Bundesverwaltungsgericht, Beschluss vom 02.08.2023, Az. 1 B 20/23

1. Senat | REWIS RS 2023, 5250

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Gegenstand

Unzulässige Nichtzulassungsbeschwerde gegen ein eine Ausweisung bestätigendes Berufungsurteil; Abwägung von Bleibe- und Ausweisungsinteresse


Tenor

Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des [X.] vom 22. Mai 2023 wird verworfen.

Der Kläger trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.

Der Wert des Streitgegenstands wird für das Beschwerdeverfahren auf 5 000 € festgesetzt.

Gründe

1

1. Die [X.]eschwerde, mit der eine grundsätzliche [X.]edeutung der Rechtssache (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) (a) und ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des [X.]erufungsurteils (b) geltend gemacht werden, ist unzulässig.

2

a) Eine Rechtssache hat grundsätzliche [X.]edeutung im Sinne des § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO, wenn sie eine abstrakte, in dem zu entscheidenden Fall erhebliche Frage des revisiblen Rechts mit einer über den Einzelfall hinausgehenden allgemeinen [X.]edeutung aufwirft, die im Interesse der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder im Interesse der Rechtsfortbildung in einem Revisionsverfahren geklärt werden muss. Diese Voraussetzungen sind nicht erfüllt, wenn sich die aufgeworfene Frage im Revisionsverfahren nicht stellen würde, wenn sie bereits geklärt ist oder aufgrund des Gesetzeswortlauts mithilfe der üblichen Regeln sachgerechter Auslegung und auf der Grundlage der einschlägigen Rechtsprechung ohne Durchführung eines Revisionsverfahrens beantwortet werden kann oder wenn sie einer abstrakten Klärung nicht zugänglich ist ([X.]VerwG, [X.]eschlüsse vom 1. April 2014 - 1 [X.] 1.14 - juris Rn. 2 und vom 25. Juli 2017 - 1 [X.] 117.17 - juris Rn. 3). Für die Zulassung der Revision reicht eine Tatsachenfrage von grundsätzlicher [X.]edeutung nicht aus; die Klärungsbedürftigkeit muss vielmehr in [X.]ezug auf den anzuwendenden rechtlichen Maßstab, nicht die richterliche Tatsachenwürdigung und -bewertung bestehen ([X.]VerwG, [X.]eschluss vom 10. März 2020 - 1 [X.] 15.20 - juris Rn. 4). Das [X.] des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO setzt die Formulierung einer bestimmten, höchstrichterlich noch ungeklärten und für die Revisionsentscheidung erheblichen Rechtsfrage des revisiblen Rechts und außerdem die Angabe voraus, worin die allgemeine, über den Einzelfall hinausgehende [X.]edeutung besteht. Die [X.]eschwerde muss daher erläutern, dass und inwiefern die Revisionsentscheidung zur Klärung einer bisher revisionsgerichtlich nicht beantworteten fallübergreifenden Rechtsfrage des revisiblen Rechts führen kann (stRspr, vgl. [X.]VerwG, [X.]eschluss vom 19. August 1997 - 7 [X.] 261.97 - [X.]uchholz 310 § 133 VwGO Nr. 26 S. 14). Diesen Anforderungen wird die [X.]eschwerdebegründung nicht gerecht.

3

aa) Die Revision ist nicht wegen der geltend gemachten grundsätzlichen [X.]edeutung der Frage zuzulassen,

"ob ein seit seiner Geburt in [X.] Lebender als faktischer Inländer anzusehen ist, sich hieraus ein besonderer Schutzstatus ergibt und ob zudem eine besondere Verwurzelung im [X.]undesgebiet und somit ein besonderer Schutzstatus gem. Art. 6 GG, Art. 8 [X.] vorliegt und somit eine Verletzung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes gegeben ist".

Die Frage, ob ein im [X.]undesgebiet geborener oder aufgewachsener Ausländer als sogenannter "faktischer Inländer" anzusehen ist, würde sich in dieser Allgemeinheit in dem angestrebten Revisionsverfahren in klärungsbedürftiger Weise nicht stellen. Im Übrigen ist in der höchstrichterlichen Rechtsprechung geklärt, dass eine Ausweisung sogenannter "faktischer Inländer" nicht von vornherein unzulässig ist. Vielmehr ist der besonderen Härte, die mit einer solchen Ausweisung einhergeht, durch eine auf den konkreten Einzelfall bezogene individuelle Gefahrenprognose unter [X.]erücksichtigung aktueller Tatsachen, die die Gefahr entfallen lassen oder nicht unerheblich vermindern können, sowie im Rahmen der Interessenabwägung durch eine besonders sorgfältige Prüfung und Erfassung der individuellen Lebensumstände des Ausländers, seiner Verwurzelung in [X.] einerseits und seiner Entwurzelung im Herkunftsland andererseits Rechnung zu tragen ([X.], Urteil vom 30. November 1999 - Nr. 34374/97 [[X.]:[X.]:[X.]], [X.]aghli / [X.] - NVwZ 2000, 1401 Rn. 45 f.; [X.], Urteil vom 8. Dezember 2011 - [X.]/08 [[X.]:[X.]:[X.]], [X.] - Rn. 82 f.; [X.]VerfG, [X.] vom 19. Oktober 2016 - 2 [X.]vR 1943/16 - NVwZ 2017, 229 Rn. 19 und vom 25. August 2020 - 2 [X.]vR 640/20 - [X.] 2020, 424 Rn. 24; [X.]VerwG, Urteil vom 16. Februar 2022 - 1 [X.] 6.21 - [X.]VerwGE 175, 16 Rn. 33). Diese Grundsätze hat das [X.]erufungsgericht berücksichtigt ([X.] Rn. 36). [X.] rechtsgrundsätzlichen Klärungsbedarf zeigt die [X.]eschwerdebegründung nicht auf. Der Sache nach wendet sie sich vielmehr gegen eine ihrer Ansicht nach fehlerhafte Rechtsanwendung im Einzelfall. In der Art einer [X.]erufungsbegründung legt sie dar, dass sie die Anwendung dieser höchstrichterlich geklärten Rechtssätze durch das [X.]erufungsgericht für fehlerhaft hält, und setzt sie der rechtlichen [X.]eurteilung durch den Verwaltungsgerichtshof ihre eigene, zu einem anderen Ergebnis führende Würdigung entgegen. Eine solche Entscheidungskritik ist nicht geeignet, die grundsätzliche [X.]edeutung der Rechtssache im Sinne des § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO zu begründen.

4

bb) Zum Erfolg verhilft der [X.]eschwerde auch nicht die Frage,

"ob das Maß der strafrechtlichen Gesamtstrafe bei der [X.]eurteilung des [X.]. § 54 [X.] Auswirkungen auf die Abwägung und damit den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz hat".

Diese Rechtsfrage hat in der höchstrichterlichen Rechtsprechung ebenfalls bereits hinreichende Klärung erfahren. Danach gebietet es § 53 Abs. 1 [X.], die widerstreitenden vertypten und nichtvertypten Ausweisungs- und [X.]leibeinteressen stets ergebnisoffen, einzelfallbezogen und umfassend gegeneinander abzuwägen. Eine schematisierende oder gleichsam mathematische Abwägung der vertypten Interessen verbietet sich ([X.]VerfG, [X.] vom 10. Mai 2007 - 2 [X.]vR 304/07 - NVwZ 2007, 946 (948) und vom 19. Oktober 2016 - 2 [X.]vR 1943/16 - NVwZ 2017, 229 Rn. 19; [X.]VerwG, Urteil vom 27. Juli 2017 - 1 [X.] 28.16 - [X.]VerwGE 159, 270 Rn. 39). Der abstrakten gesetzlichen Gewichtung eines Ausweisungs- und [X.]leibeinteresses ist zwar eine die Abwägung prägende Funktion beizumessen; den vertypten Interessen kann jedoch nach den besonderen Umständen des Einzelfalles ein abweichendes Gewicht beizumessen sein, sodass erst nach einer Würdigung sämtlicher Umstände des Einzelfalles feststeht, ob das [X.] gegenüber dem [X.]leibeinteresse überwiegt ([X.]T-Drs. 18/4097, 50; [X.]VerwG, Urteil vom 27. Juli 2017 - 1 [X.] 28.16 - [X.]VerwGE 159, 270 Rn. 39). Sind somit in die Abwägung sämtliche Umstände des Einzelfalles einzustellen ([X.]T-Drs. 18/4097, 49 f.), so ist hierbei auch das Maß der strafrechtlichen Gesamtstrafe zu berücksichtigen. [X.] rechtsgrundsätzlichen Klärungsbedarf zeigt die [X.]eschwerdebegründung auch insoweit nicht auf. Die Frage, ob die im Einzelfall getroffene [X.] diesen Vorgaben gerecht wird, vermag die Zulassung der Revision nach § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO nicht zu rechtfertigen.

5

b) Die Revision ist auch nicht wegen der geltend gemachten ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit der Entscheidung zuzulassen. Ernstliche Zweifel - sofern sie denn bestehen - rechtfertigen zwar nach § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO die Zulassung der [X.]erufung, nicht aber die Zulassung der Revision. Denn einen Zulassungsgrund der ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit der Entscheidung kennt § 132 Abs. 2 VwGO, der die Revisionszulassungsgründe abschließend aufführt, nicht (stRspr, vgl. [X.]VerwG, [X.]eschluss vom 4. Mai 2022 - 1 [X.] 17.22 - juris Rn. 2 m. w. N.).

6

c) Die (behauptete) Fehlerhaftigkeit eines Urteils stellt im Übrigen auch keinen Verfahrensmangel dar. Nach § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO ist die Revision zuzulassen, wenn ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird, auf dem die Entscheidung beruhen kann. Damit sind Verstöße gegen Vorschriften gemeint, die den Verfahrensablauf und damit den Weg zu der Entscheidung sowie die Art und Weise des [X.] der Entscheidung regeln, nicht jedoch Vorschriften, die den Urteils- oder [X.]eschlussinhalt betreffen und deren Verletzung sich als Mangel der sachlichen Entscheidung darstellt. Ein Verfahrensmangel ist nur dann im Sinne von § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO ausreichend bezeichnet, wenn er sowohl in den ihn (vermeintlich) begründenden Tatsachen als auch in seiner rechtlichen Würdigung substantiiert dargetan wird (stRspr, vgl. [X.]VerwG, [X.]eschluss vom 20. August 2015 - 5 [X.] 14.15 - juris Rn. 14 m. w. N.). Das Vorbringen, der Verwaltungsgerichtshof habe sich mit dem Umstand des faktischen Inländers nicht ausreichend auseinandergesetzt, Aussagen der ehemaligen Lebensgefährtin und des Vaters des [X.] unberücksichtigt gelassen und bei der Interessenabwägung nicht hinreichend gewürdigt, dass das Strafmaß nur geringfügig oberhalb der Grenze des § 54 Abs. 1 Nr. 1 [X.] liege, genügt den vorstehenden Anforderungen des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO nicht.

7

2. [X.] beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Die Festsetzung des Streitwertes ergibt sich aus § 47 Abs. 1 und 3 und § 52 Abs. 2 GKG.

Meta

1 B 20/23

02.08.2023

Bundesverwaltungsgericht 1. Senat

Beschluss

Sachgebiet: B

vorgehend Bayerischer Verwaltungsgerichtshof, 22. Mai 2023, Az: 10 B 23.99, Urteil

§ 53 AufenthG, § 54 Abs 1 Nr 1 AufenthG, § 124 Abs 2 Nr 1 VwGO

Zitier­vorschlag: Bundesverwaltungsgericht, Beschluss vom 02.08.2023, Az. 1 B 20/23 (REWIS RS 2023, 5250)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2023, 5250

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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Referenzen
Wird zitiert von

27 L 2717/23

Zitiert

2 BvR 640/20

2 BvR 1943/16

Zitieren mit Quelle:
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