Bundesgerichtshof, Beschluss vom 27.07.2021, Az. 1 StR 201/21

1. Strafsenat | REWIS RS 2021, 3738

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Gegenstand

Beweiswürdigung einer Zeugenaussage: Einholung eines aussagepsychologischen Sachverständigengutachtens


Tenor

Auf die Revision der Beschuldigten wird das Urteil des [X.] vom 5. März 2021 mit den Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des [X.] zurückverwiesen.

Gründe

1

Das [X.] hat im Sicherungsverfahren die Unterbringung der Beschuldigten in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet. Die hiergegen gerichtete Revision der Beschuldigten, mit der sie die Verletzung materiellen Rechts beanstandet, hat Erfolg.

2

1. Nach den Feststellungen des [X.]s leidet die Beschuldigte spätestens seit 2015 an paranoider Schizophrenie mit zunehmend bizarrem [X.], Verfolgungs-, Abstammungs- und Größenwahn sowie mit schwerster Störung der ʺIch-Meinhaftigkeitʺ. Am 4. Mai 2019 hatte sie sich geweigert, zwei Polizeibeamtinnen, die sie zur Vollstreckung einer Ersatzfreiheitsstrafe (vormals Geldstrafe, verhängt wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte in Tateinheit mit versuchter Körperverletzung) mitnehmen wollten, Folge zu leisten, ein Steakmesser mit einer Klingenlänge von elf cm hervorgeholt und damit zunächst in Richtung der Polizistinnen gezeigt; anschließend hatte sie das Messer gegen ihren eigenen Bauch gerichtet. Wegen dieser Tat hatte das Amtsgericht einen Unterbringungsbefehl erlassen, der ab dem 24. März 2020 im psychiatrischen Zentrum in [X.]       vollzogen wurde. Nachdem das [X.] die Eröffnung des [X.] abgelehnt hatte, wurde die Beschuldigte am 9. Juli 2020 entlassen und begab sich in eine Obdachlosenunterkunft.

3

Infolge ihrer paranoiden Schizophrenie glaubte die Beschuldigte, der - ihr nicht näher bekannte - Mitbewohner       [X.]habe sie und ihren [X.] vergewaltigt; dies sagte sie        [X.]und drohte ihm, [X.] könne getötet werden, da er keine Daseinsberechtigung habeʺ. Am 11. Juli 2020 wollte       [X.] in [X.] seinen Einkauf abstellen; die sich dort aufhaltende Beschuldigte sagte, er dürfe nicht reinkommen. Da        [X.] dennoch das ihm zugewiesene [X.] betreten wollte, ergriff die Beschuldigte, der die Einsicht fehlte, Unrecht zu tun, ein Küchenmesser mit einer Klingenlänge von 27 cm, [X.] auf, hielt es in der Faust mit der Spitze auf den etwa drei bis vier Meter entfernt stehenden       [X.]     zeigend, ging einen Schritt auf ihn zu und sagte zu ihm, er solle nicht näherkommen, sondern sich ʼverpissenʽ, sonst greife sie ihn anʺ. Derart eingeschüchtert verließ       [X.]das [X.].

4

Bei ihrer anschließenden Festnahme äußerte die Beschuldigte, sie habe gegenüber        [X.][X.]. In der einstweiligen Unterbringung (§ 126a StPO) zeigte sie sich behandlungsuneinsichtig und verweigerte die Medikamenteneinnahme.

5

2. Die Beweiswürdigung, die der gemäß § 63 Satz 2 StGB angeordneten Unterbringung zugrunde liegt, hält sachlichrechtlicher Nachprüfung nicht stand.

6

a) Die Beschuldigte hat in der Hauptverhandlung zum Tatvorwurf geschwiegen. Gegenüber dem Sachverständigen hat sie angegeben, sie habe       [X.] das Messer wortlos gezeigt; dann habe sie sich hingesetzt und das Messer vor sich hingehalten. Das [X.] hat sich vom Geschehen (einer rechtswidrigen Nötigung, § 240 StGB) aufgrund der Aussage des Zeugen        [X.]  überzeugt (§ 261 StPO).

7

b) Die Würdigung von Zeugenaussagen gehört zum Wesen richterlicher Rechtsfindung und ist daher grundsätzlich dem Tatgericht anvertraut. Das Einholen eines aussagepsychologischen Sachverständigengutachtens ist nur dann geboten, wenn die Person des Zeugen solche Besonderheiten aufweist, dass Zweifel daran aufkommen können, ob die Sachkunde des Gerichts auch zur Beurteilung der Glaubwürdigkeit unter den gegebenen besonderen Umständen ausreicht ([X.], Urteil vom 4. Oktober 2017 - 2 StR 219/15 Rn. 32; Beschluss vom 25. April 2006 - 1 [X.] Rn. 7). Der Belastungszeuge, der zur Tatzeit allein mit der Beschuldigten im [X.] war, leidet selbst an einer - nicht näher dargelegten - Schizophrenie ([X.]). Ohne weitere Auseinandersetzung mit dieser nur umrissenen psychischen Erkrankung lässt sich nicht überprüfen, ob das [X.] rechtsfehlerfrei eine Aussagefähigkeit annehmen konnte oder ob zur Überzeugungsbildung das Hinzuziehen eines Sachverständigen geboten war. Zwar hat die Beschuldigte nach der Tat von [X.] gesprochen; auch die Tat vom 4. Mai 2019 belegt ihre [X.] zu Messern. Indes zeigt gerade diese Vortat, dass es auf eine genaue Bestimmung ankommt, wohin die Beschuldigte das Messer richtete; denn ihre Angaben gegenüber dem Sachverständigen, sie habe das Messer vor sich hingehalten, weist eine gewisse Ähnlichkeit mit dem von den beiden Polizistinnen am 4. Mai 2019 beobachteten Umdrehen des Messers auf.

Raum     

        

Bellay     

        

Riʼin[X.] Dr. Fischer ist im
Urlaub und deshalb an der
Unterschriftsleistung
gehindert.

                                   

Raum   

        

Leplow     

        

Pernice     

        

Meta

1 StR 201/21

27.07.2021

Bundesgerichtshof 1. Strafsenat

Beschluss

Sachgebiet: StR

vorgehend LG Mannheim, 5. März 2021, Az: 206 Js 21416/20 - 5a KLs

§ 261 StPO

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Beschluss vom 27.07.2021, Az. 1 StR 201/21 (REWIS RS 2021, 3738)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2021, 3738

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