Bundesgerichtshof, Beschluss vom 25.04.2023, Az. 4 StR 462/22

4. Strafsenat | REWIS RS 2023, 2870

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Gegenstand

Beweiswürdigungsanforderungen in besonderen Beweissituationen


Tenor

Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des [X.] vom 9. Juni 2022 mit den Feststellungen aufgehoben, soweit der Angeklagte in den Fällen [X.] bis 580. der Urteilsgründe verurteilt worden ist.

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels und die der Nebenklägerin dadurch entstandenen notwendigen Auslagen, an eine andere Strafkammer des [X.] zurückverwiesen.

Die weiter gehende Revision wird verworfen.

Gründe

1

Das [X.] hat den Angeklagten wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in sechs Fällen und sexuellen Missbrauchs von Kindern in 574 Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von elf Jahren und sechs Monaten verurteilt. Die hiergegen gerichtete, auf die Rüge der Verletzung formellen und materiellen Rechts gestützte Revision des Angeklagten erzielt den aus der [X.] ersichtlichen Teilerfolg und ist im Übrigen unbegründet im Sinne von § 349 Abs. 2 StPO.

2

1. Das [X.] hat – soweit hier von Bedeutung – die folgenden Feststellungen und Wertungen getroffen:

3

a) An zwölf nicht näher festgestellten Tagen in den Jahren 2017 und 2018 veranlasste der Angeklagte die am 27. April 2008 geborene [X.], mit der und deren Mutter er seinerzeit zusammenlebte, ihn mit der Hand zu befriedigen. Die Geschädigte musste dabei [X.]eils von unten in die Boxershorts des im Übrigen unbekleideten, in Bauchlage auf einem Bett liegenden Angeklagten greifen und seinen Penis bis zum Samenerguss „massieren“. In 553 weiteren Fällen berührte der Angeklagte zu nicht näher festgestellten Zeitpunkten zwischen dem 27. April 2015 und dem 26. August 2021 die Geschädigte [X.]„in sexuell bestimmter Weise“ unter ihrer Kleidung entweder an ihrem Gesäß, ihren Brüsten oder ihrer Scheide.

4

b) Der Angeklagte hat zu den Tatvorwürfen geschwiegen. Das [X.] hat seine Überzeugung maßgeblich auf die Angaben der Geschädigten [X.]in einer polizeilichen Vernehmung vom 30. August 2021 gestützt, welche es durch die Zeugenaussage der [X.] in die Hauptverhandlung eingeführt hat. Nach deren Angaben hatte die Geschädigte in jener Vernehmung den Angeklagten entsprechend den Feststellungen belastet. Das Tatgeschehen habe mit dem „Anfassen“ begonnen, als sie sieben oder acht Jahre alt gewesen sei. Der Angeklagte habe sie sowohl ober- als auch unterhalb ihrer Kleidung an den festgestellten Körperstellen berührt, wozu es bei unterschiedlichen Gelegenheiten an fast jedem Tag außer an Tagen, an denen sie „ihre Periode“ gehabt habe, gekommen sei. Die [X.] hätten – in der festgestellten Weise – immer im Bett des Angeklagten und der Mutter der Geschädigten stattgefunden, wohin der Angeklagte sie zu diesem Zweck gerufen habe. Zudem sei der Angeklagte mehrfach gegen ihre Mutter und ihren Halbbruder gewalttätig geworden.

5

In einer weiteren Vernehmung durch die Polizei sowie in der Hauptverhandlung bei dem [X.] gab [X.]dann an, dass sie am 30. August 2021 bei der Polizei die Unwahrheit gesagt habe. Die ihre Person betreffenden Tatvorwürfe gegen den Angeklagten träfen nicht zu; gewalttätig sei der Angeklagte allerdings gewesen, auch gegen sie. In der Hauptverhandlung sagte [X.]aus, dass es weder die sexuellen Übergriffe noch die Gewalttätigkeiten des Angeklagten gegeben habe. Sie habe den Angeklagten wahrheitswidrig belastet, weil er immer so streng zu ihr gewesen sei.

6

2. Die Beweiswürdigung des [X.]s betreffend die Taten zum Nachteil der [X.]hält der revisionsrechtlichen Nachprüfung nicht stand.

7

a) Allerdings ist die Beweiswürdigung Sache des Tatgerichts, dem es allein obliegt, das Ergebnis der Hauptverhandlung festzustellen und zu würdigen. Seine Schlussfolgerungen brauchen nicht zwingend zu sein, es genügt, dass sie möglich sind. Die revisionsgerichtliche Prüfung ist darauf beschränkt, ob dem Tatgericht Rechtsfehler unterlaufen sind. Dies ist in sachlich-rechtlicher Hinsicht der Fall, wenn die Beweiswürdigung widersprüchlich, unklar oder lückenhaft ist oder gegen die Denkgesetze oder gesicherte Erfahrungssätze verstößt (st. Rspr.; vgl. nur [X.], Urteil vom 26. Januar 2023 – 3 [X.] Rn. 16; Beschluss vom 29. Januar 2020 – 4 [X.] Rn. 7, [X.]. [X.]).

8

Besondere Beweissituationen, wozu namentlich die Konstellationen gehören, in denen „Aussage gegen Aussage“ steht oder das Tatgericht sich auf die Angaben eines [X.] stützt, stellen dabei erhöhte Anforderungen an die Beweiswürdigung ([X.], Beschluss vom 24. Februar 2021 – 1 StR 489/20 Rn. 11 ff. [X.]) und ihre Darlegung in den schriftlichen Urteilsgründen (vgl. [X.], Beschluss vom 16. März 2022 ‒ 4 StR 30/22 Rn. 6 [X.]).

9

b) Diesen Anforderungen, die hier aus mehrfachem Grund zu beachten waren, weil sich das [X.] bei Schweigen des Angeklagten auf die durch die [X.] eingeführten Angaben der Zeugin [X.]gestützt hat, welche diese selbst später als unwahr bezeichnet hatte, wird das Urteil nicht gerecht. Zwar hat das [X.] ausdrücklich nicht verkannt, dass es eine Situation zu beurteilen hatte, in der die „hohen Anforderungen einer Aussage-gegen-Aussage-Konstellation“ zu beachten waren, und es war auch nicht grundsätzlich gehindert, der Aussage der Zeugin in ihrer ersten polizeilichen Vernehmung Glauben zu schenken und die spätere Rücknahme dieser Angaben durch die Zeugin für unwahr zu halten.

Die Ausführungen, mit denen das [X.] diese Überzeugung begründet hat, bleiben jedoch unklar und sind daher rechtsfehlerhaft im oben bezeichneten Sinn. Das Urteil gibt den von der [X.] bekundeten Inhalt der den Angeklagten belastenden ersten Aussage der Zeugin bei der Polizei nicht – wie geboten – in einer Weise wieder, die es dem [X.] ermöglichen würde, die Glaubhaftigkeitsbeurteilung der [X.] nachzuvollziehen. Für maßgeblich hat das [X.] unter anderem gehalten, dass die Aussage der [X.]einen – angesichts der Vielzahl gleichförmiger Taten innerhalb eines mehrjährigen Tatzeitraums – relativ hohen Detaillierungsgrad aufgewiesen habe. Die Bekundungen der Zeugin seien sehr ausführlich gewesen und diese habe, wie von der [X.] bekundet worden sei, sämtliche ihrer Nachfragen „letztendlich weitgehend schlüssig erläutern“ können. Diese Würdigung lässt allerdings im Unklaren, ob und in welcher Hinsicht das [X.] verbleibende Schlüssigkeitsdefizite bei der Beantwortung von Nachfragen der Polizeibeamtin durch die Zeugin gesehen und warum es diese gegebenenfalls für unerheblich gehalten hat. Zwar enthalten die Urteilsgründe nähere Ausführungen zum Inhalt der (ersten) Aussage der Zeugin und zu Nachfragen, die die [X.] ihr hierbei gestellt habe. Aus dieser Darstellung ergeben sich aber keine Hinweise auf etwaige Unstimmigkeiten, die die Zeugin [X.] lediglich „weitgehend schlüssig“ aufzuklären vermochte. Der [X.] kann daher auch nicht sicher nachvollziehen, ob die [X.] hier selbst – letztlich für überwindbar gehaltene – Restzweifel an der Glaubhaftigkeit der Aussage gesehen oder sich lediglich einer von ihr nur wiedergegebenen Bewertung der [X.] angeschlossen hat.

3. Die Sache bedarf daher in Bezug auf die Taten zum Nachteil der [X.] neuer Verhandlung und Entscheidung.

4. Im Übrigen ist das Rechtsmittel unbegründet (§ 349 Abs. 2 StPO).

a) Den Verfahrensrügen des Angeklagten bleibt aus den Gründen der Antragsschrift des [X.] der Erfolg versagt.

b) Auch in sachlich-rechtlicher Hinsicht hat die Nachprüfung des Urteils aufgrund der [X.] keine weiteren Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben. Die [X.] hat ihre Überzeugung hinsichtlich der Taten in den übrigen Fällen (zum Nachteil der Geschädigten [X.]) nicht auf die belastenden Angaben der Zeugin [X.]in deren erster polizeilicher Vernehmung gestützt.

[X.]     

      

Bartel     

      

Rommel

      

Maatsch     

      

Messing     

      

Meta

4 StR 462/22

25.04.2023

Bundesgerichtshof 4. Strafsenat

Beschluss

Sachgebiet: StR

vorgehend LG Hagen (Westfalen), 9. Juni 2022, Az: 41 KLs 9/21

§ 261 StPO

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Beschluss vom 25.04.2023, Az. 4 StR 462/22 (REWIS RS 2023, 2870)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2023, 2870

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