Bundesgerichtshof, Beschluss vom 22.06.2017, Az. V ZB 21/17

5. Zivilsenat | REWIS RS 2017, 9204

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Gegenstand

Abschiebungshaftsache: Haftgrund bei Vereitelung einer konkreten Abschiebungsmaßnahme


Leitsatz

Der Haftgrund des § 62 Abs. 3 Satz 1 Nr. 4 AufenthG setzt ein Verhalten des Betroffenen voraus, mit dem er eine konkrete, auf seine Abschiebung aus dem Bundesgebiet gerichtete Maßnahme der deutschen Behörden vereitelt hat.

Tenor

Auf die Rechtsbeschwerde wird der Beschluss der 11. Zivilkammer des [X.] vom 20. Dezember 2016 aufgehoben und festgestellt, dass die Anordnung der Haft in dem Beschluss des [X.] vom 11. August 2016 den Betroffenen in seinen Rechten verletzt hat.

Gerichtskosten werden in allen Instanzen nicht erhoben. Die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Auslagen des Betroffenen in allen Instanzen werden dem [X.] auferlegt.

Der Gegenstandswert des [X.] beträgt 5.000 €.

Gründe

I.

1

Der Betroffene ist [X.] Staatsangehöriger. Das [X.] lehnte seinen Asylantrag mit Bescheid vom 5. Mai 2015 als offensichtlich unbegründet ab und forderte ihn auf, die [X.] binnen einer Woche zu verlassen. In der Folgezeit begab sich der Betroffene in die [X.] und stellte dort einen Asylantrag. Am 11. August 2016 wurde er nach [X.] rücküberstellt. Mit Beschluss vom gleichen Tag hat das Amtsgericht Haft zur Sicherung der Abschiebung bis längstens 21. September 2016 angeordnet. Am 16. September 2016 ist der Betroffene nach [X.] abgeschoben worden. Das [X.] hat die auf Feststellung der Rechtswidrigkeit der Haftanordnung gerichtete Beschwerde des Betroffenen zurückgewiesen. Mit der Rechtsbeschwerde verfolgt er seinen Antrag weiter. Die beteiligte Behörde beantragt, die Rechtsbeschwerde zurückzuweisen.

II.

2

Nach Ansicht des [X.] dürften zwar die von dem Amtsgericht angenommenen Haftgründe nicht vorliegen. Die Haft könne aber auf § 62 Abs. 3 Satz 1 Nr. 5 i.V.m. § 2 Abs. 14 Nr. 2 und Nr. 5 [X.] gestützt werden. Der Betroffene habe bei seiner Anhörung vor dem Amtsgericht erklärt, er habe seinen Nachnamen bei Stellung seines Asylantrages bewusst falsch angegeben.

III.

3

Die zulässige Rechtsbeschwerde ist begründet.

4

1. Die von dem Amtsgericht angenommenen Haftgründe des § 62 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 und Nr. 4 [X.] liegen - wie das Beschwerdegericht zutreffend annimmt - nicht vor.

5

a) Der Haftgrund des nicht angezeigten Aufenthaltswechsels nach § 62 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 [X.] setzt voraus, dass der erforderliche Hinweis auf die Folge einer Verletzung der Pflichten nach § 50 Abs. 4 [X.] einem Betroffenen, der [X.] nicht beherrscht, in seine Muttersprache oder eine andere Sprache übersetzt wird, die er beherrscht (Senat, Beschluss vom 14. Januar 2016 - [X.], [X.] 2016, 87 Rn. 9). Nach den Feststellungen des [X.] ist dies hier nicht geschehen.

6

b) Auch die Voraussetzungen des § 62 Abs. 3 Satz 1 Nr. 4 [X.], dass sich der Ausländer in sonstiger Weise der Abschiebung entzogen hat, liegen nicht vor. Dieser Haftgrund setzt ein Verhalten des Betroffenen voraus, mit dem er eine konkrete, auf seine Abschiebung gerichtete Maßnahme der Behörde vereitelt hat (vgl. [X.], Beschluss vom 13. April 2017, 3 [X.], juris Rn. 7 ff.; [X.], Beschluss vom 22. Februar 2016, 5 [X.]/16, juris, Rn. 11). Das folgt aus dem Wortlaut und der Systematik der Norm, die - anders als bei dem Haftgrund der Fluchtgefahr nach § 62 Abs. 3 Satz 1 Nr. 5 [X.], der die Formulierung „entziehen will“ verwendet - darauf abstellt, dass sich der Ausländer der Abschiebung „entzogen hat“. Die Verwendung der Vergangenheitsform macht deutlich, dass das Verhalten des Betroffenen einen Bezug zu einer konkreten Abschiebungsmaßnahme aufweisen muss.

7

Daran fehlt es hier. Nach den Feststellungen des [X.] gab es keine Abschiebungsmaßnahmen der beteiligten Behörde, denen sich der Betroffene in der Vergangenheit entzogen hat. Unerheblich ist, ob er sich in den [X.]n einem Rücküberstellungsversuch nach [X.] entzogen hat; denn dies erfüllt nicht den Haftgrund nach § 62 Abs. 3 Satz 1 Nr. 4 [X.], da die Vorschrift nur Abschiebungsversuche [X.] Behörden aus dem Bundesgebiet erfasst.

8

2. Ob das Verhalten des Betroffenen - wie das Beschwerdegericht annimmt - den Haftgrund der Fluchtgefahr nach § 62 Abs. 3 Satz 1 Nr. 5 i.V.m. § 2 Abs. 14 Nr. 2 und Nr. 5 [X.] erfüllt, kann dahinstehen. Denn das Beschwerdegericht durfte seine Entscheidung nicht auf einen neuen Haftgrund stützen, ohne den Betroffenen hierzu persönlich anzuhören (Senat, Beschluss vom 16. Februar 2017 - [X.] Rn. 9; Beschluss vom 7. Juli 2016 - [X.], [X.] 2016, 278 Rn. 6).

9

Eine Anhörung durch das Beschwerdegericht war nicht deshalb entbehrlich, weil das Amtsgericht zur Begründung der Haftanordnung unter anderem ausgeführt hat, dass der Betroffene eingeräumt habe, gegenüber den Ausländerbehörden falsche Personalien angegeben zu haben, um einer Abschiebung zu entgehen. Entgegen der Ansicht des [X.] hat das Amtsgericht dies für sich genommen nicht als ausreichende Grundlage für die Haftanordnung angesehen. Vielmehr handelte es sich lediglich um ein seine Argumentation, dass das Verhalten des Betroffenen die Voraussetzungen des § 62 Abs. 3 Satz 1 Nr. 4 [X.] erfülle, verstärkendes Argument. Dass es darin zugleich ein die Fluchtgefahr begründendes Verhalten des Betroffenen sah, lässt sich dem Beschluss des Amtsgerichts nicht entnehmen. Indem das Beschwerdegericht allein auf die Äußerung des Betroffenen zu den falschen Personalien abstellt und darin - abweichend von dem Amtsgericht - den Haftgrund der Fluchtgefahr nach § 62 Abs. 3 Satz 1 Nr. 5 i.V.m. § 2 Abs. 14 Nr. 2 und Nr. 5 [X.] sieht, misst es den Angaben des Betroffenen ein völlig anderes Gewicht als das Amtsgericht bei; deshalb hätte es den Betroffenen vor der beabsichtigten Auswechselung des [X.] erneut anhören müssen.

3. Eine Zurückverweisung an das Beschwerdegericht kommt nicht in Betracht, da die Anhörung des Betroffenen angesichts der erfolgten Abschiebung nicht mehr möglich ist.

IV.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 81 Abs. 1, § 83 Abs. 2, § 430 FamFG, Art. 5 [X.]. Der Gegenstandswert bestimmt sich nach § 36 Abs. 3 GNotKG.

[X.]     

      

Weinland     

      

Kazele

      

Göbel     

      

Hamdorf     

      

Meta

V ZB 21/17

22.06.2017

Bundesgerichtshof 5. Zivilsenat

Beschluss

Sachgebiet: ZB

vorgehend LG Osnabrück, 20. Dezember 2016, Az: 11 T 576/16

§ 62 Abs 3 S 1 Nr 4 AufenthG

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Beschluss vom 22.06.2017, Az. V ZB 21/17 (REWIS RS 2017, 9204)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2017, 9204

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