BT-Drucksache 18/9610

Verfolgungsermächtigungen nach § 129b des Strafgesetzbuches

Vom 8. September 2016


Deutscher Bundestag Drucksache 18/9610
18. Wahlperiode 08.09.2016

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Ulla Jelpke, Wolfgang Gehrcke, Annette Groth, Inge Höger,
Andrej Hunko, Niema Movassat, Dr. Alexander S. Neu, Harald Petzold (Havelland),
Halina Wawzyniak und der Fraktion DIE LINKE.

Verfolgungsermächtigungen nach § 129b des Strafgesetzbuches

Die §§ 129 und 129a des Strafgesetzbuches (StGB) über kriminelle bzw. terroris-
tische Vereinigungen gelten auch für Vereinigungen im Ausland. Bezieht sich die
Tat auf eine Vereinigung außerhalb der Mitgliedstaaten der Europäischen Union,
so gilt dies nur, wenn sie durch eine im räumlichen Geltungsbereich dieses Ge-
setzes ausgeübte Tätigkeit begangen wird oder wenn der Täter oder das Opfer
Deutscher ist oder sich im Inland befindet. § 129b Absatz 1 Satz 3 StGB stellt die
Verfolgung von Taten i. S. d. §§ 129, 129a StGB bezüglich außerhalb der EU
ansässiger Vereinigungen unter den Vorbehalt einer vom Bundesministerium der
Justiz und für Verbraucherschutz (BMJV) zu erteilenden Verfolgungsermächti-
gung. Die Ermächtigung kann für den Einzelfall oder allgemein auch für die Ver-
folgung künftiger Taten erteilt werden, die sich auf eine bestimmte Vereinigung
beziehen.
Kritikerinnen und Kritiker einschließlich der Fragestellerinnen und Fragesteller
haben schon bei Verfahren wegen des ausschließlichen Vorwurfes der Mitglied-
schaft in einer inländischen terroristischen Vereinigung nach §129a StGB den
Einwand erhoben, dass es sich dabei um politisches Gesinnungsstrafrecht han-
delt. Dieser Vorwurf der politischen Einflussnahme trifft ihrer Ansicht nach bei
Verfahren nach §129b StGB aufgrund der von Seiten der Exekutive gegenüber
der Judikative erteilten Verfolgungsermächtigung, bei der außenpolitische Inte-
ressen der Bundesrepublik Deutschland zu berücksichtigen sind, im besonderen
Maße zu (vgl. http://anwalthoffmann.de/445-2/). Bei der Entscheidung über die
Ermächtigung hat das BMJV laut Gesetzestext in Betracht zu ziehen, „ob die Be-
strebungen der Vereinigung gegen die Grundwerte einer die Würde des Men-
schen achtenden staatlichen Ordnung oder gegen das friedliche Zusammenleben
der Völker gerichtet sind und bei Abwägung aller Umstände als verwerflich er-
scheinen“ (§ 129b Absatz 1 Satz 5 StGB). Eben diese Voraussetzung für die Er-
teilung einer Verfolgungsermächtigung ist nach Ansicht der Verteidigung im Pro-
zess gegen zehn nach § 129b StGB in München angeklagte mutmaßliche Mitglie-
der der Türkischen Kommunistischen Partei/Marxisten-Leninisten (TKP/ML) im
Fall der Türkei angesichts willkürlicher Massenverhaftungen von Oppositionel-
len, des Krieges gegen die Kurden und der Kooperation der AKP-Regierung
(AKP – Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung) mit dschihadistischen Verei-
nigungen nicht mehr gegeben. Nach Ansicht der Verteidigung ist der türkische
Staat kein schützenswertes Subjekt mehr (www.tkpml-prozess-129b.de/
de/aus-dem-putsch-nach-dem-putsch-muessen-die-deutschen-behoerden-jetzt-
konsequenzen-ziehen/). Prinzipiell besteht die Möglichkeit, dass der Bundesjus-
tizminister eine einmal erteilte Verfolgungsermächtigung ohne Angabe von
Gründen widerruft. Medienberichten zufolge ist dies bereits in seltenen Fällen

Drucksache 18/9610 – 2 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode

geschehen. Diskutiert wurde ein solcher Widerruf offenbar zu Jahresbeginn be-
züglich der syrischen Gruppierung Ahrar al-Sham, die zwar dem Umfeld der Al
Qaida zugerechnet, aber zu den Genfer Syrien-Friedensgesprächen geladen
wurde (www.tagesschau.de/inland/syrien-stuttgart-101.html).

Wir fragen die Bundesregierung:
1. Für welche Vereinigungen bzw. Mitglieder welcher Vereinigungen wurde

seit Inkrafttreten des § 129b StGB von Seiten der Generalbundesanwalt-
schaft wann und in welchem Rahmen bzw. Umfang eine Verfolgungser-
mächtigung beim BMJV beantragt?
a) Zu welchem Zeitpunkt wurden diese Ermächtigungen jeweils für die Ver-

folgung welcher möglichen Taten welches möglichen Täterkreises in wel-
chem zeitlichen und räumlichen Wirkungskreis erteilt?

b) Zu welchem Zeitpunkt und aus welchem Anlass wurden diese Ermächti-
gungen jeweils verändert, neu gefasst, teilweise oder ganz zurückgenom-
men bzw. widerrufen?

c) In welchen Fällen und aus welchen Gründen bezüglich welcher Vereini-
gungen wurden Verfolgungsermächtigungen nicht oder nicht im von der
Generalbundesanwaltschaft beantragten Rahmen erteilt?

d) Inwieweit gab es Überlegungen, die Verfolgungsermächtigung im Fall
der syrischen Gruppe Ahrar al-Sham zu widerrufen, und mit welchem Er-
gebnis (www.tagesschau.de/inland/syrien-stuttgart-101.html)?

e) Welche Auswirkungen hat die allfällige Rücknahme einer Verfolgungs-
ermächtigung auf ein bereits begonnenes Gerichtsverfahren?
Muss dieses eingestellt oder kann es fortgeführt werden (bitte sowohl
diesbezügliche Rechtsauffassung der Bundesregierung als auch etwaige
bisherige Erfahrungswerte angeben)?

2. Bezüglich welcher Vereinigungen bzw. von einzelnen, auch unbekannten
Mitgliedern oder Unterstützern dieser Vereinigungen wurde wann seit In-
krafttreten des § 129b StGB seitens der Generalbundesanwaltschaft ein Prüf-
vorgang zur Prüfung eines Anfangsverdachts aufgrund von § 129b StGB ein-
geleitet, ohne dass später ein entsprechendes förmliches Ermittlungsverfah-
ren folgte (bitte Gründe angeben, als z. B. keine Ermächtigung durch das
BMJV, Anfangsverdacht nicht bestätigt etc.)?

3. Gegen welche Vereinigungen bzw. einzelne, auch unbekannte Mitglieder
oder Unterstützter dieser Vereinigungen läuft derzeit nach Kenntnis der Bun-
desregierung ein Prüfverfahren von Seiten der Generalbundesanwaltschaft
zur Prüfung eines Anfangsverdachts aufgrund von § 129b StGB?
a) Wie weit ist nach Kenntnis der Bundesregierung ein auf Bundestags-

drucksache 18/5777 und 18/7372 genannter Prüfvorgang bezüglich eines
Anfangsverdachts gegen unbekannte Mitglieder oder Unterstützter der
Marxistisch-Leninistischen Kommunistischen Partei (MLKP) aus der
Türkei gemäß § 129b StGB fortgeschritten?
Sollte das Prüfverfahren beendet sein, aus welchem Grund, und mit wel-
chem Ergebnis?

b) Wie weit ist nach Kenntnis der Bundesregierung ein auf Bundestags-
drucksachen 18/7372 genannter Prüfvorgang bezüglich eines An-
fangsverdachts gegen die Maoistische Kommunistische Partei (MKP) aus
der Türkei gemäß § 129b StGB fortgeschritten?
Sollte das Prüfverfahren beendet sein, aus welchem Grund, und mit wel-
chem Ergebnis?

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 3 – Drucksache 18/9610
c) Wie weit ist nach Kenntnis der Bundesregierung ein auf Bundestags-
drucksache 18/7372 genannter Prüfvorgang bezüglich eines Anfangsver-
dachts gegen die rechtsextreme Ülkücü-Bewegung aus der Türkei gemäß
§ 129b StGB fortgeschritten?
Gegen welche Vereinigungen oder Strömungen oder deren Mitglieder
oder Unterstützer des eine Mehrzahl von Gruppierungen sowie Unorgani-
sierte umfassenden Ülkücü-Spektrums (Graue Wölfe) genau richtet sich
dieser Prüfvorgang, und was genau war der Auslöser für das Prüfverfahren?
Sollte das Prüfverfahren beendet sein, aus welchem Grund, und mit wel-
chem Ergebnis?

4. Aus welchen Quellen im Einzelnen stammt jeweils das für die Erteilung ei-
ner Verfolgungsermächtigung nach § 129b StGB notwendige Wissen des
BMJV bezüglich der zu verfolgenden Vereinigungen, und inwieweit greift
das BMJV dabei auf Informationen von ausländischen Sicherheitsbehörden
und Nachrichtendiensten zurück?

5. Inwieweit und in welchen Abständen und unter welcher Maßgabe überprüft
die Bundesregierung nach einer einmal gegebenen Verfolgungsermächti-
gung, ob im Fall der jeweiligen Länder, in denen die nach § 129b StGB zu
verfolgenden Vereinigungen tätig sind, eine die „Grundwerte einer die
Würde des Menschen achtenden staatlichen Ordnung“ sowie ein „friedliches
Zusammenleben der Völker“ weiterhin gegeben ist?

6. Wie verläuft der genaue Verfahrensweg zur Erteilung, Nichterteilung oder
Rücknahme einer Verfolgungsermächtigung nach § 129b Absatz 1 StGB?
a) Welche Abteilung im BMJV ist primär für die Erteilung, Nichterteilung

oder Rücknahme einer Verfolgungsermächtigung nach § 129b Absatz 1
StGB zuständig?

b) Welche weiteren Abteilungen im BMJV sowie welche Abteilungen wel-
cher anderen Bundesministerien, des Bundeskanzleramtes sowie gegebe-
nenfalls welcher Sicherheitsbehörden sind in den Prozess zur Erteilung,
Nichterteilung oder Rücknahme einer Verfolgungsermächtigung einge-
bunden?

c) In welches Verfahren und mit welchen Funktionen werden die genannten
Abteilungen und Behörden bei der Erteilung, Nichterteilung oder Rück-
nahme einer Verfolgungsermächtigung eingebunden?

Drucksache 18/9610 – 4 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode

7. Inwieweit und mit welcher Begründung kann die Bundesregierung ange-

sichts von Meldungen über willkürliche Massenverhaftungen, Folterungen,
der Tötung hunderter Zivilistinnen und Zivilisten während monatelanger
Ausgangssperren sowie der Zerstörung ganzer Stadtviertel in den mehrheit-
lich kurdisch besiedelten Landesteilen durch Armee und Polizeispezialein-
heiten und der Kooperation der AKP-Regierung mit dschihadistischen Ter-
rororganisationen wie der Al-Nusra-Front bzw. ihrer Nachfolgerin in der
Türkei noch eine die „Grundwerte einer die Würde des Menschen achten-
den staatlichen Ordnung“ sowie ein „friedliches Zusammenleben der Völ-
ker“ (§ 129b Absatz 1 Satz 5 StGB) erkennen (www.heise.de/tp/artikel/46/
46702/1.html; www.fr-online.de/tuerkei/extremismus-in-tuerkei-islamisten-
geniessen-ankaras-schutz,23356680,34640472.html; www.fr-online.de/
tuerkei/cizre-kurden-sprechen-von--massaker-,23356680,33746294.html;
www.stern.de/politik/ausland/tuerkei--erdogans-blutiger-krieg-gegen-die-
kurden-6753320.html; www.faz.net/aktuell/politik/ausland/europa/tuerkei/
mehr-als-40-000-festnahmen-in-tuerkei-nach-putsch-versuch-1439370
0.html)?

Berlin, den 8. September 2016

Dr. Sahra Wagenknecht, Dr. Dietmar Bartsch und Fraktion

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