Bundesfinanzhof, Urteil vom 27.10.2015, Az. X R 44/13

10. Senat | REWIS RS 2015, 3292

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Gegenstand

Zeitliche Grenzen für die Ausübung oder Änderung von Antrags- oder Wahlrechten


Leitsatz

1. Einkommensteuerrechtliche Antrags- oder Wahlrechte können auch nach Eintritt der Bestandskraft eines vorangehenden Bescheids jedenfalls dann erstmalig ausgeübt oder geändert werden, wenn das FA einen steuererhöhenden Änderungsbescheid erlassen hat, mit dem ein weiterer steuererheblicher Sachverhalt erfasst worden ist, aufgrund dessen überhaupt erst die wirtschaftliche Notwendigkeit entstanden ist, sich mit der erstmaligen bzw. geänderten Ausübung eines Antrags- oder Wahlrechts zu befassen (Abweichung vom BFH-Beschluss vom 10. Mai 2010 IX B 220/09, BFH/NV 2010, 1415 mit Zustimmung des IX. Senats). Die nachträgliche Antrags- oder Wahlrechtsausübung wird in zeitlicher Hinsicht durch die formelle Bestandskraft des Änderungsbescheids und in betragsmäßiger Hinsicht durch den Änderungsrahmen des § 351 Abs. 1 AO begrenzt.

2. Der Freibetrag für Betriebsveräußerungs- oder -aufgabegewinne kann auch bei Veräußerung oder Aufgabe mehrerer Betriebe, Teilbetriebe oder Mitunternehmeranteile innerhalb desselben Veranlagungszeitraums nur für einen einzigen Veräußerungs- oder Aufgabegewinn in Anspruch genommen werden.

Tenor

Auf die Revision des Beklagten wird das Urteil des [X.] vom 24. April 2013  7 K 2342/11 E und die Einspruchsentscheidung des Beklagten vom 9. Juni 2011 aufgehoben.

Die Einkommensteuer 2007 wird unter Abänderung des Bescheids vom 7. September 2010 auf den Betrag festgesetzt, der sich ergibt, wenn statt des bisher berücksichtigten Freibetrags für Betriebsveräußerungs- und  -aufgabegewinne von 3.705 € ein solcher von 22.975 € abgezogen wird.

Die Berechnung der Steuer wird dem Beklagten übertragen.

Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

Die Kosten des gesamten Verfahrens haben der Beklagte zu 84 % und die Klägerin zu 16 % zu tragen.

Tatbestand

1

I. Die Klägerin und Revisionsbeklagte (Klägerin) erzielte sowohl als Einzelunternehmerin als auch durch eine mitunternehmerische Beteiligung an einer Publikums-GmbH & Co. [X.] ([X.]) Einkünfte aus Gewerbebetrieb. Zum 1. Januar des [X.] schied sie aus der [X.] aus. Ferner gab sie zum 31. Dezember 2007 den Betrieb des Einzelunternehmens auf. In ihrer Einkommensteuererklärung ermittelte sie einen Gewinn aus der Aufgabe des Einzelunternehmens in Höhe von 3.705 € und beantragte hierfür den [X.] einmal zu gewährenden-- Freibetrag nach § 16 Abs. 4 des Einkommensteuergesetzes (EStG), dessen persönliche Voraussetzungen (Vollendung des 55. Lebensjahres) sie erfüllte. In der Anlage [X.] zur Einkommensteuererklärung führte sie auch die [X.]-Beteiligung auf, ließ das Feld zur Angabe der Höhe der hieraus bezogenen Einkünfte jedoch leer.

2

Der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt --[X.]--) veranlagte die Klägerin am 20. Juni 2008 erklärungsgemäß unter dem Vorbehalt der Nachprüfung und beließ den Aufgabegewinn aus dem Einzelunternehmen steuerfrei. Im [X.] an eine Außenprüfung, die nicht zu Änderungen der Besteuerungsgrundlagen führte, hob das [X.] den Vorbehalt der Nachprüfung mit Bescheid vom 6. August 2009 auf.

3

Am 24. August 2010 teilte das für die [X.] zuständige Betriebs-[X.] dem [X.] mit, die Klägerin habe aufgrund ihres Ausscheidens aus der [X.] einen Veräußerungsgewinn in Höhe von 22.975 € erzielt. Diesen Betrag, der auf der Auflösung eines negativen [X.] beruhte, erfasste das [X.] in dem nach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 der Abgabenordnung ([X.]) geänderten, im vorliegenden Verfahren angefochtenen Einkommensteuerbescheid 2007 vom 7. September 2010. Es gewährte hierfür zwar die Tarifermäßigung nach § 34 Abs. 1 EStG, nicht aber den Freibetrag nach § 16 Abs. 4 EStG.

4

Im Einspruchsverfahren beantragte die Klägerin erfolglos, den Freibetrag nach § 16 Abs. 4 EStG auf den --höheren-- Gewinn aus der Veräußerung der Beteiligung anzuwenden. Sie vertrat hierzu die Auffassung, der Bescheid könne nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 [X.] geändert werden. Ihr sei erst nachträglich bekannt geworden, dass sie durch das Ausscheiden aus der [X.] einen Veräußerungsgewinn erzielt habe.

5

Das Finanzgericht ([X.]) gab der Klage statt (Entscheidungen der Finanzgerichte --E[X.]-- 2014, 287). Zwar seien die Voraussetzungen des § 173 Abs. 1 Nr. 2 [X.] nicht erfüllt, weil der Veräußerungsgewinn keine neue Tatsache darstelle. Der steuerlich beratenen Klägerin sei sowohl ihr Ausscheiden aus der [X.] als auch der Umstand, dass ihr Kapitalkonto negativ gewesen sei, bekannt gewesen. Allerdings sei eine Rechtsfehlerkompensation nach § 177 Abs. 1 [X.] vorzunehmen. Hierfür reiche es aus, wenn im Zeitpunkt der Änderung des Bescheids ein nicht eigenständig korrigierbarer materieller Fehler gegeben sei. Die nachträgliche Ausübung eines Wahlrechts könne einen solchen Fehler herbeiführen.

6

Mit seiner Revision verweist das [X.] auf eine gegenteilige Entscheidung des [X.] München vom 29. Oktober 2009  15 K 298/07 (Nichtzulassungsbeschwerde zurückgewiesen durch Beschluss des [X.] --BFH-- vom 10. Mai 2010 IX B 220/09, [X.], 1415).

7

Das [X.] beantragt,
das angefochtene Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.

8

Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.

9

Sie hält die vom [X.] angeführte Entscheidung des [X.] München nicht für einschlägig, da sie zu den Überschusseinkünften und zu einem Wahlrecht mit mehrjährigem Begünstigungszeitraum (Sonderabschreibung nach dem Fördergebietsgesetz) ergangen sei. Demgegenüber habe die Klägerin ihre Einkünfte durch Betriebsvermögensvergleich ermittelt.

Entscheidungsgründe

II. Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Entscheidung des Senats in der Sache selbst (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung --[X.]O--).

Die verfahrensrechtlichen Überlegungen des [X.] und der Beteiligten zur Anwendbarkeit einer Korrekturvorschrift oder des § 177 [X.] gehen schon deshalb ins Leere, weil die Klägerin Einspruch gegen einen steuererhöhenden Änderungsbescheid eingelegt hat und im Umfang der vorgenommenen Änderung eine Herabsetzung der festgesetzten Steuer im Einspruchsverfahren verfahrensrechtlich immer möglich ist (dazu unten 1.). Zu Recht hat das [X.] aber die Auffassung vertreten, dass die Klägerin ihr Antragsrecht im Einspruchsverfahren gegen den Änderungsbescheid erneut ausüben konnte (unten 2.). Gleichwohl muss das angefochtene Urteil aufgehoben werden, weil das [X.] die Gegenrechnung des bisher gewährten Freibetrags unterlassen hat (unten 3.).

1. Anders als das [X.] und die Beteiligten meinen, ist im Streitfall weder entscheidungserheblich, ob die Voraussetzungen einer Korrekturvorschrift erfüllt sind noch ob eine Rechtsfehlerkompensation nach § 177 Abs. 1 [X.] möglich ist. Die Frage, ob eine verfahrensrechtliche Änderungsmöglichkeit für den Fall eröffnet wäre, dass der angefochtene Steuerbescheid materiell-rechtlich rechtswidrig sein sollte, ist vielmehr offensichtlich zu bejahen. Denn die Klägerin hat einen Änderungsbescheid, in dem im Vergleich zum vorangehenden Bescheid eine höhere Steuer festgesetzt worden ist, mit dem Rechtsbehelf des Einspruchs angefochten. Ein solcher Änderungsbescheid kann im Einspruchsverfahren gemäß § 351 Abs. 1 [X.] insoweit angegriffen --und gemäß § 367 Abs. 2 Satz 2 [X.] durch Erlass eines (Teil-)Abhilfebescheids auch geändert-- werden, als die Änderung reicht. Da die Klägerin im Einspruchsverfahren lediglich begehrt hat, die Einkommensteuer auf einen Betrag herabzusetzen, der zwar niedriger ist als die im Änderungsbescheid festgesetzte Steuer, aber höher ist als der im ursprünglichen Bescheid festgesetzte Betrag, wäre [X.] man allein auf die verfahrensrechtlich eröffneten Möglichkeiten abstellt-- im Einspruchsverfahren eine Änderungsmöglichkeit zweifelsfrei gegeben, ohne dass es auf die Voraussetzungen einer der Korrekturvorschriften oder der Rechtsfehlerkompensation ankäme.

2. Die Klägerin konnte ihr durch § 16 Abs. 4 EStG eröffnetes Antragsrecht im Einspruchsverfahren gegen den Änderungsbescheid anderweitig ausüben. Damit steht ihr der Freibetrag nunmehr für den Gewinn aus der Veräußerung der [X.] (22.975 €) zu.

a) Dem steht im Streitfall die ständige höchstrichterliche Rechtsprechung nicht entgegen, wonach auch solche Antrags- oder Wahlrechte, für deren Ausübung im Gesetzeswortlaut keine ausdrückliche zeitliche Begrenzung vorgesehen ist, grundsätzlich nur bis zum Eintritt der Bestandskraft des entsprechenden Steuerbescheids erstmals oder in geänderter Weise ausgeübt werden können.

Alle diese Entscheidungen sind zu Fallgestaltungen ergangen, in denen die Steuerfestsetzung für denjenigen Veranlagungszeitraum, auf den sich die begehrte erstmalige oder geänderte Ausübung des Antrags- oder Wahlrechts beziehen sollte, bereits bestandskräftig war, und der Steuerpflichtige durch Stellung eines Änderungsantrags die Durchbrechung der Bestandskraft zu seinen Gunsten erreichen wollte ([X.]-Urteile vom 10. Oktober 1969 VI R 180/67, [X.], 186, [X.] 1970, 63; vom 18. Dezember 1973 VIII R 101/69, [X.], 302, [X.] 1974, 319; vom 25. Februar 1992 [X.] R 41/91, [X.], 369, [X.] 1992, 621; vom 13. Februar 1997 IV R 59/95, [X.] 1997, 635; vom 17. September 2008 [X.] R 72/06, [X.], 571, [X.] 2009, 639, und vom 14. Mai 2009 IV R 6/07, [X.] 2009, 1989; [X.] vom 11. Juni 2014 IV B 46/13, [X.] 2014, 1369).

Wenn die Ausübung eines Wahlrechts den Steuerpflichtigen für mehrere Veranlagungszeiträume bindet, tritt diese Bindung bereits dann ein, wenn nur der erste Veranlagungszeitraum bestandskräftig veranlagt wurde ([X.] vom 2. Juli 1992 [X.] B 169/91, [X.], 298, [X.] 1992, 909: degressive Gebäude-AfA; [X.]-Urteil vom 27. Oktober 1992 [X.] R 60/90, [X.] 1993, 467: keine Verteilung größerer Erhaltungsaufwendungen nach § 82b der [X.], wenn die Aufwendungen bereits im Jahr ihres Abflusses bestandskräftig als Werbungskosten abgezogen worden sind). Ebenso kann ein Gewinnermittlungswahlrecht, das einem bestandskräftig gewordenen Einkommensteuerbescheid zugrunde gelegt wurde, für einen verfahrensrechtlich noch offenen Gewerbesteuermessbescheid nicht anderweitig ausgeübt werden ([X.]-Urteil vom 9. August 1989 [X.], [X.], 520, [X.] 1990, 195).

Dass mit dem --in den meisten Entscheidungen nicht näher erläuterten-- Begriff der "Bestandskraft" nicht die materielle, sondern die formelle Bestandskraft gemeint ist, ergibt sich u.a. aus dem [X.]-Urteil vom 30. August 2001 IV R 30/99 ([X.], 507, [X.] 2002, 49, unter [X.]), wo es in dem hier interessierenden Zusammenhang heißt, unanfechtbar sei eine Steuerfestsetzung, wenn sie nicht mehr mit ordentlichen außergerichtlichen oder gerichtlichen Rechtsbehelfen angefochten werden könne.

Eine Ausnahme von dem Grundsatz, dass der Eintritt der formellen Bestandskraft die zeitliche Grenze für die anderweitige Ausübung von Antrags- oder Wahlrechten bildet, macht die Rechtsprechung aber, wenn der ursprüngliche Bescheid noch unter dem Vorbehalt der Nachprüfung steht ([X.]-Urteil vom 3. Februar 1987 [X.] R 255/84, [X.] 1987, 751, unter [X.]; diese Entscheidung wird auch in dem vom [X.] im vorliegenden Revisionsverfahren angeführten [X.] in [X.] 2010, 1415 zustimmend zitiert; im Ergebnis wohl auch [X.]-Urteil vom 25. Oktober 2007 III R 39/04, [X.], 294, [X.] 2008, 226; anders allerdings für das umsatzsteuerrechtliche Wahlrecht zur Bestimmung des [X.] [X.]-Urteil vom 22. November 2007 V R 35/06, [X.] 2008, 628).

Im Ergebnis besteht damit Einigkeit, dass durch die erstmalige oder geänderte Ausübung eines Antrags- oder Wahlrechts die Änderung einer formell bestandskräftigen, nicht unter dem Vorbehalt der Nachprüfung stehenden Steuerfestsetzung nicht erreicht werden kann, und eine solche Verfahrenshandlung insbesondere nicht die Voraussetzungen einer der gesetzlichen Korrekturvorschriften erfüllt.

b) Vorliegend begehrt die Klägerin indes nicht die Änderung eines bestandskräftigen Bescheids. Vielmehr hat sie einen steuererhöhenden Änderungsbescheid angegriffen, der als solcher nicht bestandskräftig geworden ist. Zu derartigen Fallgestaltungen hat sich in der höchstrichterlichen Rechtsprechung noch kein einheitliches Bild entwickelt.

aa) Für Zwecke der Ausübung des Ehegatten zustehenden Rechts auf Wahl der Veranlagungsform (§§ 26 ff. EStG) lässt die ständige Rechtsprechung der hierfür zuständigen bzw. zuständig gewesenen Senate des [X.] eine Änderung der bereits ausgeübten Wahlmöglichkeit auch dann zu, wenn die anderweitige Veranlagungsform erst nach Ergehen eines Änderungsbescheids, der an die Stelle eines formell bestandskräftig gewordenen Bescheids getreten ist, gewählt wird (tragend in den [X.]-Urteilen vom 27. Juli 1988 VI R 43/85, [X.] 1989, 156; vom 27. September 1988 VIII R 98/87, [X.]E 155, 91, [X.] 1989, 229, und vom 25. Juni 1993 III R 32/91, [X.]E 171, 407, [X.] 1993, 824; ferner obiter dicta in den [X.]-Urteilen vom 28. August 1981 VI R 139/78, [X.]E 134, 412, [X.] 1982, 156; vom 24. Mai 1991 III R 105/89, [X.]E 165, 345, [X.] 1992, 123, unter 2.b; vom 19. Mai 1999 XI R 97/94, [X.]E 189, 63, [X.] 1999, 762; vom 20. Januar 1999 XI R 31/96, [X.] 1999, 1333, und vom 24. Januar 2002 III R 49/00, [X.]E 198, 12, [X.] 2002, 408, unter [X.]).

Diese Entscheidungen sind allerdings jedenfalls nicht zwingend auf andere einkommensteuerrechtliche Antrags- oder Wahlrechte übertragbar, da es sich bei der anderweitigen Ausübung des Ehegattenwahlrechts nach der Rechtsprechung des III. Senats weder um einen Einspruch noch um einen Änderungsantrag handelt. Eine solche Verfahrenshandlung berechtigt daher nur zu einer Änderung der Veranlagungsform, nicht aber zur Änderung der bisher berücksichtigten Besteuerungsgrundlagen ([X.]-Urteil vom 3. März 2005 III R 60/03, [X.]E 209, 308, [X.] 2005, 564).

bb) Auch hat es die höchstrichterliche Rechtsprechung zugelassen, ein Wahlrecht (erstmals) im Einspruchsverfahren gegen einen Änderungsbescheid auszuüben, wenn erst dieser Änderungsbescheid überhaupt die Grundlage für die Ausübung des Wahlrechts gelegt hat. So hat es der [X.] gebilligt, dass die Vergünstigung des § 6c EStG für die Übertragung stiller Reserven aus der Veräußerung von landwirtschaftlichem Grund und Boden im Einspruchsverfahren gegen einen Änderungsbescheid geltend gemacht wurde, wenn erst in diesem Änderungsbescheid ein Veräußerungsgewinn aus dem --vom Steuerpflichtigen als Privatvermögen angesehenen-- Grundbesitz angesetzt worden ist ([X.]-Urteil in [X.], 507, [X.] 2002, 49).

cc) Darüber hinaus wird die Änderung eines bestandskräftigen Bescheids nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 [X.] zugelassen, wenn der Sachverhalt, auf dem das Wahlrecht beruht, dem [X.] nachträglich bekannt wird und den Steuerpflichtigen an dem nachträglichen Bekanntwerden kein grobes Verschulden trifft. In diesem Fall kann der Steuerpflichtige sein Wahlrecht erstmals ausüben, obwohl der Sachverhalt als solcher bereits in der ursprünglichen Veranlagung erfasst war und diese bestandskräftig geworden ist ([X.]-Urteil vom 28. September 1984 VI R 48/82, [X.]E 141, 532, [X.] 1985, 117: wenn dem Steuerpflichtigen erst nach Bestandskraft der Veranlagung bekannt wird, dass darin auch [X.] seines Arbeitgebers erfasst worden sind, kann er gleichwohl deren ermäßigte Besteuerung nach § 34 EStG beantragen und das [X.] zur Änderung des Bescheids nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 [X.] veranlassen).

c) Jedenfalls in Fallgestaltungen wie im Streitfall wird die zeitliche Grenze für die Möglichkeit der erstmaligen oder geänderten Ausübung eines Antrags- oder Wahlrechts nach Auffassung des erkennenden Senats nicht durch die formelle Bestandskraft des Erstbescheids, sondern erst durch die formelle Bestandskraft des steuererhöhenden Änderungsbescheids gezogen, sofern die steuerlichen Auswirkungen der Ausübung des Antrags- oder Wahlrechts nicht über den durch § 351 Abs. 1 [X.] gezogenen Rahmen hinaus gehen.

Der Zweck der unter a) zitierten Rechtsprechung liegt darin, zu verhindern, dass ein formell und materiell bestandskräftiger Steuerbescheid, für dessen Änderung keine Korrekturvorschrift zur Verfügung steht, allein wegen der erstmaligen oder anderweitigen Ausübung eines Antrags- oder Wahlrechts geändert werden muss. Der Steuerpflichtige soll die Finanzverwaltung nicht allein durch die nachträgliche ("verspätete") erstmalige oder geänderte Ausübung von Antrags- oder Wahlrechten zwingen können, die Veranlagung verfahrensrechtlich wieder zu "öffnen". Vor diesem Hintergrund ist die Ausübung von Antrags- oder Wahlrechten in der zitierten Rechtsprechung zutreffend insbesondere weder als neue Tatsache i.S. des § 173 Abs. 1 Nr. 2 [X.] noch als rückwirkendes Ereignis i.S. des § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 [X.] angesehen worden.

Eine grundlegend andere Situation ist aber gegeben, wenn das [X.] den formell bestandskräftig gewordenen Bescheid ohnehin --mit [X.] ändern muss, weil die Voraussetzungen einer Korrekturvorschrift erfüllt sind und insoweit die materielle Bestandskraft des Bescheids durchbrochen wird. Jedenfalls dann, wenn für den Steuerpflichtigen --wie im vorliegenden [X.] erst durch die erstmalige Erfassung eines weiteren steuererheblichen Sachverhalts im Änderungsbescheid überhaupt die wirtschaftliche Notwendigkeit entsteht, sich mit der Ausübung bzw. geänderten Ausübung eines einkommensteuerrechtlichen Antrags- oder Wahlrechts für denselben Veranlagungszeitraum zu befassen (vgl. hierzu auch die vorstehend unter [X.] angeführte Rechtsprechung), ist es [X.], ihm diese Möglichkeit bis zur formellen Bestandskraft des Änderungsbescheids zuzugestehen. Davon unberührt bleibt, dass andere einkommensteuerrechtliche Vorschriften (z.B. das Gewinnermittlungswahlrecht nach § 4 Abs. 3 EStG oder jedenfalls die Ansparabschreibung nach § 7g EStG a.F.) weitere materiell-rechtliche Anforderungen an eine geänderte Wahlrechtsausübung stellen und in diesen Fällen allein der noch fehlende Eintritt der formellen Bestandskraft eines Änderungsbescheids nicht hinreichend für eine geänderte Wahlrechtsausübung ist.

Soweit der [X.]. Senat des [X.] im Beschluss in [X.] 2010, 1415 zu einer mit dem vorliegend zu beurteilenden Sachverhalt im Wesentlichen vergleichbaren Konstellation im Ergebnis --ohne näher zwischen der Bestandskraft von [X.] und der von [X.] zu differenzieren-- eine andere Auffassung vertreten hat, hat er auf Anfrage des erkennenden Senats erklärt, daran nicht mehr festzuhalten.

3. Das vorinstanzliche Urteil ist allerdings insoweit rechtsfehlerhaft, als es der Klägerin zwar den Freibetrag für den Gewinn aus der Veräußerung der [X.] (22.975 €) zugesprochen, den bisher gewährten Freibetrag für die Betriebsveräußerung (3.705 €) aber nicht gegengerechnet hat.

Der Freibetrag nach § 16 Abs. 4 EStG kann nach dem Gesetzeswortlaut ("nur einmal zu gewähren") auch bei Veräußerung oder Aufgabe mehrerer Betriebe, [X.] oder [X.] innerhalb desselben Veranlagungszeitraums nur für einen einzigen Veräußerungs- oder Aufgabegewinn in Anspruch genommen werden (so zutreffend auch [X.] in [X.]/[X.]/[X.], § 16 EStG Rz 730).

Vorliegend hat das [X.] tenoriert, der [X.] werde "nach Maßgabe der Urteilsgründe geändert". Die Urteilsgründe enthalten allerdings lediglich Rechtsausführungen, aber keine Hinweise zur Steuerberechnung. [X.] klar wird nur, dass das [X.] den Freibetrag nach § 16 Abs. 4 EStG für den Gewinn aus der Veräußerung der [X.] (22.975 €) gewähren wollte. Angesichts des Umstands, dass die Klägerin ausweislich des Tatbestands des angefochtenen Urteils die Steuerfreistellung des Betrags von 22.975 € (ohne Gegenrechnung des bisher gewährten Freibetrags von 3.705 €) beantragt hatte und das [X.] der Klage in vollem Umfang stattgegeben hat, ohne der Klägerin für den zu weit gehenden Klageantrag eine Kostenquote aufzuerlegen, ist davon auszugehen, dass das [X.] keine Gegenrechnung des bisher gewährten Freibetrags vornehmen wollte. In diesem Umfang war das angefochtene Urteil zu ändern.

Die Ermittlung der festzusetzenden Steuer wird gemäß § 100 Abs. 2 Satz 2, § 121 Satz 1 [X.]O dem [X.] übertragen.

4. [X.] beruht auf § 136 Abs. 1 Satz 1 [X.]O.

Meta

X R 44/13

27.10.2015

Bundesfinanzhof 10. Senat

Urteil

vorgehend FG Münster, 24. April 2013, Az: 7 K 2342/11 E, Urteil

§ 16 Abs 4 EStG, § 351 Abs 1 AO

Zitier­vorschlag: Bundesfinanzhof, Urteil vom 27.10.2015, Az. X R 44/13 (REWIS RS 2015, 3292)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2015, 3292

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