BT-Drucksache 18/9504

Mögliche Einflussnahme des türkischen Präsidenten Erdogan in Deutschland über Organisationen wie der Islamischen Gemeinschaft Milli Görüs

Vom 30. August 2016


Deutscher Bundestag Drucksache 18/9504
18. Wahlperiode 30.08.2016

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Sevim Dağdelen, Wolfgang Gehrcke, Annette Groth,
Heike Hänsel, Andrej Hunko, Ulla Jelpke, Niema Movassat, Dr. Alexander S. Neu,
Harald Petzold (Havelland) und der Fraktion DIE LINKE.

Mögliche Einflussnahme des türkischen Präsidenten Erdoğan in Deutschland
über Organisationen wie der Islamischen Gemeinschaft Millî Görüş

Der Aufstieg von Premier Recep Tayyip Erdoğan ist ohne die Unterstützung von
Milli Görüş kaum denkbar. Er selbst war in diesem Umfeld sozialisiert worden,
einer seiner engsten Berater war Vorsitzender der Islamischen Gemeinschaft
Milli Görüș e. V. (IGMG) (www.spiegel.de/spiegel/print/d-96238894.html). Die
Trennung zwischen den Anhängern von Milli Görüș und der AKP im Jahr 2000
war demnach weniger Folge ideologischer Differenzen, sondern entsprang mehr
strategischen Überlegungen der Machtübernahme (www.nzz.ch/meinung/
debatte/erbakans-erben-sind-am-ziel-1.18641183).
Seitdem die AKP regiert, gibt es zwischen ihr und der IGMG eine engere Zu-
sammenarbeit (http://blog.zeit.de/joerglau/2009/02/18/ditib-als-langer-arm-
erdogans_2062). So sitzt der ehemalige IGMG-Generalsekretär, Mustafa Yenero-
glu, „einer der eifrigsten Erdogan-Propagandisten, […] heute für die AKP im tür-
kischen Parlament“ (www.tagesspiegel.de/themen/agenda/einfluss-der-tuerkei-
erdogans-lobby-in-deutschland/13695612.html). Das wirkt sich auch auf das
Verhältnis zwischen der IGMG und der AKP aus. Jahrelang stand die IGMG we-
gen ihrer antilaizistischen Ausrichtung in Konkurrenz zur Türkisch-Islamischen
Union der Anstalt für Religion e. V. (türkisch: Diyanet İşleri Türk İslam Birliği,
abgekürzt DITIB). Seit dem Jahr 2006 drängte die AKP-Regierung unter Recep
Tayyip Erdoğan auf eine Vereinheitlichung der Organisationslandschaft in
Deutschland, was dazu beigetragen hat, dass der Konflikt zwischen der DITIB
und der IGMG abgeschwächt wurde und sich die Organisationen seit dem Jahr
2007 im Koordinationsrat der Muslime (KRM) zusammengefunden haben
(http://downloads.akademie-rs.de/interreligioeser-dialog/131115_rosenow_
akteure.pdf).
In Deutschland wird die IGMG auf Bundesebene vom Verfassungsschutz beo-
bachtet und von diesem als „legalistische Organisation eingestuft, d. h. sie ver-
folgt ihre Ideologie ausschließlich mit legalen Mitteln. Die IGMG-Ideologie ent-
hält keine gewaltbezogenen Elemente“ (Bundestagsdrucksache 18/6166). Sie ist
Teil der länderübergreifenden Milli-Görüș-Bewegung, die auf den türkischen Po-
litiker Necmettin Erbakan zurückgeht. Dieser erklärte Anfang der 70er-Jahre die
Überwindung von Laizismus und Demokratie zum Ziel und die Errichtung einer
„gerechten Ordnung“ auf islamischer Grundlage. Das Bundesamt für Verfas-
sungsschutz (BfV) zählt die IGMG zu den „bundesweit aktiven islamistischen
Organisationen beziehungsweise Gruppierungen“, zu denen keine gesicherten
Anhängerzahlen vorlägen, geht aber davon aus, sie verfüge „über einige Zehn-

Drucksache 18/9504 – 2 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode

tausend Anhänger“, von denen „die Zahl der extremistischen Anhänger […] da-
bei auf bis zu 10 000 Personen geschätzt“ wird. Deutschlandweit sei mit regional
unterschiedlicher Intensität ein schwächer werdender „Extremismusbezug“ der
IGMG festzustellen (Verfassungsschutzbericht 2015 des Bundes, Ausschuss-
drucksache 18(4)627).
Rückenwind erhält die IGMG aber nicht nur durch Recep Tayyip Erdoğan und
die AKP. Der Besuch des CDU-Politikers, Parteivize und zugleich CDU-Landes-
chef in Nordrhein-Westfalen, Armin Laschet, im Rahmen des Bürgerschaftswahl-
kampfs in der Fatih-Moschee in Bremen sorgte im April 2015 für einiges Aufse-
hen, weil die Moschee zur Islamischen Gemeinschaft Milli Görüș gehört und we-
gen der Einstufung von Milli Görüș als verfassungsfeindlich von Verfassungs-
schützern im Bund und in einigen Bundesländern, wenn auch nicht in Bremen
(www.welt.de/print/die_welt/politik/article139563654/Laschets-Gratwanderung-
in-der-Fatih-Moschee.html). Bereits im Jahr 2014 hatte die CDU-Bundestagsab-
geordnete Cemile Giousouf Vertreter der IGMG in ihrem Hagener Wahlkreis-
büro empfangen; zu einem Zeitpunkt als diese noch vom NRW-Verfassungs-
schutz beobachtet wurde (www.welt.de/regionales/nrw/article135068067/Wie-
viel-Naehe-zu-Islamisten-ist-erlaubt.html).

Wir fragen die Bundesregierung:
1. Welche Beziehungen bestehen nach Erkenntnissen (auch nachrichtendienst-

lichen) der Bundesregierung zwischen der ägyptischen Muslimbruderschaft
(MB) und der Milli-Görüș-Bewegung?

2. Welche Beziehungen bestehen nach Erkenntnissen (auch nachrichtendienst-
lichen) der Bundesregierung zwischen der Hamas und der Milli-Görüș-Be-
wegung?

3. Inwieweit gehört nach Kenntnis der Bundesregierung (auch nachrichten-
dienstlicher) die Zusammenarbeit mit der Milli-Görüș-Bewegung ebenfalls
zu jener seit Jahren bewussten Politik der mit islamistischen Organisationen
seitens der türkischen Regierung, die von Präsident Recep Tayyip Erdoğan
aktiv unterstützt wird und die Türkei zur „zentrale[n] Aktionsplattform für
islamistische Gruppierungen“ hat werden lassen (www.tagesschau.de/
inland/tuerkei-619.html)?

4. Inwieweit teilt die Bundesregierung nach ihrer Kenntnis die Auffassung,
dass die „Saadet Partisi“, SP („Partei der Glückseligkeit“, SP) der politische
und die IGMG der religiöse Arm von „Milli Görüș“ in Deutschland ist
(www.verfassungsschutz-bw.de/,Lde/Startseite/Arbeitsfelder/Aufsplitterung+
der+_Milli_Goerues_Bewegung+in+Deutschland)?

5. Welche personellen und finanziellen Vernetzungen gibt es nach Kenntnis der
Bundesregierung (auch nachrichtendienstlicher) zwischen der IGMG und
der Islamischen Gemeinschaft in Deutschland e. V. (IGD)?

6. Welche Kenntnisse hat die Bundesregierung über personelle bzw. finanzielle
Vernetzungen zwischen dem Naksibendi-Orden und der IGMG?

7. Welche Kenntnisse (auch nachrichtendienstliche) hat die Bundesregierung
darüber, wie viele Abgeordnete des türkischen Parlaments dem Naksibendi-
Orden angehören und welche Partei sie im Parlament vertreten (www.
welt.de/print-welt/article89915/Umstrittene-Yimpas-Holding-finanziert-
Islamisten.html)?

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 3 – Drucksache 18/9504
8. Inwieweit hat die Bundesregierung Kenntnisse (auch nachrichtendienstli-
che), dass die sogenannten Islam-Holdings, die in den 90er-Jahren europa-
weit bis zu 50 Milliarden Dollar Schaden angerichtet haben sollen und an
deren Aktivitäten maßgeblich die Milli-Görüș-Bewegung wie der Naksi-
bendi-Orden beteiligt gewesen sein sollen (www.welt.de/print-welt/
article192662/Milliardenbetrug-im-Namen-Allahs.html), zu einem beträcht-
lichen Teil in die AKP geflossen sein sollen (www.spiegel.de/politik/
deutschland/islam-holdings-betrug-an-deutschlands-tuerken-a-477413.html)?

9. Inwieweit hat die Bundesregierung Kenntnisse (auch nachrichtendienstliche),
wie viele der etwa 516 islamistischen Gefährder, die das Bundeskriminalamt
derzeit deutschlandweit zählt (www.sueddeutsche.de/politik/elektronische-
fussfesseln-besser-als-nichts-1.3130439), direkte Kontakte zu Moscheege-
meinden der IGMG haben?

10. Mit welcher Begründung ist im Verfassungsschutzbericht 2015 des Bundes
die ursprünglich im Verfassungsschutzbericht 2014 des Bundes unter Vor-
behalt genannte Zahl von 31 000 Personen der „Millî Görüş“-Bewegung und
zugeordneter Vereinigungen, die als Islamismuspotential für das Jahr 2014
genannt wurden, nicht einmal mehr unter dem Vorbehalt, dass keine verläss-
lichen Zahlenangaben zum aktuellen Personenpotential vorlägen, enthalten?

11. Inwieweit hat die Bundesregierung Kenntnisse (auch nachrichtendienstli-
che), ob, und wenn ja, wie viele IGMG-Funktionäre bzw. -Mitglieder bei den
Parlamentswahlen in der Türkei im Juni und November 2015 auf Kandida-
tenlisten zur Wahl angetretener Parteien (z. B. der SP) standen?

12. Inwieweit trifft es nach Kenntnis der Bundesregierung zu, dass sich die IGMG
in 35 Regional- und Landesverbände gliedert, von denen 15 Regionalver-
bände in Deutschland vertreten sind (www.igmg.org/wp-content/uploads/
2015/08/igmg_selbstdarstellung_2015_de.pdf)?

13. Inwieweit trifft es nach Kenntnis der Bundesregierung zu, dass die IGMG
518 Moscheen unterhält, davon 323 in Deutschland (www.igmg.org/wp-
content/uploads/2015/08/igmg_selbstdarstellung_2015_de.pdf)?

14. Inwieweit trifft es nach Kenntnis der Bundesregierung zu, dass von den
2.330 Zweigstellen, zu denen neben den Moscheen auch Frauen-, Jugend-,
Schüler-, Bildungs-, Kultur- und Sportvereine gehören, 1 351 Zweigstellen
in Deutschland sind (www.igmg.org/wp-content/uploads/2015/08/igmg_
selbstdarstellung_2015_de.pdf)?

15. Wie viele Imame sind in den Moscheen der IGMG in der Bundesrepublik
Deutschland nach Kenntnis der Bundesregierung tätig?

16. Wie viele Imame in den Moscheen der IGMG in der Bundesrepublik
Deutschland sind nach Kenntnis der Bundesregierung von der türkischen Re-
ligionsbehörde DITIB entsandt?

17. Wie viele Imame in den Moscheen der IGMG in der Bundesrepublik
Deutschland werden nach Kenntnis der Bundesregierung von der türkischen
Religionsbehörde DITIB bezahlt?

18. Inwieweit trifft es nach Kenntnis der Bundesregierung zu, dass die Imame
der IGMG zumeist theologische Fakultäten in der Türkei, in Bosnien oder
auch in der arabischen Welt sowie in privaten Hochschulen wie zum Beispiel
die in Chateau Chinon in Frankreich besuchen bzw. dort ausgebildet werden
(www.deutschlandfunk.de/zwischen-islam-und-islamismus-verdacht.724.
de.html?dram:article_id=99746)?

Drucksache 18/9504 – 4 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode

19. Inwieweit hat die Bundesregierung Kenntnisse (auch nachrichtendienstliche),

dass die Hochschule in Chateau Chinon in Frankreich eine islamistische Ka-
derschmiede mit engen Verbindungen zur fundamentalistischen Muslimbru-
derschaft sei (www.deutschlandfunk.de/zwischen-islam-und-islamismus-
verdacht.724.de.html?dram:article_id=99746)?

20. Inwieweit hat die Bundesregierung Kenntnisse (auch nachrichtendienstli-
che), ob die IGMG den Laizismus bzw. Säkularismus überwinden will?

21. Inwieweit hat die Bundesregierung Kenntnisse darüber, dass es auch Ergeb-
nis des Wirkens islamischer Organisationen wie der IGMG im Rahmen ihrer
islamistischen Bildungs- und Jugendarbeit ist, dass laut einer im Auftrag der
Westfälischen Wilhelms-Universität Münster von der TNS Deutschland
GmbH, Geschäftsbereich TNS Emnid erstellten Studie Religion zum „Iden-
titätsmarker“ geworden ist (www.zeit.de/gesellschaft/2016-06/integration-
tuerkische-muslime-deutschland)?

22. Inwieweit sieht die Bundesregierung nach ihrer Kenntnis einen Zusammen-
hang zwischen dem Wirken islamistischer Bildungs- und Jugendarbeit und
dem Umstand, dass 32 Prozent der von Emnid befragten „Türkeistämmigen“
der Aussage zustimmten, die Muslime „sollten die Rückkehr zu einer Gesell-
schaftsordnung wie zu Zeiten des Propheten Mohammed anstreben“, 36 Pro-
zent von ihnen der Ansicht waren, nur der Islam sei in der Lage, „die Prob-
leme unserer Zeit zu lösen“, und 23 Prozent die Auffassung vertraten, Mus-
lime sollten es vermeiden, dem anderen Geschlecht die Hand zu schütteln
(www.dw.com/de/islam-und-grundgesetz-t%C3%BCrkische-muslime-in-
deutschland/a-19333008)?

23. Inwieweit hat die Bundesregierung Kenntnisse (auch nachrichtendienstliche)
von antisemitischen, christenfeindlichen, homophoben oder sich gegen das
friedliche Zusammenleben der Völker richtende Äußerungen oder Aufrufe
zur Gewalt seitens der IGMG und/oder deren führender Funktionäre?

24. Inwieweit hat die Bundesregierung Kenntnisse (auch nachrichtendienstliche)
von armenierfeindlichen Äußerungen seitens der IGMG und/oder deren füh-
render Funktionäre im Zusammenhang mit den Debatten um die Anerken-
nung des Völkermordes an den Armeniern und anderen Minderheiten?

25. Wie viele Moscheen der IGMG verwaltet die Europäische Moscheebau- und
Unterstützungsgemeinschaft e. V. (EMUG) nach Kenntnis der Bundesregie-
rung in Deutschland?

26. Trifft es nach Kenntnis der Bundesregierung zu, dass die EMUG mit Sitz in
Köln für die wirtschaftlichen und finanziellen Angelegenheiten zuständig ist,
während die IGMG mit Sitz in Bonn die religiösen Aufgaben der früheren
Vereinigung der neuen Weltsicht in Europa e. V. (AMGT) übernommen hat
(www.fes.de/fulltext/asfo/00803008.htm#E11E1)?

27. Inwieweit hat die Bundesregierung Kenntnisse (auch nachrichtendienstli-
che), dass die IGMG neben Angelegenheiten der muslimischen Religions-
ausübung auch umfangreichen wirtschaftlichen Aktivitäten nachgeht, bspw.
im Rahmen von Bestattungsfonds, Wallfahrtsorganisationen, Buchvertrie-
ben für religiöse Literatur, muslimischen Sozialwerken sowie einer Reihe
von Handelsgesellschaften für den Import und Export von Lebensmitteln und
anderen Gütern, aber auch im weiteren Umfeld des Verbands angesiedelter
Immobilien-, Versicherungs- und Kapitalanlagegesellschaften (www.fes.
de/fulltext/asfo/00803008.htm#E11E1)?

28. Inwieweit hat die Bundesregierung Kenntnis (auch nachrichtendienstliche)
über personelle und finanzielle Verbindungen der IGMG zur „Union Tür-
kisch-Europäischer Demokraten“ (UETD)?

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 5 – Drucksache 18/9504

29. In welchen Regionalverbänden und Zweigstellen Deutschlands der IGMG

sind nach Kenntnis der Bundesregierung (auch nachrichtendienstlichen) die
stärksten „Extremismusbezüge“ vorhanden?

Berlin, den 30. August 2016

Dr. Sahra Wagenknecht, Dr. Dietmar Bartsch und Fraktion

Satz: Satzweiss.com Print, Web, Software GmbH, Mainzer Straße 116, 66121 Saarbrücken, www.satzweiss.com
Druck: Printsystem GmbH, Schafwäsche 1-3, 71296 Heimsheim, www.printsystem.de

anzeiger Verlag GmbH, Postfach 10 05 34, 50445 Köln, Telefon (02 21) 97 66 83 40, Fax (02 21) 97 66 83 44, www.betrifft-gesetze.de

x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.