Bundesgerichtshof, Beschluss vom 02.08.2017, Az. 4 StR 190/17

4. Strafsenat | REWIS RS 2017, 7042

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Gegenstand

Schuldfähigkeit: Erstmalige Sexualstraftat eines 94-Jährigen


Tenor

Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des [X.] vom 16. Dezember 2016 mit den Feststellungen aufgehoben; jedoch bleiben die Feststellungen zum äußeren Tatgeschehen bestehen.

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels und die der Nebenklägerin im Revisionsverfahren entstandenen notwendigen Auslagen, an eine andere Strafkammer des [X.] zurückverwiesen.

Gründe

1

Das [X.] hat den Angeklagten wegen sexuellen Missbrauchs eines Kindes in zwei Fällen bei Freisprechung im Übrigen zu einer unbedingten Gesamtfreiheitsstrafe von neun Monaten verurteilt. Hiergegen wendet sich der Angeklagte mit seiner allgemein auf die Verletzung materiellen Rechts gestützten Revision. Das Rechtsmittel hat Erfolg.

2

1. Bereits der Schuldspruch des angefochtenen Urteils begegnet durchgreifenden rechtlichen Bedenken. Das [X.] hat seinem Urteil ohne jegliche Erörterung die Annahme uneingeschränkter Schuldfähigkeit des Angeklagten bei Begehung der Taten zugrunde gelegt, ohne die Möglichkeit eines Ausschlusses oder einer erheblichen Verminderung der Schuldfähigkeit im Sinne der §§ 20, 21 StGB zu prüfen. Dies ist ein auf die Sachrüge zu prüfender sachlich-rechtlicher Mangel, da sich die maßgeblichen Umstände aus dem Urteil selbst ergeben (vgl. [X.], Beschlüsse vom 12. Juli 1995 – 5 [X.], [X.], 633; vom 24. August 1993 – 4 StR 452/93, [X.] 1994, 14; vom 6. November 1992 – 2 [X.], [X.], 332).

3

a) Zwar besteht nach der Rechtsprechung nicht bei jedem Täter, der jenseits einer bestimmten Altersgrenze erstmals Sexualstraftaten begeht, Anlass, der Frage einer erheblich verminderten Schuldfähigkeit oder gar einer Schuldunfähigkeit nachzugehen (vgl. [X.], Urteil vom 11. August 1998 – 1 [X.], [X.], 297 f.; Beschluss vom 11. Januar 2005 – 3 [X.], [X.], 167 f.). Jedoch sind die Prüfung dieser Frage und ihre Erörterung im Urteil jedenfalls dann veranlasst, wenn neben der erstmaligen Sexualdelinquenz in hohem Alter weitere Besonderheiten in der Person des [X.] bestehen, die geeignet sind, auf die Möglichkeit einer durch [X.] bedingten Enthemmtheit hinzudeuten (vgl. [X.], Urteil vom 13. Oktober 2005 – 5 [X.], [X.], 38; Beschlüsse vom 6. November 1992 – 2 [X.], aaO; vom 25. November 1988 – 4 StR 523/88, [X.]R StGB § 21 Sachverständiger 5).

4

b) So verhält es sich hier. Nach den Feststellungen der Strafkammer ist der zum Zeitpunkt der Taten 94-jährige Angeklagte zuvor weder durch Sexualstraftaten noch sonst strafrechtlich in Erscheinung getreten. Hinzu kommt, dass der Angeklagte eine Vielzahl auch altersbedingter gesundheitlicher Leiden hat ([X.]). So leidet er an Diabetes, Herzrhythmusstörungen, Osteochrondose und den Folgen eines Schlaganfalls; auch kann er sich aufgrund altersbedingter Mobilitätseinschränkungen nur noch mit Hilfe eines Rollators oder eines Gehstocks fortbewegen; das [X.] beschreibt seinen Zustand insgesamt als „hochbetagt“ ([X.]). Der [X.] kann vor diesem Hintergrund nicht ausschließen, dass die Schuldfähigkeit des Angeklagten bei Begehung der Taten infolge altersbedingter auch psychischer Veränderungen erheblich vermindert gemäß § 21 StGB oder aufgehoben im Sinne des § 20 StGB war.

5

2. Die Sache bedarf daher neuer Verhandlung und Entscheidung. Von dem aufgezeigten Rechtsfehler sind die Feststellungen zum äußeren Tatgeschehen, die auch im Übrigen rechtsfehlerfrei getroffen sind, nicht berührt. Sie können deshalb bestehen bleiben.

6

3. Das neue Tatgericht wird zu bedenken haben, ob zur Beurteilung der Frage einer erheblichen Verminderung oder Aufhebung der Schuldfähigkeit des Angeklagten ein Sachverständiger mit besonderer Erfahrung auf dem Gebiet des [X.]s in Anspruch zu nehmen sein wird (vgl. [X.], Urteil vom 13. Oktober 2005 – 5 [X.], aaO; Beschlüsse vom 11. Januar 2005 – 3 [X.], aaO; vom 25. November 1988 – 4 StR 523/88, aaO; [X.], [X.], 298 f.). Sollte auch das neue Tatgericht die Verhängung einer Freiheitsstrafe für erforderlich erachten, wird es bei der Entscheidung über die Strafaussetzung zur Bewährung zu erwägen haben, ob anstelle einer Bewährungsversagung andere geeignete Maßnahmen zur Verfügung stehen, um einer erneuten Straffälligkeit des Angeklagten entgegen zu wirken.

Sost-Scheible     

        

     Roggenbuck     

        

Cierniak

        

Ri[X.] Bender ist im Urlaub
und deshalb gehindert zu
unterschreiben.

                          
        

Sost-Scheible

        

Feilcke     

        

Meta

4 StR 190/17

02.08.2017

Bundesgerichtshof 4. Strafsenat

Beschluss

Sachgebiet: StR

vorgehend LG Baden-Baden, 16. Dezember 2016, Az: 203 Js 14300/15 jug - 3 KLs

§ 20 StGB, § 21 StGB

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Beschluss vom 02.08.2017, Az. 4 StR 190/17 (REWIS RS 2017, 7042)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2017, 7042

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