Bundesgerichtshof, Beschluss vom 17.09.2014, Az. 1 StR 387/14

1. Strafsenat | REWIS RS 2014, 2894

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Gegenstand

Entziehung Minderjähriger: Zwangsweise Entfernung eines Elternteils von seinem Kind; Tateinheit mit Nötigung


Leitsatz

1. Entziehung Minderjähriger liegt auch dann vor, wenn ein sorgeberechtigter Elternteil zwangsweise für eine gewisse Dauer von seinem unter achtzehnjährigen Kind entfernt wird.

2. Entziehung Minderjähriger und Nötigung können in Tateinheit stehen.

Tenor

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des [X.] vom 18. Februar 2014 im Schuldspruch dahin geändert, dass der Angeklagte in den [X.] und [X.] der Urteilsgründe der Vergewaltigung und der Entziehung Minderjähriger in Tateinheit mit Nötigung schuldig ist.

2. Die weitergehende Revision wird verworfen.

3. Der Beschwerdeführer hat die Kosten des Rechtsmittels und die der Nebenklägerin im Revisionsverfahren entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.

Gründe

1

Das [X.] hat den Angeklagten wegen Vergewaltigung in vier Fällen, wegen schweren sexuellen Missbrauchs widerstandsunfähiger Personen, wegen gefährlicher Körperverletzung in fünf Fällen, wegen Körperverletzung, wegen Entziehung Minderjähriger und wegen Nötigung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von acht Jahren verurteilt und eine Adhäsionsentscheidung getroffen. Gegen dieses Urteil richtet sich die Revision des Angeklagten, mit der er die Verletzung formellen und materiellen Rechts rügt.

2

Sein Rechtsmittel hat mit der Sachrüge den aus der [X.] ersichtlichen Erfolg (§ 349 Abs. 4 StPO). Im Übrigen ist es unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO; dies gilt auch, soweit der Angeklagte im Falle [X.] der Urteilsgründe neben der tatmehrheitlich begangenen Entziehung Minderjähriger auch wegen Vergewaltigung seiner Ehefrau verurteilt wurde.

3

Die im Falle [X.] der Urteilsgründe begangene Nötigung und die im Falle [X.] der Urteilsgründe (tatmehrheitlich zur Vergewaltigung) begangene Entziehung Minderjähriger stehen hier im Verhältnis der Tateinheit und nicht der Tatmehrheit, wie das [X.] angenommen hat.

4

1. Das [X.] hat insoweit folgende Feststellungen getroffen:

5

[X.] und seine Ehefrau haben zwei gemeinsame Kinder: die am 15. Dezember 2004 geborene M.    und den am 14. April 2006 geborenen [X.]. Nach jahrelangen Ehestreitigkeiten ließ der Angeklagte, der eine neue Lebensgefährtin hat, im Januar 2012 beim Familiengericht in [X.] eine Scheidungsschrift einreichen und beantragte die Übertragung der elterlichen Sorge für die beiden gemeinsamen Kinder auf seine Ehefrau.

6

Er fasste dann den Entschluss, sich seiner Ehefrau "gänzlich zu entledigen" ([X.]), indem er sie auf Dauer in die [X.] zu deren Familie zurückschickte, während er die beiden Kinder bei sich in [X.] behalten wollte.

7

Anfang 2012 eröffnete er seiner Ehefrau, dass er sie in die [X.] abschieben werde, die beiden Kinder aber bei sich behalten wolle. Als seine Frau erklärte, sie werde das nicht tun, drohte der Angeklagte ihr mit dem Tode, wenn sie nicht in die [X.] ginge. Die Geschädigte nahm die Drohung ernst und ließ sich vom Angeklagten gegen ihren Willen dazu zwingen, ein Flugzeug in die [X.] zu besteigen und ihre Kinder in [X.] zu lassen. Erst im Dezember 2012 kehrte sie mit Hilfe Dritter nach [X.] zurück.

8

2. Die Verurteilung wegen Entziehung Minderjähriger (§ 235 StGB) ist rechtlich nicht zu beanstanden.

9

[X.] hat eine Person (hier sogar zwei) unter achtzehn Jahren durch Drohung mit einem empfindlichen Übel einem Elternteil entzogen (§ 235 Abs. 1 Nr. 1 StGB).

Den Eltern "entzogen" ist der Minderjährige schon dann, wenn das Recht zur Erziehung, Beaufsichtigung und Aufenthaltsbestimmung durch räumliche Trennung für eine gewisse, nicht nur ganz vorübergehende Dauer so beeinträchtigt wird, dass es nicht ausgeübt werden kann (vgl. [X.], Urteil vom 7. März 1996 - 4 StR 35/96, [X.], 333, 334 mwN).

Eine Entziehung im Sinne dieser Vorschrift liegt nicht nur vor, wenn der Minderjährige unter den Voraussetzungen des § 235 Abs. 1 Nr. 1 StGB vom Elternteil entfernt wird, sondern auch, wenn der Elternteil unter diesen Voraussetzungen vom Minderjährigen entfernt und ferngehalten wird (vgl. hierzu auch [X.] in [X.]/[X.], StGB, 29. Aufl., § 235 Rn. 6; [X.]/[X.], 2. Aufl., § 235 Rn. 38; [X.]/[X.], 8. Aufl., § 235 Rn. 4; LK-StGB/[X.], 11. Aufl., § 235 Rn. 49 ff.). Denn das von § 235 StGB vorrangig geschützte Rechtsgut des Sorgerechts der für den jungen Menschen verantwortlichen Personen und das daraus abgeleitete Obhuts- und Aufenthaltsbestimmungsrecht (vgl. hierzu [X.], Urteil vom 11. Februar 1999 - 4 StR 594/98, [X.]St 44, 355, 357) sind auch verletzt, wenn ein Elternteil selbst räumlich entfernt wird und seine Rechte deshalb nicht wahrnehmen kann.

Dass der Angeklagte selbst ebenfalls sorgeberechtigt war (das Ergebnis seiner Anträge vor dem Familiengericht in [X.] ist den Urteilsgründen nicht zu entnehmen; ohnehin hätte die Ehefrau dann das alleinige Sorgerecht für beide Kinder), steht der Anwendung des § 235 StGB nicht entgegen. Grundsätzlich kann eine Kindesentziehung auch von einem Elternteil gegenüber dem anderen begangen werden, sofern jedem Elternteil das Personensorgerecht zumindest teilweise zusteht (vgl. u.a. [X.], Urteil vom 11. Februar 1999 - 4 StR 594/98, [X.]St 44, 355, 358). Die räumliche Trennung war im vorliegenden Fall auch nicht von nur ganz vorübergehender Dauer.

Die Staatsanwaltschaft hat das besondere öffentliche Interesse an der Strafverfolgung bejaht (§ 235 Abs. 7 StGB; [X.] 39).

3. Auch die Verurteilung wegen Nötigung (§ 240 StGB) weist keinen Rechtsfehler auf. [X.] hat durch Todesdrohung erzwungen, dass seine Ehefrau in die [X.] flog und längere Zeit nicht zurückkehrte.

4. Die Annahme von Tatmehrheit durch den Tatrichter zwischen Entziehung Minderjähriger und Nötigung begegnet jedoch rechtlichen Bedenken. Die Nötigung gemäß § 240 StGB ist die Drohung mit einem empfindlichen Übel im Rahmen des § 235 Abs. 1 Nr. 1 StGB. Es liegt Handlungseinheit im Sinne von § 52 Abs. 1 StGB vor, da eine Teilidentität der Ausführungshandlungen gegeben ist; denn sie werden durch eine einzige (fortwirkende) Nötigungshandlung begangen. Auch wenn die Todesdrohung einige Tage vor dem Abflug ausgesprochen worden war, wirkte sie dahingehend fort, dass die Geschädigte das Flugzeug bestieg und längere Zeit in der [X.] verblieb.

5. Im vorliegenden Fall tritt die Nötigung auch nicht hinter der Entziehung Minderjähriger zurück, sondern steht in Tateinheit. [X.] sich der [X.] in der Kindesentziehung, so tritt allerdings nach verbreiteter Meinung § 240 StGB hinter § 235 StGB zurück (vgl. u.a. LK-StGB/[X.], § 235 Rn. 135; [X.]/[X.], § 235 Rn. 105; SSW-StGB/Schluckebier, 2. Aufl., § 235 Rn. 18; [X.]/[X.], § 235 Rn. 21; grds. für [X.] [X.]/Kühl, StGB, 8. Aufl., § 235 Rn. 10).

Hier geht der [X.] aber über die Kindesentziehung hinaus, da der Angeklagte insbesondere auch das Ziel verfolgte, sich seiner Ehefrau durch deren zwangsweise Entfernung "gänzlich zu entledigen". Er wollte also insoweit nicht nur eine räumliche Trennung von gewisser Dauer, die bei § 235 StGB unter Umständen einige Stunden betragen kann (vgl. u.a. [X.]St 10, 376 ff.). Jedenfalls wenn der angestrebte [X.] über die Tatbestandserfüllung der Kindesentziehung hinausreicht, ist von Tateinheit auszugehen (vgl. [X.]/[X.], aaO; SSW-StGB/Schluckebier, aaO; [X.]/[X.], aaO; LK-StGB/[X.], aaO; für grundsätzliche Tateinheit Fischer, StGB, 61. Aufl., § 235 Rn. 22; [X.], aaO, § 235 Rn. 26).

6. Die unzutreffende Beurteilung des [X.] der vom Angeklagten in den Fällen [X.] und [X.] der Urteilsgründe begangenen Taten hat die Änderung des Schuldspruchs durch den Senat zur Folge. § 265 StPO steht nicht entgegen. Der Senat schließt aus, dass der Angeklagte sich nach einem entsprechenden Hinweis anders, insbesondere erfolgreicher als geschehen, hätte verteidigen können. Infolge der Änderung des Schuldspruchs entfällt die vom [X.] wegen Nötigung verhängte [X.] von sechs Monaten Freiheitsstrafe, es verbleibt insoweit die [X.] von einem Jahr Freiheitsstrafe wegen Entziehung Minderjähriger.

Die Gesamtstrafe bleibt von der Änderung des Schuldspruchs und dem Entfallen der [X.] von sechs Monaten unberührt.

Angesichts der Einsatzstrafe von vier Jahren und sechs Monaten und der verbleibenden weiteren [X.] von drei Jahren neun Monaten, drei Jahren drei Monaten, zwei Jahren neun Monaten, zwei Jahren sechs Monaten, dreimal einem Jahr, neun Monaten, acht Monaten und sechs Monaten kann sicher ausgeschlossen werden, dass das [X.] auf eine geringere Gesamtstrafe erkannt hätte. Am Unrechtsgehalt des Geschehens hat sich durch die geänderte Würdigung des [X.] nichts geändert.

Der nur geringfügige Erfolg der Revision macht es nicht unbillig, den Angeklagten mit den gesamten Kosten seines Rechtsmittels zu belasten (§ 473 Abs. 1 und 4 StPO).

Raum                        Rothfuß                        Jäger

           [X.]

Meta

1 StR 387/14

17.09.2014

Bundesgerichtshof 1. Strafsenat

Beschluss

Sachgebiet: StR

vorgehend LG Mannheim, 18. Februar 2014, Az: 4 KLs 303 Js 34315/12

§ 52 Abs 1 StGB, § 235 Abs 1 Nr 1 StGB, § 240 Abs 1 StGB

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Beschluss vom 17.09.2014, Az. 1 StR 387/14 (REWIS RS 2014, 2894)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2014, 2894

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