Bundesgerichtshof, Beschluss vom 10.04.2024, Az. IV ZR 131/23

4. Zivilsenat | REWIS RS 2024, 2098

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Tenor

Auf die Beschwerde des [X.] wird die Revision gegen das Urteil des [X.] - 8. Zivilsenat - vom 5. Juni 2023 zugelassen.

Das vorbezeichnete Urteil wird gemäß § 544 Abs. 9 ZPO aufgehoben und der Rechtsstreit zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Der Streitwert für das Revisionsverfahren wird auf bis 155.000 € festgesetzt.

Gründe

1

I. Der Kläger unterhält bei der Beklagten eine Mitte der 1980er-Jahre mit deren Rechtsvorgängerin abgeschlossene [X.], welcher "Bedingungen für die [X.] nach dem Tarif [X.]" zugrunde liegen.

2

Er macht geltend, nach einem am 20. Juli 2016 während seiner Tätigkeit als sogenannter "Filierer" in der [X.] erlittenen Arbeitsunfall aufgrund von multiplen Beschwerden, insbesondere im Bereich der rechten oberen Extremität, einer Schmerzsymptomatik sowie eines psychovegetativen Erschöpfungssyndroms und einer psychischen Überlagerung in Form einer ängstlichen depressiven Symptomatik bedingungsgemäß berufsunfähig zu sein. Von ihm im Juli 2017 beantragte Versicherungsleistungen verweigert die Beklagte.

3

Das [X.] hat die auf Zahlung rückständiger Renten und Erstattung überzahlter Beiträge nebst Zinsen und auf Zahlung künftiger Renten und Beiträge gerichtete Klage des [X.] abgewiesen. Die hiergegen gerichtete Berufung ist erfolglos geblieben. Mit seiner Beschwerde wendet sich der Kläger gegen die Nichtzulassung der Revision im Berufungsurteil.

4

II. Die Beschwerde hat Erfolg. Sie führt gemäß § 544 Abs. 9 ZPO zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht.

5

1. Dieses hat nach Einholung eines orthopädischen Sachverständigengutachtens angenommen, dem Kläger sei der Beweis nicht gelungen, dass er aus gesundheitlichen Gründen zu mindestens 50 % gehindert sei, seine zuletzt in gesunden Tagen ausgeübte berufliche Tätigkeit oder eine andere gleichwertige Verweisungstätigkeit auszuüben. Die Sachverständige habe in ihrem schriftlichen Gutachten ausführlich dargelegt, dass der Kläger - unter Beachtung einer vertraglich vereinbarten Ausschlussklausel zu [X.] - in der Gesamttätigkeit deutlich zu weniger als 50 % beeinträchtigt sei und demnach ein Restleistungsvermögen von mehr als 50 % in seiner zuletzt ausgeübten Tätigkeit aufweise. Auch einen ununterbrochenen Sechsmonatszeitraum, in welchem beim Kläger eine bedingungsgemäße Berufsunfähigkeit von mindestens 50 % vorgelegen habe, habe die Sachverständige nicht feststellen können. Die hierzu schriftlich gehörten Parteien hätten keine entscheidungserheblichen inhaltlichen Bedenken gegen das Gutachten vorgebracht, die eine weitere Sachaufklärung geboten hätten.

6

2. Das verletzt den Kläger in entscheidungserheblicher Weise in seinem Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG). Die Beschwerde rügt mit Recht, das Berufungsgericht habe insoweit eine überraschende Entscheidung getroffen, indem es die Berufung des [X.] unter alleinigem Verweis auf das Ergebnis der orthopädischen Begutachtung zurückgewiesen habe.

7

a) Das Gebot des rechtlichen Gehörs verpflichtet das Gericht, die Ausführungen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen (Senatsbeschluss vom 13. Dezember 2023 - [X.], NJW-RR 2024, 309 Rn. 11 m.w.N.). Es soll als Prozessgrundrecht sicherstellen, dass die Entscheidung frei von Verfahrensfehlern ergeht, welche ihren Grund in unterlassener Kenntnisnahme und Nichtberücksichtigung des Sachvortrags der Parteien haben ([X.], Beschluss vom 14. November 2023 - [X.], [X.], 437 Rn. 11). Damit in engem Zusammenhang steht das ebenfalls aus Art. 103 Abs. 1 GG folgende Verbot von Überraschungsentscheidungen. Eine unzulässige Überraschungsentscheidung ist anzunehmen, wenn das Gericht einen Sachverhalt oder ein Vorbringen in einer Weise würdigt, mit der ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter nach dem vorherigen [X.] nicht rechnen konnte (st. Rspr.; vgl. Senatsbeschluss vom 19. April 2023 - [X.], r+s 2023, 446 Rn. 11; [X.], Beschlüsse vom 27. Oktober 2022 - [X.], [X.], 421 Rn. 16; vom 12. Mai 2020 - [X.], NJW 2020, 2730 Rn. 13; [X.] FamRZ 2022, 1954 Rn. 23; jeweils m.w.N.).

8

b) Das hat das Berufungsgericht nicht beachtet.

9

aa) Wie die Beschwerde zu Recht beanstandet, hat der Kläger bereits in erster Instanz unter Verweis auf entsprechende Arztberichte vorgetragen, auch unter einem psychovegetativen Erschöpfungssyndrom sowie einer ängstlichen depressiven Symptomatik zu leiden, die zu einer psychischen Überlagerung der Symptomatik geführt habe. Im Rahmen des Berufungsverfahrens hat er zudem das in einem sozialgerichtlichen Verfahren eingeholte Gutachten vorgelegt, in dem der Gutachter eine von ihm angenommene Erwerbsunfähigkeit des [X.] auch mit dem Vorliegen einer - aktuell schwergradigen - chronifizierten Depression und einer chronischen Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren begründet hat. In einem daraufhin durch das Berufungsgericht erteilten rechtlichen Hinweis vom 18. März 2022 hat dieses bemängelt, dass sich das erstinstanzliche Urteil und die ihm zugrunde liegende Beweiserhebung zu diesem Bereich einer gesundheitlichen Beeinträchtigung auf neurologisch-psychiatrischem Gebiet nicht verhalte, die Beweisaufnahme des [X.]s deshalb den schlüssigen Sachvortrag des beweispflichtigen [X.] nicht erschöpfe und die Einholung weiterer Sachverständigengutachten unumgänglich erscheine. In einem weiteren rechtlichen Hinweis vom 21. April 2022 hat das Berufungsgericht den Kläger zur Substantiierung seines Sachvortrags zu dem "Komplex einer psychischen Komponente der geltend gemachten Berufsunfähigkeit" aufgefordert. Dem ist der Kläger unter Vorlage von Behandlungsberichten nachgekommen.

Rechtliche Hinweise hierzu hat das Berufungsgericht im Weiteren nicht erteilt. Stattdessen hat es nach Einholung eines Gutachtens, in dem die Sachverständige eine Berufsunfähigkeit des [X.] - nur - auf orthopädischem Gebiet verneint hat, dessen Berufung allein gestützt auf diese Bewertungen zurückgewiesen. Mit dem Vorbringen des [X.] zu seinen gesundheitlichen Beeinträchtigungen auf neurologisch-psychiatrischem Gebiet, das sich auch in den von ihm vorgelegten ärztlichen Unterlagen wiederfindet, und seiner Behauptung - auch - daraus resultierender bedingungsgemäßer Berufsunfähigkeit hat sich das Berufungsgericht dagegen nicht auseinandergesetzt. Hierdurch hat es dem Kläger zudem die Möglichkeit genommen, daran zu erinnern, dass auch die Sachverständige eine "Heilentgleisung mit chronifiziertem Schmerzsyndrom mit somatischen und psychischen Faktoren und Depression" als naheliegend angesehen und - auch im Hinblick auf die ihr vorliegenden ärztlichen Unterlagen - eine psychiatrische bzw. psychosomatische Begutachtung angeregt hat.

bb) Die Gehörsverletzung scheidet nicht deshalb aus, weil sich - wie die Beschwerdeerwiderung einwendet - dem auf den zweiten Hinweis des Berufungsgerichts gehaltenen Vortrag des [X.] nicht habe entnehmen lassen, wie sich die behaupteten psychischen Defizite äußerten, insbesondere wie sie sich auf seine Fähigkeit zur Ausübung des Berufes auswirkten, und ob ein Zusammenhang mit den behaupteten orthopädischen Beschwerden bestehe. Sofern das Berufungsgericht Schlüssigkeitsbedenken nicht als ausgeräumt ansah, musste es zur Vermeidung einer unzulässigen Überraschungsentscheidung den Kläger unmissverständlich darauf hinweisen und ihm Gelegenheit zum weiteren Vortrag geben (vgl. [X.], Urteil vom 5. November 2003 - [X.], NJW-RR 2004, 281 [juris Rn. 18] m.w.N.). Gemessen daran war der nach Vorlage des orthopädischen Gutachtens erfolgte pauschale Hinweis des Berufungsgerichts, es halte die Streitsache für entscheidungsreif, nicht ausreichend, zumal das Berufungsgericht in seinem ersten Hinweis vom 18. März 2022 noch ausgeführt hatte, die Einholung weiterer Sachverständigengutachten erscheine "unumgänglich". Dass beide Parteien daraufhin ihre Zustimmung zu einer Entscheidung im schriftlichen Verfahren erklärt haben, ist - entgegen der Ansicht der Beschwerdeerwiderung - schon deshalb unerheblich, weil der Kläger mangels eines unmissverständlichen Hinweises des Berufungsgerichts auf etwaig weiter bestehende Schlüssigkeitsbedenken nicht von der Notwendigkeit weiteren Vortrags ausgehen musste.

cc) Einem durchgreifenden Gehörsverstoß steht schließlich nicht der Grundsatz der materiellen Subsidiarität (vgl. dazu [X.], Beschluss vom 28. September 2021 - [X.], [X.], 399 Rn. 12 m.w.N.) entgegen. Der von der Beschwerdeerwiderung insoweit angeführte Hinweis des Berufungsgerichts, dass es die Streitsache als entscheidungsreif ansehe, gab dem Kläger - wie ausgeführt - keine Veranlassung, das Berufungsgericht erneut auf das Fehlen einer psychiatrischen bzw. psychosomatischen Begutachtung hinzuweisen.

c) Das Berufungsurteil beruht auf dem dargestellten Gehörsverstoß, weil nicht ausgeschlossen werden kann, dass das Gericht bei [X.] Vorgehen anders entschieden hätte (vgl. Senatsbeschluss vom 13. Dezember 2023 - [X.], [X.], 125 Rn. 20 m.w.N.). Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass das Berufungsgericht, wenn es den Inhalt des [X.] vollständig ausgeschöpft hätte, zu einem für den Kläger günstigeren Ergebnis gelangt wäre.

Prof. Dr. Karczewski     

      

Dr. Brockmöller     

      

Dr. Bußmann

      

Dr. Götz     

      

[X.]     

      

Meta

IV ZR 131/23

10.04.2024

Bundesgerichtshof 4. Zivilsenat

Beschluss

Sachgebiet: ZR

vorgehend OLG Nürnberg, 5. Juni 2023, Az: 8 U 3001/21

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Beschluss vom 10.04.2024, Az. IV ZR 131/23 (REWIS RS 2024, 2098)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2024, 2098

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