BT-Drucksache 18/9896

Konsequenzen eines möglichen Brexit für die europäische Zusammenarbeit mit Großbritannien in den Bereichen Inneres und Justiz

Vom 26. September 2016


Deutscher Bundestag Drucksache 18/9896
18. Wahlperiode 26.09.2016

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Andrej Hunko, Jan van Aken, Annette Groth, Ulla Jelpke,
Jan Korte, Katrin Kunert, Niema Movassat, Harald Petzold (Havelland),
Dr. Petra Sitte, Alexander Ulrich und der Fraktion DIE LINKE.

Konsequenzen eines möglichen Brexit für die europäische Zusammenarbeit mit
Großbritannien in den Bereichen Inneres und Justiz

Mit 61 entsandten Mitarbeitern stellt Großbritannien derzeit nach Deutschland
(63), Spanien (72) und den Niederlanden (251) den viertstärksten bei Europol
vertretenen EU-Mitgliedstaat dar (derstandard.at vom 29. August 2016). In 2015
initiierten britische Europol-Beamte 2.500 grenzüberschreitende Ermittlungen.
Britische Polizisten besetzen führende Positionen, 40 Prozent aller bei Europol
bearbeiteten Fälle haben laut einem Europol-Sprecher eine „britische Dimen-
sion“. Großbritannien hat im Rahmen des Opt-in nach seinem Block-Opt-out in
2014 nur den Beschluss 2009/371/JI zur Errichtung von Europol angenommen
(House of Commons – Home Affairs Committee, Ninth Report of Session 2013-
14 – Pre-Lisbon Treaty EU police and criminal justice measures: the UK’s opt-in
decision). Alle anderen Rechtsakte zu Europol unterliegen dem Opt-out. Dessen
ungeachtet stellt Großbritannien mit Rob Wainwright den Direktor der Agentur.
Rob Wainwright war vorher unter anderem für den Inlandsgeheimdienst MI5 tä-
tig und arbeitete für den National Criminal Intelligence Service, wo er mit inter-
nationalen Operationen sowie einer britischen „Strategie gegen illegale Einwan-
derung“ befasst war.
Nach dem Brexit-Votum wird Großbritannien die Europäische Union vermutlich
verlassen. Schon jetzt ist Großbritannien von zahlreichen Zusammenarbeitsfor-
men auf Ebene der Europäischen Union ausgeschlossen (Guardian vom 10. Sep-
tember 2016). Noch hat die Regierung unter der Premierministerin Theresa May
aber keine Austrittsgespräche mit der Europäischen Union begonnen, auch der
Artikel 50 Absatz 2 Satz 1 des Vertrags über die Europäische Union (EUV)
wurde noch nicht aktiviert. Auch nach der Mitteilung der Austrittsabsicht gemäß
Artikel 50 des EU-Vertrags würde Großbritannien bis zum Tag des Inkrafttretens
eines Austrittsabkommens oder andernfalls für weitere zwei Jahre Mitglied der
EU bleiben. Würde die Regierung in London nach einem erfolgten Austritt Ko-
operationsabkommen wie die Schweiz oder Norwegen mit der EU schließen wol-
len, wäre dies im Bereich des polizeilichen Informationsaustausches oder dem
System des Europäischen Haftbefehls zwar möglich. Allerdings wäre Großbri-
tannien bei der Gesetzgebung nicht stimmberechtigt, sondern würde höchstens
über ein Konsultations- und Beobachtungsrecht verfügen. Möglicherweise
könnte Großbritannien nach einem vollzogenen Brexit auch weiter an der Zusam-
menarbeit bei Europol teilnehmen. Derzeit hat Europol mit zwölf Nicht-EU-Staa-
ten, darunter der Schweiz, Indien und Kolumbien, Kooperationsabkommen
geschlossen (http://derstandard.at/2000043531583/Europol-Brexit-gefaehrdet-
Polizeikooperation-in-der-EU). Nach einem Bericht des Behördenspiegel (4. Juli

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2016) wird „von Versuchen zahlreicher EU-Beamter aus dem Vereinigten Kö-
nigreich berichtet“, die belgische Staatsbürgerschaft zu erhalten, um nach einem
möglichen Brexit weiterhin für die EU tätig sein zu können.

Wir fragen die Bundesregierung:
1. Was ist der Bundesregierung über den Zeitplan zur Einrichtung eines Ge-

meinsamen Parlamentarischen Kontrollausschusses für die Kontrolle Euro-
pol bekannt, der in der neuen Europol-Verordnung (2016/794) verlangt wird
und aus Mitgliedern des Europäischen und der nationalen Parlamente beste-
hen und dessen Arbeitsweise und Zusammensetzung in einer Geschäftsord-
nung geregelt werden soll?

2. Welche Haltung vertritt die Bundesregierung zur Frage, welche europarecht-
lichen Änderungen sich zur Rechtsposition Großbritanniens in der EU in der
Zeit zwischen dem Referendum bis zum Austritt ergeben?

3. Auf welche Weise könnte sich aus Sicht der Bundesregierung die tatsächli-
che Zusammenarbeit mit Großbritannien in der Zeit zwischen dem Referen-
dum bis zum Austritt aus politischen oder praktischen Gründen verändern?

4. Zu welchem genauen Zeitpunkt nach einer etwaigen Aktivierung des Arti-
kels 50 EUV würde aus Sicht der Bundesregierung die bisherige Zusammen-
arbeit auf der Basis von Unionsrecht enden?

5. Welche Position vertritt die Bundesregierung im Rat angesichts der jeweils
vom Rat (Didier Seeuws), der Kommission (Michel Barnier) und des Euro-
päischen Parlaments (Guy Verhofstadt) nominierten Brexit-Verhandlungs-
vertreter zur Frage, wer die Austrittsverhandlungen mit den Briten führen
soll?

6. Was ist der Bundesregierung darüber bekannt, aus welchen aktuellen Vor-
gängen zur Gesetzgebung in Bezug auf die Errichtung und Ausgestaltung
von Agenturen oder Einrichtungen der EU, den Schengen-Besitzstand oder
anderen Angelegenheiten der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit
in Strafsachen (PJZS) sich Großbritannien nach dem Brexit-Votum zurück-
gezogen hat oder hierzu von der Europäischen Kommission bzw. dem Rat
der Europäischen Union ausgeschlossen wurde?

7. Inwiefern nimmt Großbritannien nach Kenntnis der Bundesregierung weiter-
hin an Diskussionen zu Angelegenheiten des Schengen-Besitzstandes, zur
Errichtung und Ausgestaltung von Agenturen oder Einrichtungen der EU,
oder anderen Angelegenheiten der PJZS in Ratsarbeitsgruppen teil?

8. Was ist der Bundesregierung darüber bekannt, wie sich die bei Europol ini-
tiierten grenzüberschreitenden Ermittlungen zahlenmäßig auf die Mitglied-
staaten Großbritannien, Frankreich, Deutschland, Spanien und die Nieder-
lande verteilen?

9. Welche Haltung vertritt die Bundesregierung zur Frage, welche Defizite sich
nach einem etwaigen Brexit Großbritanniens aus Europol ergeben würden?

10. Welche Haltung vertritt die Bundesregierung zur Frage der zukünftigen Po-
sition Großbritanniens bei Europol, da die Regierung in London im Rahmen
des Opt-in nach dem Block-Opt-out 2014 nur einen Rechtsakt zu Europol
(den Beschluss 2009/371/JI zur Errichtung von Europol), erneut angenom-
men hat, die ab 1. Mai 2017 in Kraft tretende neue Verordnung (ABl. L 153
vom 24. Mai 2016, S. 35) jedoch nicht?

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 3 – Drucksache 18/9896

11. Was ist der Bundesregierung darüber bekannt, inwiefern sich Großbritannien

an der neuen Europol-Verordnung beteiligen will oder dem Rat und der Eu-
ropäischen Kommission nach der Annahme des Rechtsakts (informell oder
formell) mitgeteilt hat, die Maßnahme annehmen zu wollen?

12. Sofern sich Großbritannien weder an der Europol-Verordnung beteiligt hat
noch eine Annahme des Rechtsaktes wünscht, inwiefern gilt für das Land
dann aus Sicht der Bundesregierung der Beschluss 2009/371/JI?

13. Wenn aus Sicht der Bundesregierung der Beschluss 2009/371/JI nicht gilt,
inwiefern ist Großbritannien dann auch nicht an die bisherigen Europol be-
treffende Beschlüsse 2009/371/JI, 2009/934/JI, 2009/935/JI, 2009/936/JI
und 2009/968/JI gebunden?

14. Sofern die Bundesregierung von einer Weitergeltung des Beschlusses
2009/371/JI für Großbritannien ausgeht, welchen Wortlaut der neuen Euro-
pol-Verordnung legt sie hierfür zugrunde?

15. Wenn aus Sicht der Bundesregierung der Beschluss 2009/371/JI für Groß-
britannien nicht gilt und auch die alten Rechtsakte nicht bindend sind, ab
wann müsste die Zusammenarbeit der britischen Ministerien und Beamten
bei Europol (sofern keine Annahme des neuen Europol-Rechtsakts erfolgt)
spätestens enden?

16. Was ist der Bundesregierung darüber bekannt, auf welche Weise auf
EU-Ebene „bereits mit Nachdruck nach Lösungen gesucht“ wird, um
Großbritannien „nicht von der Europol-Bildfläche verschwinden zu
lassen“ (http://derstandard.at/2000043531583/Europol-Brexit-gefaehrdet-
Polizeikooperation-in-der-EU)?

17. Auf welche Weise könnte die Europäische Kommission Großbritannien aus
Sicht der Bundesregierung ermutigen oder sogar auffordern, die neue Euro-
pol-Verordnung trotz des Brexit als bindend anzuerkennen, etwa weil eine
Nicht-Beteiligung des Landes diese Verordnung unpraktikabel macht?

18. Was ist der Bundesregierung über entsprechende Überlegungen der Europä-
ischen Kommission oder des Rates bekannt?

19. Unter welchen Umständen könnten britische Mitarbeiter von EU-Agenturen
aus Sicht der Bundesregierung auch nach dem 1. Mai 2017 bei Europol be-
schäftigt bleiben?

20. Unter welchen Umständen könnte Europol als Anstellungsbehörde aus Sicht
der Bundesregierung davon absehen, das Erfordernis der Staatsangehörigkeit
eines EU-Mitgliedstaates vorauszusetzen und die britischen Staatsangehöri-
gen auch nach einem Brexit weiter zu beschäftigen?

21. Inwiefern dürften aus Sicht der Bundesregierung nach einem etwaigen Brexit
trotz des Staatsangehörigkeitskriteriums weiterhin britische Staatsangehö-
rige neu bei Institutionen der EU eingestellt werden?

22. Welche Haltung vertritt die Bundesregierung zur Frage, inwiefern Großbri-
tannien bis zu einem etwaigen Brexit weiterhin an der Europäischen Polizei-
akademie teilnehmen könnte?

23. Unter welchen Umständen könnte Großbritannien aus Sicht der Bundesre-
gierung auch nach einem etwaigen Brexit am Schengener Informationssys-
tem (SIS) teilnehmen und dort etwa Personen- und Sachfahndungsausschrei-
bungen vornehmen oder auf Daten zu Drittstaatsangehörigen zugreifen?

24. Welche Übergangsregelungen zur weiteren Beteiligung Großbritanniens am
SIS hält die Bundesregierung für denkbar oder geboten?

Drucksache 18/9896 – 4 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode

25. Welche Position vertritt die Bundesregierung zur Frage, inwiefern Großbri-

tannien nach einem etwaigen Brexit von der neuen Reisedatenbank „EU
Travel Information and Authorisation System“ betroffen wäre, das eine kos-
tenpflichtige Reiseanmeldung für Angehörige aus nichtvisumspflichtigen
Drittstaaten vorschreibt?

26. Was ist der Bundesregierung darüber bekannt, inwiefern Großbritannien
auch nach dem Brexit-Votum daran arbeitet, den im Mai 2016 beschlossenen
Beitritt zum Unionsrecht gewordenen Prümer Vertrag umzusetzen?

27. Unter welchen Umständen und auf welcher Rechtsgrundlage könnte Groß-
britannien aus Sicht der Bundesregierung auch nach einem etwaigen Brexit
an den zu Unionsrecht gewordenen Prüm-Entscheidungen, der Eurodac-Da-
tenbank oder der Visumsdatenbank teilnehmen?

Berlin, den 26. September 2016

Dr. Sahra Wagenknecht, Dr. Dietmar Bartsch und Fraktion

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