Bundesgerichtshof, Entscheidung vom 15.03.2012, Az. 2 StR 355/11

2. Strafsenat | REWIS RS 2012, 8092

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BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
2 StR 355/11
vom
15. März 2012
in der Strafsache
gegen

wegen
nachträglicher Anordnung der Unterbringung in der Sicherungs-

verwahrung aufgrund eines Vorbehalts

-
2
-
Der 2. Strafsenat des [X.] hat nach
Anhörung des [X.] und des Beschwerdeführers am 15.
März 2012 gemäß §
349 Abs.
4 StPO beschlossen:

Auf die Revision des Verurteilten wird das Urteil des [X.] vom 15.
April 2011 mit den Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des [X.] zurückverwiesen.

Gründe:
Das [X.] hat den Verurteilten im Erstverfahren wegen gefährli-cher Körperverletzung und versuchter gefährlicher Körperverletzung in zwei Fällen unter Einbeziehung der Strafe aus einem früheren Urteil zu einer Ge-samtfreiheitsstrafe von drei Jahren und wegen gefährlicher Körperverletzung in drei Fällen sowie versuchter gefährlicher Körperverletzung in sieben Fällen zu einer weiteren Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren verurteilt. Außerdem hat es die spätere Anordnung der Unterbringung des Verurteilten in der Siche-rungsverwahrung vorbehalten. Mit dem angefochtenen weiteren Urteil hat
es im Nachverfahren die Maßregel angeordnet. Hiergegen richtet sich die auf Verfah-rensrügen und die Sachbeschwerde gestützte Revision des Angeklagten. Das Rechtsmittel hat Erfolg.
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I.
Der Verurteilte hatte nach den Feststellungen des [X.] in sei-nem [X.] bei einem Aufenthalt in [X.] eine Aidsinfektion erlitten, über deren Bedeutung und Ansteckungsgefahren für Dritte er im Februar 1998 in der Universitätsklinik in H.

im Einzelnen aufgeklärt worden war. Er wusste danach, dass er die [X.]erkrankung bei ungeschütztem Geschlechts-verkehr auf eine Partnerin übertragen konnte. Medikamente, die ihm verordnet worden waren, nahm er nach einiger [X.] nicht mehr ein. Der Angeklagte suchte zuerst über Videotext, später im [X.] Kontakte zu Frauen
als Sexualpartne-rinnen. Eine Bekanntschaft endete, als die Geschädigte A.

von seiner [X.] erfuhr und Strafanzeige erstattete, weil er ihr die [X.] verschwiegen hatte. Das
führte zu der Vorverurteilung, deren Einzelstrafen in die erste Gesamtstrafe in der vorliegenden Sache einbezogen wurde.
Im Tatzeitraum, der sich von 2001 bis 2006 erstreckte, lernte der Verur-teilte neben der Zeugin A.

zehn weitere Frauen kennen, denen er seine Erkrankung nicht offen legte, und er hatte mit allen ungeschützten Ge-schlechtsverkehr. In vier Fällen führte dies zu einer Aidsinfektion bei den Sexu-alpartnerinnen, wobei unklar ist, ob die Krankheit ausbrechen wird. In den [X.] Fällen blieb schon die [X.]übertragung aus. Je nach Eintritt der Infektion oder deren Ausbleiben hat das [X.] vollendete oder versuchte gefährli-che Körperverletzung angenommen. Es stellte in seinem [X.] die formellen Voraussetzungen der [X.] gemäß §
66a Abs.
1 i.V.m. §
66 Abs.
3 Satz
2 StGB a.F. fest und nahm einen Hang des Angeklagten zur Bege-hung erheblicher Straftaten an. Dabei ging es von einem eingeschliffenen [X.]smuster aus. Auch die Gefährlichkeit des Verurteilten für die [X.] wurde schon im [X.] -
bezogen auf den Urteilszeitpunkt
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bejaht. Die sofortige [X.] unterblieb aber zunächst, weil das [X.] 2
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die weitere Entwicklung der Persönlichkeit des Verurteilten während des [X.] als ungewiss ansah.
Nach den Feststellungen des
[X.] im Nachverfahren ist der Verurteilte in der Haft therapieunwillig. Seine [X.] ist zwar durch Medikamente bis zum Erreichen der Nachweisgrenze der [X.]last eingedämmt worden. Es bestehe aber ein Restrisiko für Ansteckungsmöglichkeiten beim ungeschützten Geschlechtsverkehr. Das [X.] geht von weiterer Gefähr-lichkeit des Verurteilten aus, weil zu erwarten sei, dass er auch in Zukunft mit Sexualpartnerinnen, denen er die Erkrankung nicht offenbaren wird, [X.] Geschlechtsverkehr ausüben werde. Dafür sei eine narzisstische Persönlichkeitsprägung des Verurteilten maßgeblich. Auch liege ein Mangel an Empathie vor. Therapiebemühungen habe er vorwerfbar versäumt. Bei dieser Sachlage sei die Maßregel anzuordnen. Der Grundsatz der
Verhältnismäßigkeit sei gewahrt.

[X.]
Die Revision des Verurteilten ist mit der Sachrüge begründet, so dass es auf die erhobenen Verfahrensrügen nicht ankommt.
Entgegen der Ansicht der Revision stehen hier aber nicht bereits verfas-sungs-
und konventionsrechtliche Bedenken gegen die gesetzliche Regelung der Anwendung von §
66a Abs. 1 StGB in der Fassung des [X.] der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung vom 21.
August 2002 ([X.]
I S.
3344) entgegen. Nach dem unter Berücksichtigung der Rechtspre-chung des [X.] ergangenen Urteil des [X.] vom 4.
Mai 2011 -
2 BvR 2365/09 u.a.
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ver-4
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5
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stößt die Vorschrift zwar gegen Art.
2 Abs.
2 Satz
2 i.V.m. Art. 104 Abs.
1 GG. Sie gilt aber vorerst bis zur Neugestaltung des [X.], längstens bis zum 31.
Mai 2013, unter strikter Beachtung des Grundsatzes der Verhält-nismäßigkeit weiter ([X.] 128, 326, 404 ff.). Dies bindet den Senat nach §
31 [X.], so dass
auch konventionsrechtliche Bedenken, die in der Litera-tur gegen die Regelung einer nachträglichen [X.] aufgrund der Vorbehaltslösung erhoben werden (vgl. [X.], 191, 208; Merkel
R&P 2011, 205,
211
f.; zweifelnd [X.] in: [X.]/[X.], [X.], 2012, Art.
5 Rn.
36; [X.], 2499, 2500; [X.], 177, 179; [X.] KJ 2010, 255, 264
f.; für die Unbedenklichkeit der Vorbehaltslösung dagegen etwa [X.], [X.], 207, 211; [X.], [X.] 2005, 96, 103) hier nicht durchgreifen können.
Der [X.] im Nachverfahren steht auch nicht entgegen, dass das [X.] nach dem Beurteilungsmaßstab, wie er in der Rechtspre-chung des [X.] zugrunde gelegt wird, bereits im [X.] die Maßregel hätte anordnen können. Danach ist die Gefährlichkeitsprognose aus der [X.] im Urteilszeitpunkt durchzuführen. Unwägbarkeiten der Entwicklung im Strafvollzug sind, soweit sie jedenfalls nicht konkret abseh-bar erscheinen, dabei nicht zu berücksichtigen. Indes führt der
Rechtsfehler im [X.] nicht dazu, dass das [X.], wenn es dort trotz bestehender Möglichkeit der sofortigen [X.] zunächst nur einen Vorbehalt ausspricht, an einer [X.] im Nachverfahren gehindert ist (vgl. [X.], Urteil vom 17.
Februar 2011 -
3 [X.], [X.], 513
ff.). Jedoch bedarf es dann im Nachverfahren einer umfassenden neuen Prognoseent-scheidung. Diese hat das [X.] nicht rechtsfehlerfrei getroffen.
Während der Dauer der Weitergeltung der Vorschrift trotz [X.] muss nach dem Urteil des [X.] der Tatsache 7
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6
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Rechnung getragen werden, dass es sich bei der Sicherungsverwahrung in ih-rer derzeitigen Ausgestaltung um einen verfassungswidrigen Eingriff in das Freiheitsrecht handelt. Der Wert dieses Grundrechts beschränkt das über-gangsweise zulässige [X.]. Danach dürfen Eingriffe nur soweit reichen, wie sie unerlässlich sind, um die Ordnung aufrechtzuerhalten. Die Si-cherungsverwahrung darf in der Übergangszeit nur nach einer besonders strengen Verhältnismäßigkeitsprüfung angewandt werden. In der Regel ist die Anordnung derzeit nur verhältnismäßig, wenn eine Gefahr schwerer
Gewalt-
oder Sexualstraftaten aus konkreten Umständen in der Person oder dem [X.] des Betroffenen abzuleiten ist. Der Kreis der Prognosetaten ist danach noch enger als nach dem Katalog tauglicher Anlasstaten für eine Maßregelan-ordnung nach §
66 Abs.
1 StGB n.F. (vgl. [X.], [X.] 2011, 401, 410). Nach der Rechtsprechung des [X.] gelten auch er-höhte Anforderungen sowohl an die Konkretheit der Rückfallprognose als auch an den Wert der gefährdeten Rechtsgüter (vgl. [X.], Beschluss vom 2.
August 2011 -
3 [X.]; Beschluss vom 4.
August 2011 -
3 [X.], [X.], 673
f.; Beschluss vom 13.
September 2011 -
5 [X.], [X.], 518). Im Hinblick auf die Eigenschaft der Maßregel als Sicherungsmittel ohne direk-ten Bezug zur [X.] kommt es hier nicht auf die gesetzliche Bezeichnung des Straftatbestands an, auch nicht auf das durch gesetzliche Strafrahmen vor-bewertete abstrakte Schuldgewicht, sondern auf die Bedeutung des zu schüt-zenden Rechtsguts, den Grad
der im Einzelfall in Frage kommenden Verlet-zungsintensität sowie den Grad der Wahrscheinlichkeit einer künftigen Rechts-gutsverletzung (vgl. Senat, Urteil vom 19.
Oktober 2011 -
2 StR
305/11, [X.], 213, 214). Das Tatgericht hat dazu alle im Einzelfall relevanten Umstände des konkreten Falles in einer Gesamtschau zu würdigen. Dies ist im angefoch-tenen Urteil nicht lückenlos geschehen.

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7
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Einerseits ist das Rechtsgut des Lebens, das auch von §
224 Abs.
1 Nr.
5 StGB geschützt wird, ein Schutzgut von höchstem Wert, das staatliche Schutzpflichten auslösen kann. Andererseits ist die Gefahr seiner künftigen [X.] durch den Angeklagten im vorliegenden Fall vom [X.] nicht un-ter Berücksichtigung aller Umstände, die dagegen sprechen könnten, geprüft worden.
Nach den Urteilsfeststellungen hat der Verurteilte in der Haft eine Brief-freundschaft mit einer Frau
entwickelt, der er seine [X.] offenbart hat. Ihr hat er auch geschrieben, dass er nie wieder in ungeschützter Weise Geschlechtsverkehr haben wolle. Dieser Aspekt wäre unter den besonderen Umständen des vorliegenden Falles in der Gesamtschau zu berücksichtigen gewesen.
Wenn
die
Gefahr bestünde, dass der Verurteilte künftig [X.] wählt, denen er die Erkrankung nicht offenbart und die er mit dem [X.] infiziert, so würde er deren Leben gefährden und -
mit Blick auf die Bedeutung des
geschützten Rechtsguts
-
schwer wiegende Straftaten im Sinne der Weiter-geltungsanordnung des [X.] zu den §§
66, 66a StGB begehen. [X.] aber die Gefahr der Übertragung des [X.] nicht mehr oder nur noch mit geringer Wahrscheinlichkeit, weil die Ansteckungsmöglichkeiten aus medizinischen Gründen einer Verringerung der [X.]last oder aus Gründen des Schutzes der Partnerinnen durch Verwendung eines Kondoms verringert würden, dann wäre auch die Gefahr künftiger Straftaten gegen das Leben so reduziert, dass die [X.] aufgrund der Weitergeltungsanordnung bezüglich der §§
66 Abs.
3, 66a Abs.
1 StGB a.F. bei besonders strenger Ver-hältnismäßigkeitsprüfung nicht mehr angemessen erscheinen könnte. Würde der Verurteilte seinen Sexualpartnerinnen die Erkrankung offenbaren und erst danach mit diesen einvernehmlich Geschlechtsverkehr mit einem Restrisiko der 9
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Ansteckung ausüben, so wäre bei eigenverantwortlicher Selbstgefährdung durch die Partnerinnen keine Strafbarkeit des Verhaltens gegeben. Die Äuße-rungen des Verurteilten gegenüber seiner Brieffreundin, der er die Aidserkran-kung offenbart und angekündigt hat, er werde Geschlechtsverkehr nur unter Verwendung eines
Kondoms ausüben, können deshalb bei der Prognosebe-weiswürdigung und Verhältnismäßigkeitsprüfung von Bedeutung sein.
Sie sind vom [X.] jedoch nicht erkennbar berücksichtigt worden. Daher bedarf es einer neuen Prognoseentscheidung.

[X.]

Fischer
Ri[X.] Dr. Berger befindet

sich im Urlaub und ist daher

gehindert zu unterschreiben.

[X.]

Krehl

Eschelbach

Meta

2 StR 355/11

15.03.2012

Bundesgerichtshof 2. Strafsenat

Sachgebiet: StR

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Entscheidung vom 15.03.2012, Az. 2 StR 355/11 (REWIS RS 2012, 8092)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2012, 8092

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