt oder erheblich gefährdet werden oder schwerer wirtschaftlicher Schaden angerichtet wird; die zu erwartenden Taten müssen schwere Störungen des Rechtsfriedens besorgen lassen. Die notwendige Prognose ist auf der Grundlage einer umfassenden Würdigung der Persönlichkeit des [X.], seines [X.] und der von ihm begangenen [X.](en) zu entwickeln; sie muss sich auch darauf erstrecken, welche rechtswidrigen Taten von dem Beschuldigten drohen und wie ausgeprägt das Maß der Gefährdung ist. Neben der sorgfältigen Prüfung dieser Anordnungsvoraussetzungen ist das Tatgericht auch verpflichtet, die wesentlichen Gesichtspunkte in den Urteilsgründen so umfassend darzustellen, dass das Revisionsgericht in die Lage versetzt wird, die Entscheidung nachzuvollziehen (st. Rspr.; vgl. [X.], Beschlüsse vom 21. Februar 2017 - 3 [X.], [X.], 575, 576; vom 12. Oktober 2016 - 4 StR 78/16, [X.], 74, 75; und vom 15. Januar 2015 - 4 StR 419/14, [X.], 394, 395).

6

2. Diesen Anforderungen wird das angefochtene Urteil nicht gerecht. Das [X.] hat nicht rechtsfehlerfrei begründet, dass von dem Beschuldigten in Zukunft mit einer Wahrscheinlichkeit höheren Grades erhebliche rechtswidrige Taten zu erwarten sind und er deshalb für die Allgemeinheit gefährlich ist. Soweit es zur Begründung der Gefährlichkeitsprognose allein darauf abstellt, dass „ohne Medikamenteneinnahme aggressive Handlungsimpulse des Beschuldigten nicht zu kontrollieren“ seien, ist dies lückenhaft.

7

a) [X.] hat dabei nicht erkennbar bedacht, dass es einer Gesamtwürdigung des [X.] und der [X.] bedarf und dabei etwaige Vortaten von besonderer Bedeutung sind. So ist es als gewichtiges Indiz gegen die Wahrscheinlichkeit künftiger Straftaten anzusehen, dass ein Täter trotz bestehenden Defekts über Jahre hinweg keine erheblichen Straftaten begangen hat (vgl. etwa [X.], Beschluss vom 7. Juni 2016 - 4 StR 79/16, [X.], 306, 307; [X.]/[X.], 4. Aufl., § 63 Rn. 21; MüKo-StGB/[X.], 3. Aufl., § 63 Rn. 62).

8

Nach den getroffenen Feststellungen ist der Beschuldigte zwischen April 2016 und Dezember 2018 wegen Erschleichens von Leistungen, Beleidigung, Diebstahls, Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte, Vortäuschens einer Straftat und unerlaubter Einreise strafrechtlich in Erscheinung getreten. Die überwiegende Zahl der Verfahren wurde gemäß § 45 Abs. 1 JGG eingestellt, zwei Verfahren endeten mit Geldstrafen. Dass die Straftaten in einem inneren Zusammenhang mit der festgestellten Erkrankung gestanden haben, hat die [X.] nicht festgestellt.

9

b) Allein mit der im Allgemeinen erhöhten Kriminalitätsbelastung schizophren Erkrankter kann die Gefahrenprognose nicht begründet werden ([X.], Urteil vom 11. August 2011 - 4 StR 267/11, juris Rn. 15; vgl. dazu auch Senat, Beschluss vom 17. Februar 2016 - 2 StR 545/15, juris Rn. 14, [X.], 720, 722). Maßgeblich sind stattdessen die konkrete Krankheits- und Kriminalitätsentwicklung (Senat, Beschluss vom 17. Februar 2016 - 2 StR 545/15, juris Rn. 14, [X.], 720, 722) sowie die auf die Person des Beschuldigten und seine konkrete Lebenssituation bezogenen Risikofaktoren, die eine individuelle krankheitsbedingte Disposition zur Begehung von Delikten jenseits der [X.]en belegen können ([X.], Urteil vom 11. August 2011 - 4 StR 267/11, juris Rn. 15; zu situativen Risikofaktoren auch Senat, Beschluss vom 17. Februar 2016 - 2 StR 545/15, juris Rn. 14, [X.], 720, 722).

Insofern fehlen bereits tragfähige Feststellungen. Soweit der Beschuldigte sich bereits vor der [X.] mehrfach psychisch auffällig verhalten hat, kam es lediglich zu Selbstverletzungen und zu keinen körperlichen Übergriffen gegen die Mutter oder Dritte. Nach den Angaben der behandelnden Ärztin verweigerte der Beschuldigte die Einnahme von Medikamenten und verhielt sich im Rahmen der vorläufigen Unterbringung zunächst nur selbstgefährdend, weshalb eine Zwangsmedikation angeordnet wurde. Danach habe sich sein Zustand bis zur erneuten Verweigerung der Medikamenteneinnahme stabilisiert. In deren Folge sei es dann zu einem „[X.]“ gekommen und der Beschuldigte sei mehrfach im Begriff gewesen, Mitpatienten und Mitarbeiter körperlich anzugreifen. Zu Anlass und Ausmaß dieses einzigen in der Unterbringung aufgetretenen fremdaggressiven Verhaltens hat die [X.] jedoch nichts festgestellt.

3. Die rechtsfehlerfrei getroffenen Feststellungen zu der [X.] können bestehen bleiben.

Franke     

        

Appl     

        

Zeng   

        

Grube     

        

Schmidt     

        

Meta

2 StR 436/19

05.02.2020

Bundesgerichtshof 2. Strafsenat

Beschluss

Sachgebiet: StR

vorgehend LG Mühlhausen, 3. Juni 2019, Az: 122 Js 53529/18 - 1 KLs

§ 63 StGB

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Beschluss vom 05.02.2020, Az. 2 StR 436/19 (REWIS RS 2020, 1695)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2020, 1695

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