Bundesgerichtshof, Beschluss vom 17.01.2023, Az. 4 StR 216/22

4. Strafsenat | REWIS RS 2023, 403

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Gegenstand

Sexueller Missbrauch von Kindern: Voraussetzungen der Strafbarkeit sexueller Handlungen vor einem Kind


Tenor

1. Auf die Revision der Angeklagten wird das Urteil der [X.] des [X.] bei dem [X.] vom 15. Februar 2022

a) im Schuldspruch im Fall II. 2. e) der Urteilsgründe dahin geändert, dass die Angeklagte des sexuellen Missbrauchs von Kindern schuldig ist;

b) mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben

aa) in den Fällen [X.]), b) und c) der Urteilsgründe sowie

bb) im gesamten Strafausspruch.

2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

3. Die weiter gehende Revision wird verworfen.

Gründe

1

Das [X.] hat die Angeklagte wegen s[X.]hweren sexuellen Missbrau[X.]hs von Kindern in kinderpornographis[X.]her Absi[X.]ht in se[X.]hs Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und se[X.]hs Monaten verurteilt. Hiergegen wendet si[X.]h die Angeklagte mit ihrer auf die Rüge der Verletzung materiellen Re[X.]hts gestützten Revision. Das Re[X.]htsmittel erzielt den aus der Ents[X.]heidungsformel ersi[X.]htli[X.]hen Teilerfolg; im Übrigen ist es unbegründet im Sinne von § 349 Abs. 2 StPO.

2

1. Die Verurteilung wegen s[X.]hweren sexuellen Missbrau[X.]hs von Kindern in kinderpornographis[X.]her Absi[X.]ht gemäß § 176a Abs. 3, § 176 Abs. 4 Nr. 1 StGB idF vom 27. Januar 2015 in den Fällen [X.]), b) und [X.]) der Urteilsgründe kann ni[X.]ht bestehen bleiben, weil die Urteilsgründe ni[X.]ht ergeben, dass die Angeklagte sexuelle Handlungen „vor“ einem Kind im Sinne von § 184h Nr. 2 StGB vorgenommen hat.

3

a) Die Strafbarkeit von sexuellen Handlungen „vor“ einem Kind gemäß § 176 Abs. 4 Nr. 1 StGB aF ist na[X.]h § 184h Nr. 2 StGB auf sol[X.]he Handlungen bes[X.]hränkt, die von dem Kind wahrgenommen werden. Darüber hinaus ist es erforderli[X.]h, dass der Täter das Kind in der Weise in das sexuelle Ges[X.]hehen einbezieht, dass für ihn gerade die Wahrnehmung der sexuellen Handlung dur[X.]h das Tatopfer von handlungsleitender Bedeutung ist, es ihm hierauf also ankommt (vgl. [X.], Urteil vom 9. Dezember 2015 – 2 StR 261/15 Rn. 5; Bes[X.]hluss vom 21. Oktober 2014 – 1 [X.], [X.]St 60, 44 Rn. 19; Urteil vom 12. Mai 2011 – 4 [X.] Rn. 4; Urteil vom 14. Dezember 2004 – 4 [X.], [X.]St 49, 376, 378 ff.; offen [X.], Bes[X.]hluss vom 18. Dezember 2018 – 3 [X.] Rn. 5 f.; Bes[X.]hluss vom 13. November 2012 – 3 [X.] Rn. 4).

4

b) Von diesen Maßgaben ist das [X.] im Rahmen seiner re[X.]htli[X.]hen Würdigung zwar ausgegangen ([X.]), hat aber in den Fällen [X.]), b) und [X.]) der Urteilsgründe keine entspre[X.]henden konkreten Tatsa[X.]hen festgestellt. Na[X.]h den insoweit unter Ziffer [X.] der Urteilsgründe getroffenen Feststellungen dus[X.]hte die Angeklagte am 11. Januar 2017 zusammen mit ihrer se[X.]hsjährigen To[X.]hter. „In Gegenwart des Kindes“ führte sie si[X.]h einen Massagestab in ihre Vagina ein und „manipulierte daran“ (Fall 2. a)). Am 4. Februar 2017 badeten die beiden Kinder der Angeklagten. Mit entblößtem Genitalberei[X.]h begab si[X.]h die Angeklagte vor die Badewanne und befriedigte si[X.]h selbst, indem sie einen Massagestab in ihre Vagina einführte (Fall 2. b)). Letzteres tat sie ebenfalls am 17. Februar 2017 beim gemeinsamen Dus[X.]hen mit ihrem knapp fünfjährigen [X.] (Fall 2. [X.])). Von dem Ges[X.]hehen fertigte die Angeklagte [X.]eils Videoaufnahmen, die sie ‒ wie von vornherein beabsi[X.]htigt ‒ per [X.] an ihren gesondert verfolgten Sexualpartner versandte, der eine dominante Rolle („[X.]“) ihr als „Sub“ gegenüber innehatte.

5

[X.]) Diese Feststellungen tragen den S[X.]huldspru[X.]h ni[X.]ht. Denn aus ihnen ergibt si[X.]h weder eine Wahrnehmung der sexuellen Handlungen dur[X.]h die Kinder no[X.]h die handlungsleitende Bedeutung einer sol[X.]hen Wahrnehmung für die Angeklagte.

6

Au[X.]h der Gesamtheit der Urteilsgründe ist hierzu ni[X.]hts zu entnehmen. Die in der Beweiswürdigung mitgeteilten Angaben eines Kriminalbeamten zum Inhalt der Videoaufnahmen spre[X.]hen eher dagegen. So wirkte im Fall 2. a) die seitli[X.]h hinter der Angeklagten stehende To[X.]hter während der sexuellen Handlungen „offensi[X.]htli[X.]h abgelenkt und mit dem Dus[X.]hen bes[X.]häftigt“. Im Fall 2. b) saßen die Kinder in der Badewanne und spielten im Wasser, während ihnen die Angeklagte beim Einführen des Massagestabs den Rü[X.]ken zuwandte. Im Fall 2. [X.]) stand der [X.] der Angeklagten seitli[X.]h hinter seiner Mutter und beoba[X.]htete nur „anfängli[X.]h das Ges[X.]hehen“ ([X.]). Ob hiervon die sexuellen Handlungen erfasst sind, bleibt unklar. Für die verfahrensgegenständli[X.]hen Taten ohne Aussagekraft ist zudem die Einlassung der Angeklagten, wona[X.]h die Kinder „au[X.]h immer mehr bei ihr mitbekommen“ hätten (UA 13).

7

Ebenso wenig versteht si[X.]h mit Bli[X.]k auf die [X.]eiligen Körperpositionen von selbst, dass es der Angeklagten auf eine Wahrnehmung ihrer sexuellen Handlungen dur[X.]h die Kinder angekommen wäre und sie daher – was für einen S[X.]huldspru[X.]h na[X.]h § 176a Abs. 3 StGB aF aufgrund der Inbezugnahme von § 176 Abs. 6 StGB aF bereits genügen würde (vgl. [X.] in [X.], 4. Aufl., § 176a Rn. 32; Es[X.]helba[X.]h in Matt/[X.], StGB, 2. Aufl., § 176a Rn. 25) – zumindest versu[X.]ht hätte, vor ihren Kindern sexuelle Handlungen vorzunehmen, die Gegenstand einer zu verbreitenden kinderpornographis[X.]hen S[X.]hrift sein sollten. Beweiswürdigende Erwägungen hierzu enthält das Urteil ni[X.]ht. Dass die Angeklagte ihre Kinder in das sexuelle Ges[X.]hehen einzubeziehen geda[X.]hte, folgt au[X.]h ni[X.]ht s[X.]hon aus ihrem festgestellten Bestreben ([X.]), den Bitten ihres Sexualpartners na[X.]hzukommen, ihr zusehen zu können, wie sie si[X.]h unter der Dus[X.]he in Gegenwart der Kinder selbst befriedige.

8

d) Der Senat kann insbesondere angesi[X.]hts der vorhandenen Videoaufnahmen ni[X.]ht auss[X.]hließen, dass ein neues Tatgeri[X.]ht no[X.]h Feststellungen wird treffen können, die eine Verurteilung der Angeklagten tragen.

9

2. Der S[X.]huldspru[X.]h im Fall [X.] 2. e) der Urteilsgründe ist ebenfalls re[X.]htsfehlerhaft. Insoweit hat das [X.] festgestellt, dass die Angeklagte am 15. April 2017 bei einem gemeinsamen Bad mit ihrer To[X.]hter erklärte, sie könne si[X.]h als Frau s[X.]höne Gefühle ma[X.]hen, und si[X.]h einen Finger vaginal einführte. Damit hat die Angeklagte unter Einbeziehung des ihre sexuelle Handlung wahrnehmenden Kindes eine Tat gemäß § 176 Abs. 4 Nr. 1 StGB aF begangen. Die für den ergangenen S[X.]huldspru[X.]h na[X.]h § 176a Abs. 3 StGB aF erforderli[X.]he Absi[X.]ht, diese Tat zum Gegenstand einer kinderpornographis[X.]hen S[X.]hrift zu ma[X.]hen, ist den Urteilsgründen jedo[X.]h ni[X.]ht zu entnehmen. Die von der Angeklagten „in der Folgezeit“ gefertigten und versandten Fotografien betrafen keine sexuellen Handlungen vor dem Kind.

Der Senat folgt – au[X.]h im Bli[X.]k auf die von der [X.] vorgenommene, mit dem ergangenen S[X.]huldspru[X.]h korrespondierende Verfahrensbes[X.]hränkung gemäß § 154a StPO – dem Antrag des [X.], den S[X.]huldspru[X.]h in diesem Fall dahin zu ändern, dass die Angeklagte des sexuellen Missbrau[X.]hs eines Kindes gemäß § 176 Abs. 4 Nr. 1 StGB aF s[X.]huldig ist. Dem steht § 265 StPO ni[X.]ht entgegen, denn es ist auszus[X.]hließen, dass si[X.]h die geständige Angeklagte anders als ges[X.]hehen hätte verteidigen können.

3. a) Die Aufhebung des angefo[X.]htenen Urteils in den Fällen [X.]), b) und [X.]) sowie die S[X.]huldspru[X.]händerung im Fall [X.] 2. e) der Urteilsgründe führen zum Wegfall der [X.]eiligen Einzelstrafen. Dies entzieht der Gesamtstrafe die Grundlage.

b) Darüber hinaus weist die Strafzumessung einen Re[X.]htsfehler auf, der zur Aufhebung des gesamten Strafausspru[X.]hs führt. Die [X.] hat bei der Zumessung aller Einzelstrafen strafers[X.]hwerend berü[X.]ksi[X.]htigt, dass die Angeklagte „bei der Ausführung der Taten bewusst ihre eigenen Interessen, nämli[X.]h die Aufre[X.]hterhaltung und Förderung ihrer Beziehung […], über das Interesse ihrer Kinder gestellt“ und „diese zum Objekt im Rahmen der Auslebung ihrer maso[X.]histis[X.]hen Neigungen gema[X.]ht“ habe. Mit diesen Erwägungen hat die [X.] der Angeklagten der Sa[X.]he na[X.]h die Begehung der Taten angelastet und damit gegen das [X.] gemäß § 46 Abs. 3 StGB verstoßen (vgl. [X.], Bes[X.]hluss vom 8. Januar 2014 – 3 [X.] Rn. 5; Bes[X.]hluss vom 14. Dezember 2004 – 4 [X.] Rn. 11).

4. Für die neue Hauptverhandlung weist der Senat auf Folgendes hin:

Das neue Tatgeri[X.]ht hat aufgrund der Aufhebung des Strafausspru[X.]hs mit den zugehörigen Feststellungen au[X.]h die Voraussetzungen und die Anwendbarkeit des § 21 StGB ‒ ohne jede Bindung an das insoweit ni[X.]ht mehr existente erste Urteil ‒ zu prüfen (vgl. [X.], Bes[X.]hluss vom 9. November 2022 – 4 StR 383/22 Rn. 5; Bes[X.]hluss vom 19. Mai 2020 – 4 [X.] Rn. 6; [X.]. [X.]). Im Falle der erneuten Annahme eines Eingangsmerkmals aufgrund einer Sexualpräferenzstörung (vgl. hierzu [X.], 5. Aufl., § 20 Rn. 74 ff. [X.]) wird es dabei zu bedenken haben, dass die – aus einem Bemühen, die Anfertigung der [X.] zu verbergen, abgeleitete – Erkenntnis der Angeklagten, die vorgenommenen sexuellen Handlungen seien fals[X.]h, entgegen den Ausführungen im angefo[X.]htenen Urteil ([X.]) als sol[X.]he nur ihre Unre[X.]htseinsi[X.]ht, ni[X.]ht aber ihre Steuerungsfähigkeit belegen könnte.

Quentin     

  

Maats[X.]h     

  

S[X.]heuß

  

Messing     

  

Momsen-Pflanz     

  

Meta

4 StR 216/22

17.01.2023

Bundesgerichtshof 4. Strafsenat

Beschluss

Sachgebiet: StR

vorgehend LG Münster, 15. Februar 2022, Az: 10 KLs 15/20

§ 176 Abs 4 Nr 1 StGB vom 21.01.2015, § 176 Abs 6 StGB vom 21.01.2015, § 176a Abs 3 StGB vom 21.01.2015, § 184h Nr 2 StGB vom 21.01.2015

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Beschluss vom 17.01.2023, Az. 4 StR 216/22 (REWIS RS 2023, 403)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2023, 403

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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