Bundesgerichtshof, Beschluss vom 30.06.2022, Az. 1 StR 176/22

1. Strafsenat | REWIS RS 2022, 8634

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Gegenstand

Sicherungsverwahrung: Unterbringungsvorbehalt neben lebenslanger Freiheitsstrafe


Tenor

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des [X.] vom 16. Februar 2022 im Ausspruch über die vorbehaltene Sicherungsverwahrung mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben.

2. Die weitergehende Revision wird als unbegründet verworfen.

3. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere als Schwurgericht zuständige Strafkammer des [X.] zurückverwiesen.

Gründe

1

Das [X.] hat den Angeklagten wegen Mordes zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt und seine Unterbringung in der Sicherungsverwahrung vorbehalten. Die hiergegen gerichtete, auf die Rüge einer Verletzung materiellen Rechts gestützte Revision des Angeklagten führt zur Aufhebung der [X.] und bleibt im Übrigen ohne Erfolg.

2

1. Die auf die Sachrüge veranlasste Überprüfung des Urteils hat zum Schuld- und Strafausspruch keinen Rechtsfehler ergeben.

3

2. Dagegen hat der Ausspruch über die vorbehaltene Sicherungsverwahrung keinen Bestand, weil die Urteilsgründe nicht erkennen lassen, dass sich die Strafkammer des ihr durch § 66a Abs. 2 StGB eröffneten Ermessens bewusst gewesen ist; dass sie ihr Ermessen ausgeübt hat, ist aus den Urteilsgründen nicht zu erkennen.

4

a) Gegen die Anordnung eines Vorbehalts der Sicherungsverwahrung (§ 66a Abs. 2 StGB) neben der Verhängung lebenslanger Freiheitsstrafe bestehen keine grundsätzlichen Bedenken ([X.], Beschluss vom 20. November 2018 – 4 [X.], [X.]St 63, 243, 245 Rn. 7 ff. [X.]). Die auf § 66a Abs. 2 StGB gestützte Anordnung, deren formelle Voraussetzungen das [X.] rechtsfehlerfrei bejaht hat, liegt dabei im pflichtgemäßen Ermessen des Tatgerichts (vgl. [X.], Beschlüsse vom 20. November 2018 – 4 [X.], [X.]St 63, 243, 245 Rn. 25 und vom 11. März 2015 – 1 StR 3/15 Rn. 3). Die Urteilsgründe müssen stets erkennen lassen, dass das Tatgericht sein Ermessen ausgeübt hat und welche Erwägungen dabei leitend waren (vgl. [X.], Beschlüsse vom 20. November 2018 – 4 [X.], [X.]St 63, 243, 251 Rn. 25 [X.]; vom 16. August 2018 – 4 StR 200/18 Rn. 24 und vom 19. Juli 2017 – 4 StR 245/17 Rn. 9).

In Fällen, in denen – wie hier – vorbehaltene Sicherungsverwahrung neben lebenslanger Freiheitsstrafe angeordnet wird, muss das Tatgericht dem Ausnahmecharakter der Vorschrift in besonderer Weise gerecht werden und tragfähig begründen, dass und warum die kumulative Anordnung der Maßregel auch im konkreten Einzelfall dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entspricht (vgl. [X.], Beschluss vom 20. November 2018 – 4 [X.], [X.]St 63, 243, 251 Rn. 26 [X.]; vgl. zur unbedingten Sicherungsverwahrung auch Urteil vom 28. Juni 2017 – 5 StR 8/17 Rn. 19). In die erforderliche Gesamtabwägung aller für und gegen die [X.] sprechenden Umstände müssen dabei erkennbar auch diejenigen Gesichtspunkte eingestellt werden, die gegen die [X.] sprechen können ([X.], Beschluss vom 20. November 2018 – 4 [X.], [X.]St 63, 243, 251 Rn. 27 [X.]).

5

Im Rahmen der Ermessensentscheidung, ob die Anordnung vorbehaltener Sicherungsverwahrung neben lebenslanger Freiheitsstrafe im Einzelfall veranlasst ist, muss insbesondere berücksichtigt werden, dass eine solche Anordnung – ebenso wie in Fällen unbedingter Anordnung von Sicherungsverwahrung neben lebenslanger Freiheitsstrafe – für den Betroffenen belastende, aber auch begünstigende Auswirkungen hat; diese sind im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung in den Blick zu nehmen und gegeneinander abzuwägen (vgl. [X.], Beschluss vom 20. November 2018 – 4 [X.], [X.]St 63, 243, 252 Rn. 28 f. [X.]).

6

Darüber hinaus ist zu prüfen und zu bewerten, ob und gegebenenfalls wie sich der Umstand, dass dem Angeklagten im Nachverfahren die Anordnung von Sicherungsverwahrung droht, auf seine Bereitschaft auswirkt, im Rahmen des Strafvollzugs an seiner Resozialisierung mitzuwirken (vgl. [X.], Beschluss vom 20. November 2018 – 4 [X.], [X.]St 63, 243, 252 Rn. 30 [X.]).

7

b) Diesen Anforderungen genügt das angefochtene Urteil nicht. Den Urteilsgründen ist auch nach ihrem Gesamtzusammenhang nicht zu entnehmen, dass sich das [X.] überhaupt des Umstands bewusst gewesen ist, mit der Anordnung der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung eine Ermessensentscheidung zu treffen. Neben den – ohnedies sehr knappen und teilweise auch zu allgemein gehaltenen – Ausführungen zu den gesetzlichen Voraussetzungen der [X.] fehlt es an jeglicher Abwägung und Begründung, aus welchen Gründen die Strafkammer sich unter Ausübung des ihr eröffneten Ermessens zur Anordnung der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung veranlasst gesehen hat.

Jäger     

      

Fischer     

      

Hohoff

      

Leplow     

      

Pernice     

      

Meta

1 StR 176/22

30.06.2022

Bundesgerichtshof 1. Strafsenat

Beschluss

Sachgebiet: StR

vorgehend LG Ulm, 16. Februar 2022, Az: 3 Ks 31 Js 13141/21

§ 66 Abs 1 S 1 Nr 4 StGB, § 66a Abs 1 Nr 3 StGB, § 66a Abs 2 StGB, § 261 StPO, § 267 StPO

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Beschluss vom 30.06.2022, Az. 1 StR 176/22 (REWIS RS 2022, 8634)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2022, 8634

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Referenzen
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Zitiert

4 StR 168/18

1 StR 3/15

4 StR 200/18

4 StR 245/17

5 StR 8/17

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