BT-Drucksache 18/9380

Aussagen des Bundesministers des Inneren zu medizinischen Abschiebungshindernissen

Vom 9. August 2016


Deutscher Bundestag Drucksache 18/9380
18. Wahlperiode 09.08.2016

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Ulla Jelpke, Kathrin Vogler, Frank Tempel, Sabine
Zimmermann (Zwickau), Katja Kipping, Jan Korte, Cornelia Möhring,
Martina Renner, Dr. Petra Sitte, Kersten Steinke, Azize Tank, Harald Weinberg,
Birgit Wöllert und der Fraktion DIE LINKE.

Aussagen des Bundesministers des Innern zu medizinischen
Abschiebungshindernissen

Bundesinnenminister Dr. Thomas de Maizière hatte gegenüber der „Rheinischen
Post“ vom 16. Juni 2016 beklagt, dass „immer noch zu viele Atteste von Ärzten
ausgestellt“ würden, „wo es keine echten gesundheitlichen Abschiebungshinder-
nisse gibt“. Es könne „nicht sein, dass 70 Prozent der Männer unter 40 Jahren vor
einer Abschiebung für krank und nicht transportfähig erklärt werden“. Damit
hatte der Bundesminister indirekt sowohl den Betroffenen vorgeworfen, Krank-
heiten vorzutäuschen, als auch den Ärztinnen und Ärzten, falsche Atteste auszu-
stellen.
Ein Sprecher des Bundesinnenministeriums (BMI) stellte später richtig, es gebe
keine bundesweite Statistik zum Thema (siehe hierzu bereits die Bundestags-
drucksache 17/4779, Frage 5). Der Bundesminister habe aber „Erkenntnisse der
am Abschiebeprozess beteiligten Behörden“ aufgegriffen, ihm sei in Gesprä-
chen zum Thema Attestquoten „spotlight-artig von bis zu 70 Prozent berichtet
worden“. Bundesärztekammerpräsident Prof. Dr. Frank Ulrich Montgomery rea-
gierte auf die Aussage des Bundesministers, für die Medizinerinnen und Medizi-
ner zähle immer der Einzelfall: „Wir lassen uns da nicht auf irgendwelche statis-
tischen Spielereien ein.“ Prof. Dr. med. Wulf Dietrich, Vorsitzender des Vereins
Demokratischer Ärztinnen und Ärzte (VDÄÄ), kommentierte: „In seiner Beam-
tenmentalität zählen nur Zahlen. Dass hinter jeder dieser Zahlen auch ein Mensch,
ein menschliches Schicksal steht, ist dem Minister unbekannt“ (vgl. SPIEGEL
ONLINE vom 17. Juni 2016: „Flüchtlinge: De Maizière nennt falsche Attest-
Zahlen“ und FAZ vom 14. Juli 2016: „Arzt statt Abschiebung“).
Wegen seiner Äußerung musste sich Bundesinnenminister Dr. Thomas de Maizière
im Rahmen einer Aktuellen Stunde am 23. Juni 2016 im Parlament erklären (Ple-
narprotokoll 18/179, S. 17627 ff.). Er entschuldigte sich aber nicht für die von
ihm offenkundig ohne sachkundigen Beleg verbreitete Falschmeldung, weder bei
den Geflüchteten noch bei Ärztinnen und Ärzten, sondern gestand lediglich ein:
„Ja, ich hätte diesen Prozentsatz so nicht nennen sollen.“ Vielmehr nahm er die
Aktuelle Stunde, über die er sich „froh und dankbar“ zeigte, zum Anlass, um er-
neut über „Probleme durch Krankschreibungen und Atteste“ bei Abschiebungen
zu sprechen. Kritisiert wurde der Bundesminister in der Debatte unter anderem
von dem Abgeordneten der Fraktion der SPD, Dr. Lars Castellucci, seine Aussage
habe „das soziale Klima in unserem Land vergiftet. Das ist brandgefährlich“.

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Nach Ansicht der Fragestellerinnen und Fragesteller ist bemerkenswert, dass der
Bundesinnenminister in der Aktuellen Stunde trotz hinreichender Möglichkeit zur
inhaltlichen Vorbereitung erneut eine falsche Aussage machte. Er erklärte, dass
eine Evaluierung in Nordrhein-Westfalen (NRW) ergeben habe, „dass 70 Prozent
der Ausreisepflichtigen psychische Erkrankungen als Vollzugshindernis geltend
gemacht haben“ (S. 17629). Das ist unzutreffend, wie sich aus der Antwort des
Parlamentarischen Staatssekretärs Dr. Günter Krings auf die Mündliche Frage 49
der Abgeordneten Ulla Jelpke (vgl. Plenarprotokoll 18/178, S. 17568, Anlage 36)
und aus der den Fragestellerinnen und Fragestellern vorliegenden Evaluierung
aus NRW aus dem Jahr 2011 ergibt: Nicht „70 Prozent der Ausreisepflichtigen“
hatten psychische Erkrankungen als Abschiebungshindernisse geltend gemacht,
sondern die Evaluierung betraf 184 Erfassungsbögen, die von den Ausländerbe-
hörden in NRW im Zeitraum vom 1. Mai bis 31. Oktober 2011 für Fälle ausge-
füllt worden waren, bei denen gesundheitliche Abschiebungshindernisse geltend
gemacht wurden (siehe „Evaluierung der Zusammenarbeit von Ausländerbehör-
den und Ärztinnen und Ärzten bei Rückführungsmaßnahmen und der praktischen
Anwendung des Informations- und Kriterienkataloges; Bericht über die Auswer-
tung der Erfassungsbögen (2. Stufe)“ vom 27. Januar 2012, S. 11). Das heißt, in
100 Prozent dieser exemplarisch untersuchten Fälle ging es um gesundheitsbe-
dingte Abschiebungshindernisse, wobei in 70 Prozent dieser Fälle psychische Er-
krankungen eine Rolle spielten. Diese Angaben lassen jedoch keinerlei Schluss-
folgerungen hinsichtlich der vom Bundesminister aufgeworfenen Frage zu, wie
viele Ausreisepflichtige gesundheitsbedingte Abschiebungshindernisse geltend
machen.
Allerdings ergab die Evaluierung an anderer Stelle durchaus Hinweise zur Beant-
wortung genau dieser Frage (siehe „Evaluierung der Zusammenarbeit von Aus-
länderbehörden und Ärztinnen und Ärzten bei Rückführungsmaßnahmen und der
praktischen Anwendung des Informations- und Kriterienkataloges; Bericht über
die Auswertung der Erfassungsbögen (2. Stufe)“ vom 27. Januar 2012, S. 6 f. und
12): Im Erfassungszeitraum der Evaluierung gab es in NRW 733 Abschiebungen,
dabei wurden 184 Erfassungsbögen erstellt, weil gesundheitsbedingte Abschie-
bungshindernisse gelten gemacht worden waren (in neun von zehn Fällen durch
Atteste, Gutachten, Krankenhausbescheinigungen usw.). Das ergibt eine Quote
von etwa 25 Prozent, bei denen gesundheitsbedingte Abschiebungshindernisse
bei Abschiebungen eine Rolle spielten (eine „Attestquote“ läge leicht darunter) –
was weit entfernt ist von den angeblichen 70 Prozent, auf die der Bundesminister
zweifach Bezug genommen hatte.
In dem Bericht ist auch die Aussage enthalten (S. 15 f.), dass in den 109 „ab-
schließend geprüften Fällen“ in 27 Fällen (25 Prozent) eine „Reiseunfähigkeit“
festgestellt wurde. Allerdings sind der Begriff und die Beurteilungspraxis der
„Reisefähigkeit“ fachlich umstritten. Der 107. Deutsche Ärztetag beschloss im
Mai 2004 in Bremen, dass „die Beschränkung einer medizinischen Begutachtung
auf bloße „Reisefähigkeit“ eindeutig abzulehnen [ist], da sie nicht mit den ethi-
schen Grundsätzen ärztlichen Handels vereinbar ist“. Bei Reise- oder Transport-
fähigkeitsprüfungen geht es zugespitzt um die Frage, ob eine Person einen Flug
vermutlich ohne größere Gesundheitsschädigungen überstehen wird oder nicht;
mittel- und längerfristige negative Auswirkungen einer Abschiebung auf die Ge-
sundheit bleiben dabei unberücksichtigt (vgl. auch Bundestagsdrucksache
17/4779). Bei solchen Prüfungen geht es hingegen nicht (vorrangig) um die
Frage, ob bzw. inwiefern tatsächlich ein Krankheitswert vorliegt. Das zeigt auch
der Umstand, dass in 38 Prozent der in NRW evaluierten Fälle, bei denen eine
Reisefähigkeit amtlich festgestellt worden war, eine ärztliche Begleitung, eine
Medikamentenmitgabe oder eine medizinische Anschlussversorgung im Zielstaat
der Abschiebung empfohlen wurde.

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Dass psychische und physische Erkrankungen im Zusammenhang mit einer Ab-
schiebung häufig eine Rolle spielen, ist in keiner Weise verwunderlich. So gehen
fachliche Studien davon aus, dass ein hoher Prozentsatz (ca. 40 Prozent; vgl.
z. B.: „Psychische Erkrankungen bei Flüchtlingen“, Standpunkt der Bundespsy-
chotherapeutenkammer von September 2015, S. 7) aller Geflüchteten traumati-
sche Erlebnisse erfahren hat. Auch die Bedingungen und Risiken einer illegali-
sierten Flucht sind extrem belastend. Hinzu kommt, dass die Lebensbedingungen
für Geflüchtete in Deutschland psychische Erkrankungen verstärken oder auch
hervorrufen können (mangelnde Privatsphäre in Massenunterkünften, erzwun-
gene Untätigkeit durch Arbeitsverbotsregelungen, isolierende Unterbringung in
abgelegenen Einrichtungen, Beschränkungen der Freizügigkeit – Residenz-
pflicht – und der eigenen Lebensführung – Sachleistungsprinzip, Leistungskür-
zungen –, Angriffe und Anfeindungen usw.). Auch der Vorgang der Abschiebung
ist sehr belastend, es handelt sich um eine massive Gewalterfahrung. Bei psy-
chisch Erkrankten, wie etwa Traumatisierten, kann diese Gewalterfahrung eine
Aktualisierung und Verstärkung vorhandener Krankheitssymptome verursachen
(z. B. Re-Traumatisierung). Schließlich muss, nicht zuletzt angesichts staatlicher
Schutzpflichten nach den Artikeln 1 und 2 des Grundgesetzes, bei Abschiebun-
gen berücksichtigt werden, dass in vielen Herkunftsländern die medizinischen
Behandlungsmöglichkeiten oft sehr beschränkt sind. Dass verantwortungsbe-
wusste Ärztinnen und Ärzte, Psychologinnen und Psychologen aus ihrer fachli-
chen Sicht vielen Abschiebungen widersprechen bzw. auf entsprechende gesund-
heitliche Gefährdungen hinweisen, ist deshalb nach Ansicht der Fragestellerinnen
und Fragesteller in keiner Weise ein Indiz für einen etwaigen Missbrauch oder
gar falsche ärztliche oder psychologische Begutachtungen.
In einem Brief an den Bundesinnenminister vom 26. Juni 2016 erinnert Dr. med.
W. W., Fachärztin für psychotherapeutische Medizin und für Psychoanalyse, Mit-
begründerin und freie Mitarbeiterin des Beratungs- und Behandlungszentrums für
Flüchtlinge und Folteropfer „REFUGIO München“ und seit dem Jahr 1993 mit
Begutachtungen in ausländerrechtlichen Verfahren befasst, daran, dass bereits im
Jahr 2001 das Bundesinnenministerium der Ärzteschaft vorgeworfen habe, ihre
Mitwirkung bei Abschiebemaßnahmen zu verweigern. Seitdem habe es zahlrei-
che Fachgespräche im Austausch mit Behörden, Fortbildungsveranstaltungen und
die Entwicklung von Standards zur Begutachtung psychisch reaktiver Traumafol-
gen in aufenthaltsrechtlichen Verfahren gegeben. Es könne „nicht sein, dass alles
bisher Erarbeitete wegen der Beschleunigung des Asylverfahrens jetzt nicht mehr
gelten soll“. Die Bundesregierung habe sich gegenüber dem UN-Antifolteraus-
schuss dazu verpflichtet, jegliche Abschiebung zu unterlassen, solange eine post-
traumatische Belastungsstörung nicht ausgeschlossen werden könne oder irgend-
ein Anzeichen für ein Gesundheitsrisiko im Zusammenhang mit einer Abschie-
bung bestehe.
Bundesinnenminister Dr. Thomas de Maizière stand bereits mehrfach wegen fal-
scher bzw. irreführender oder nicht belegter Zahlenangaben in der Kritik (vgl.
Neues Deutschland vom 18. Juli 2016: „Der Hoax-Minister“).

Wir fragen die Bundesregierung:
1. Bei welchen Gesprächen mit welchen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern

(bitte nicht Namen, sondern Funktion/Stelle nennen) welcher Behörden ist
dem Bundesminister „spotlight-artig“ aufgrund welcher Informationsgrund-
lagen berichtet worden, bei bis zu 70 Prozent aller Abschiebungen von Män-
nern unter 40 Jahren spielten Atteste eine Rolle bzw. würden gesundheitsbe-
dingte Abschiebungshindernisse festgestellt (bitte auflisten)?

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2. Inwiefern und mit welchem Ergebnis wurde im Vorfeld der Aktuellen Stunde
vom 23. Juni 2016 überprüft und ermittelt, was tatsächlich in diesen Gesprä-
chen gesagt worden ist bzw. inwiefern es sich um ein Fehlverständnis des
Bundesministers oder aber um eine Fehlinformation durch die Mitarbeiterin-
nen und Mitarbeiter handelte (bitte darlegen)?

3. Sind die Äußerungen des Bundesministers in der „Rheinischen Post“ vom
16. Juni 2016 in der abgedruckten Form autorisiert worden, wenn nein, wa-
rum nicht, und inwieweit wurden dabei die Äußerungen des Bundesministers
auf inhaltliche Richtigkeit hin überprüft, bzw. warum wurden die unbelegten
und falschen Behauptungen nicht umgehend richtiggestellt (bitte ausführen)?

4. Wie ist der Bezug zur Gruppe der „Männer unter 40 Jahren“, bei denen an-
geblich zu 70 Prozent gesundheitsbedingte Abschiebungshindernisse festge-
stellt würden, in der Aussage des Bundesministers gegenüber der „Rheini-
schen Post“ entstanden, bzw. worin begründet er sich vor dem Hintergrund,
dass es hierzu auch in der Evaluierung in NRW aus dem Jahr 2011 und auch
in anderen nachträglich genannten Quellen keinerlei Bezug gibt?

5. Ist es zutreffend, dass die Aussage des Bundesministers in der Aktuellen
Stunde vom 23. Juni 2016, eine Evaluierung des Innenministeriums in NRW
habe ergeben, „dass 70 Prozent der Ausreisepflichtigen psychische Erkran-
kungen als Vollzugshindernisse geltend gemacht haben“, falsch bzw. zumin-
dest irreführend war, weil sich die Angabe zum Anteil der psychischen Er-
krankungen nicht auf alle „Ausreisepflichtigen“ bezog, sondern auf eine
Stichprobe von Fällen, bei denen insgesamt gesundheitsbedingte Abschie-
bungshindernisse vorgebracht worden waren (wenn nein, bitte nachvollzieh-
bar begründen)?

6. Warum wurde die Angabe zu den 70 Prozent psychischer Erkrankungen aus
der Evaluierung in NRW überhaupt herangezogen bzw. dem Bundesminister
zugearbeitet, wenn sie doch, wie dargelegt, völlig ungeeignet ist, um daraus
valide Schlüsse zu ziehen, in welchem Umfang Atteste im Zusammenhang
mit Abschiebungen vorgelegt werden – worum es aber in der Äußerung des
Bundesministers gegenüber der „Rheinischen Post“ und in der diesbezügli-
chen Aktuellen Stunde ging (bitte nachvollziehbar erläutern)?

7. Aus welchen Gründen haben der Bundesinnenminister in der Aktuellen
Stunde vom 23. Juni 2016 und das Bundesinnenministerium bei der Beant-
wortung der Mündlichen Frage 49 der Abgeordneten Ulla Jelpke (Plenarpro-
tokoll 18/178, S. 17568, Anlage 36) nicht auf den in der Vorbemerkung die-
ser Kleinen Anfrage dargelegten Kontext der in der Evaluierung in NRW
verwendeten Angaben hingewiesen?

8. Inwieweit hat der Bundesinnenminister zur Kenntnis genommen bzw. inwie-
weit ist ihm kommuniziert worden, dass die Hauptzielrichtung der Evalua-
tion in NRW des Jahres 2011 nicht ein etwaiges missbräuchliches Verhalten
von Betroffenen oder Ärztinnen und Ärzten war, sondern dass es vielmehr
um die Anwendung des Informations- und Kriterienkatalogs (IuK) ging, der
in Zusammenarbeit von Ausländerbehörden und Ärztinnen und Ärzten er-
stellt worden ist und der einen sorgfältigen, sachgerechten und rechtmäßigen
Umgang der Ausländerbehörden mit gesundheitsbedingten Abschiebungs-
hindernissen sicherstellen soll?

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 5 – Drucksache 18/9380
 

9. Hatte der Bundesinnenminister davon Kenntnis, dass in dem Runderlass vom
22. Februar 2012 des Innenministeriums in NRW, der Bezug auf die besagte
Evaluierung nimmt, als erste Maßgabe darauf hingewiesen wird, dass die
Ausländerbehörden „von Amts wegen verpflichtet“ sind, gesundheitsbe-
dingte Abschiebungshindernisse „in jedem Stadium der Durchführung der
Abschiebung zu beachten“ und „gegebenenfalls durch ein vorübergehendes
Absehen von der Abschiebung oder durch eine entsprechende tatsächliche
Gestaltung der Abschiebung die notwendigen Vorkehrungen zu treffen“?

10. Wieso wurden in diesem Zusammenhang nicht die umfangreichen sonstigen
Erkenntnisse und Vorschläge aus der Evaluierung übernommen, die in Rich-
tung eines sorgfältigen, fachgerechten und rechtmäßigen Umgangs mit ge-
sundheitsbedingten Abschiebungshindernissen gehen, und wieso wurden mit
dem Asylpaket II vielmehr nach Auffassung der Fragesteller sogar umge-
kehrte Schlussfolgerungen für einen verschärften Umgang mit (psychisch)
Kranken gezogen (Neuregelung des § 60 Absatz 7 und des § 60a Absatz 2c
und 2d des Aufenthaltsgesetzes – AufenthG)?

11. Wenn die „Attestquote“ in Abschiebeverfahren nicht bei 70 Prozent liegt,
wie vom Bundesinnenminister vermutet, sondern eher bei 25 Prozent (siehe
Vorbemerkung), besteht dann für den Bundesminister immer noch Grund zur
Klage, dass „zu viele Atteste von Ärzten ausgestellt“ würden, „wo es keine
echten gesundheitlichen Abschiebungshindernisse gibt“, wenn ja, welche
„Attestquote“ hielte der Bundesminister mit welcher Begründung für ange-
messen, und wenn nein, inwieweit ist das für ihn Anlass für eine öffentliche
Entschuldigung bzw. zumindest Richtigstellung der Zahlen (bitte begrün-
den)?

12. Welche Schlussfolgerungen für die Frage, ob bei Abschiebungen zu häufig
Atteste von Ärztinnen und Ärzten ausgestellt werden, sollen aus dem Ver-
weis des Bundesinnenministers in seiner Rede für die Aktuelle Stunde vom
23. Juni 2016 gezogen werden, dass laut Angaben der Ausländerbehörde in
Dortmund „über 85 Prozent der Menschen, die im Vorfeld einer Abschie-
bung medizinische Hindernisse geltend gemacht haben, im Anschluss an die
Abschiebung einen bereits von hier aus organisierten medizinischen Dienst
in ihrem Heimatland gar nicht mehr in Anspruch genommen haben“?
a) Welcher Art war nach Kenntnis der Bundesregierung der jeweils organi-

sierte medizinische Dienst im Herkunftsland, der nicht in Anspruch ge-
nommen wurde, und was waren die Gründe der Betroffenen hierfür?

b) Inwieweit ist es nach Kenntnis oder Einschätzung der Bundesregierung
vorstellbar, dass diese Dienste nur vorsorglich organisiert wurden, für ei-
nen nicht auszuschließenden ungünstigen Verlauf der Abschiebung oder
für drohende Gesundheitsgefährdungen, die sich natürlich aber nicht in
jedem Fall realisieren müssen, weswegen die Dienste ungenutzt bleiben?

c) Kann es nach Kenntnis oder Einschätzung der Bundesregierung nicht
auch sein, dass diese Dienste von vielen Betroffenen aus nachvollziehba-
ren Gründen als unzureichend angesehen und deshalb nicht in Anspruch
genommen wurden oder aber dass sie eigenständig nach anderen Formen
einer dauerhaften medizinischen Unterstützung gesucht haben?

d) Wenn die Bundesregierung hierzu keine genaueren Angaben machen
kann, wie ist es zu vertreten, dass Zahlen öffentlich verwandt werden, die
ohne weitere Erläuterungen keinerlei Aussage dazu ermöglichen, ob und
inwieweit krankheitsbedingte Abschiebungshindernisse zu Unrecht vor-
gebracht wurden oder nicht?

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13. Von welchem Anteil von Abschiebungen, bei denen gesundheitsbedingte
Abschiebungshindernisse eine Rolle spielen, ging die Bundesregierung aus,
als sie mit dem Asylpaket II Verschärfungen im Umgang mit (psychisch)
Kranken im Abschiebungsverfahren vorschlug und sich ausweislich der Be-
gründung (Bundestagsdrucksache 18/7538, zu Artikel 2 Nummer 2) dabei
maßgeblich auf den Bericht der Unterarbeitsgruppe Vollzugshindernisse
vom April 2015 bezog, in dem die Evaluierung aus NRW und die besagten
70 Prozent psychischer Erkrankungen erwähnt werden (ebd., S. 16), und
welche anderweitigen Quellen und Informationsgrundlagen wurden diesbe-
züglich herangezogen?

14. Wie ist es zu erklären, dass sich die Bundesregierung zur Begründung der
Verschärfungen im Umgang mit gesundheitsbedingten Abschiebungshinder-
nissen durch das Asylpaket II (Bundestagsdrucksache 18/7538, zu Artikel 2
Nummer 2) – und zwar ausschließlich – auf den Bericht der Unterarbeits-
gruppe Vollzugsdefizite vom April 2015 bezog, jedoch keinen der von der
Unterarbeitsgruppe in dem Bericht formulierten Lösungsvorschläge über-
nahm (S. 18 des Berichts: insbesondere Schaffung einer „von allen Seiten
akzeptierten neutralen und fachlich spezialisierten medizinischen Einrich-
tung zur Beurteilung medizinischer Fragestellungen“, die zudem zur „Über-
prüfung vulnerabler Personengruppen im Sinne der Aufnahme-Richtlinie“
dienen soll und vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF), den
Ausländerbehörden und der Bundespolizei für kurzfristige Klärungen der
Reisefähigkeit oder auch Haftfähigkeit genutzt werden könne), sondern statt-
dessen Gesetzesverschärfungen vorschlug, die in dem Bericht der Unterar-
beitsgruppe mit keinem Wort erwähnt werden (bitte ausführlich begründen)?

15. Aus welchen konkreten Gründen und Erwägungen wurden neben dem Be-
richt der Unterarbeitsgruppe Vollzugsdefizite bei der Erarbeitung der Geset-
zesverschärfungen im Umgang mit gesundheitsbedingten Abschiebungshin-
dernissen durch das Asylpaket II nicht auch Stellungnahmen und maßgebli-
che Erkenntnisse von Fachverbänden (z. B. Bundespsychotherapeutenkam-
mer, BPtK, Berufsverband Deutscher Psychologinnen und Psychologen
e. V., BDP, Bundesweite Arbeitsgemeinschaft Psychosozialer Zentren für
Flüchtlinge und Folteropfer e. V., BAfF) eingeholt oder berücksichtigt, und
warum wurden solche – durchweg sehr kritischen – fachlichen Stellungnah-
men zu den beabsichtigten Gesetzesänderungen im Umgang mit (psychisch)
Kranken nicht einmal berücksichtigt, nachdem sie vorlagen (vgl. z. B. Stel-
lungnahme der BPtK auf Ausschussdrucksache 18(4)488, Stellungnahme
des BDP an den Bundesinnenminister vom 2. Dezember 2015, Stellung-
nahme der BAfF vom 25. November 2015 zum Referentenentwurf)?

16. Inwieweit berücksichtigt die Bundesregierung in diesem Zusammenhang die
Einschätzung von B. M. vom Förderverein PRO ASYL (FAZ. vom 14. Juli
2016: „Arzt statt Abschiebung“), der von „propagandistischen Aktivitäten
der sogenannten AG Rück“ spricht, deren Texte oft nicht die wesentlichen
Daten zur Beurteilung einer Situation enthielten, dafür aber „eine Art kumu-
liertes Erfahrungswissen“, das aus einigen Einzelfällen ein generelles, meis-
tens von den Betroffenen vermeintlich verschuldetes Vollzugsdefizit ableite
und damit das öffentliche Klima gegen Flüchtlinge anheize?

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 7 – Drucksache 18/9380
 

17. Inwieweit ist dem Bundesinnenminister die in dem besagten Evaluierungs-
bericht aus NRW (dritter Teil: „Auswertung der Rechtsprechung“, 30. Ja-
nuar 2012, S. 9) enthaltene Übersicht über die Rechtsprechung zu gesund-
heitsbedingten Abschiebungshindernissen bekannt bzw. bekannt gemacht
worden (auf Bundestagsdrucksache 17/4779 erklärte die Bundesregierung zu
Frage 26, ihr liege keine Zusammenfassung der Rechtsprechung hierzu vor),
in der unter anderem auf die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts
vom 26. Februar 1998 (2 BvR 185/98) eingegangen wird, wonach die Aus-
länderbehörden „von Amts wegen in jedem Stadium der Durchführung der
Abschiebung“ Abschiebungshindernisse zu beachten haben und gegebenen-
falls von einer Abschiebung abgesehen werden muss, sowie auf die oberge-
richtliche Rechtsprechung zur Verpflichtung der Behörden, konkreten Hin-
weisen auf gesundheitsbedingte Abschiebungshindernisse nachzugehen,
wozu auch die Einholung eines Gutachtens gehören kann?

18. Wie ist mit der im Evaluationsbericht genannten Rechtsprechung (Beachtung
von Abschiebungshindernissen von Amts wegen, Aufklärungspflicht der Be-
hörden) vereinbar, dass mit dem Asylpaket II in § 60a Absatz 2c AufenthG
eine Regelvermutung in das Gesetz aufgenommen wurde, wonach grund-
sätzlich keine gesundheitlichen Abschiebungshindernisse vorliegen, und
dass dem entgegenstehende qualifizierte ärztliche Bescheinigungen nur dann
berücksichtigt werden dürfen, wenn sie bestimmten nach Auffassung der
Fragesteller (hohen) Anforderungen genügen und unverzüglich vorgelegt
werden (diesbezüglich gibt es eine Ausnahmeklausel zur „Unverschuldet-
heit“ bzw. zu „anderweitigen tatsächlichen Anhaltspunkten“), d. h. dass Aus-
länderbehörden gesetzlich dazu angehalten werden, qualifizierte ärztliche
Bescheinigungen über gesundheitsbedingte Abschiebungshindernisse nicht
zu beachten, wenn diese nicht „unverzüglich“ vorgelegt wurden, und dass sie
qualifizierte psychologische Fachgutachten grundsätzlich nicht beachten
dürfen, wie sich aus der Gesetzesbegründung ergibt, und wie ist das mit Ar-
tikel 1 Absatz 1 und Artikel 2 Absatz 2 des Grundgesetzes und rechtsstaatli-
chen Grundsätzen vereinbar?

19. Wie definiert die Bundesregierung „anderweitig tatsächliche Anhaltspunkte
für das Vorliegen einer lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkran-
kung, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würde“
(§ 60a Absatz 2d AufenthG), wenn doch nicht einmal ärztliche Atteste, die
nicht den eng umrissenen Qualitätsanforderungen entsprechen oder die nicht
„unverzüglich“ vorgelegt wurden, und auch keine psychologischen Fachgut-
achten geeignet sein sollen, einen Anhaltspunkt für das Vorliegen schwer
wiegender Abschiebungshindernisse zu geben (bitte ausführlich darstellen)?

20. Inwieweit muss bei der Prüfung, ob eine Person „unverschuldet an der Ein-
holung einer solchen Bescheinigung [nach § 60a Absatz 2c AufenthG] gehin-
dert“ ist, berücksichtigt werden, dass es nur ein sehr begrenztes Angebot an
Behandlungsplätzen und lange Wartelisten insbesondere im Bereich psychi-
scher Traumatisierungen gibt (vgl. www.spiegel.de/panorama/gesellschaft/
fluechtlinge-therapieplaetze-fuer-traumatisierte-fehlen-a-1045742.html), zu-
mal bei Geflüchteten im Regelfall eine fachkundige sprachliche Übersetzung
gesichert sein – und finanziert werden – muss (bitte ausführen)?

Drucksache 18/9380 – 8 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode
 

21. Inwieweit muss bei der Prüfung, dass eine Person „unverschuldet an der Ein-
holung einer solchen Bescheinigung [nach § 60a Absatz 2c AufenthG] ge-
hindert“ ist, berücksichtigt werden, dass die Gesundheitsversorgung nach
den §§ 4 und 6 des Asylbewerberleistungsgesetzes in der Regel auf die Be-
handlung schmerzhafter und akuter Krankheiten beschränkt ist, was jeden-
falls in der Praxis den Zugang zu entsprechenden Behandlungsmöglichkeiten
insbesondere für Traumatisierte deutlich erschwert oder sogar verhindert (vgl.
www.spiegel.de/gesundheit/diagnose/fluechtlinge-so-laeuft-die-medizinische-
versorgung-a-1081702.html), weil eine entsprechende Behandlung von den
jeweiligen Leistungsträgern genehmigt werden muss (bitte ausführen)?

22. Inwieweit muss bei der Prüfung, ob eine Person „unverschuldet an der Ein-
holung einer solchen Bescheinigung [nach § 60a Absatz 2c AufenthG] ge-
hindert“ ist, berücksichtigt werden, dass es ein Teil des Krankheitsbildes der
posttraumatischen Belastungsstörung sein kann, dass Betroffene versuchen,
das Erlebte zu verdrängen und zu verschweigen und deshalb nicht zeitnah
über traumatische Erlebnisse berichten und keine entsprechende Behandlung
beginnen können, so dass ihnen nicht als schuldhaftes Versäumnis vorge-
worfen kann, wenn sie über eine Traumatisierung erst dann berichten oder
sich erst dann in eine entsprechende Behandlung begeben, wenn eine Ab-
schiebung unmittelbar bevorsteht, weil dann die Angst vor einer gewaltsa-
men Konfrontation mit dem verdrängten Trauma oft größer ist als der krank-
heitsimmanente Impuls, die traumatischen Erlebnisse zu verdrängen (vgl.
www.baff-zentren.org/news/stellungnahme-der-baff-e-v-zur-oeffentlichen-
anhoerung-des-ausschusses-fuer-gesundheit-am-08-06-2016/ und www.zeit.
de/wissen/gesundheit/2015-11/fluechtlinge-trauma-psychologie) (bitte aus-
führlich begründen)?

23. Inwieweit ist dem Bundesinnenminister zur Kenntnis gegeben worden, dass
in dem besagten Evaluierungsbericht aus NRW (dritter Teil: „Auswertung
der Rechtsprechung“, 30. Januar 2012, S. 9) darauf hingewiesen wird, dass
nach der Rechtsprechung (OVG NRW – 8 A 3053/08.A – vom 19. Dezem-
ber 2008) neben Fachärzten „auch Psychologische Psychotherapeuten auf-
grund ihrer fachlichen Qualifikation befähigt [sind], psychische Erkrankun-
gen, mithin auch posttraumatische Belastungsstörungen (PTBS) zu diagnos-
tizieren“, und wie ist mit dieser Rechtsprechung vereinbar, dass mit dem
Asylpaket II neu geregelt wurde, dass gutachterliche Stellungnahmen von
psychologischen Psychotherapeuten grundsätzlich nicht mehr zu beachten
sind, weil nach geltendem Gesetz nur eine Bescheinigung eines approbierten
Arztes die Regelvermutung, dass keine gesundheitsbedingten Abschiebungs-
hindernisse vorliegen, widerlegen kann (vgl. Bundestagsdrucksache
18/7538, Begründung zu Artikel 2 Nummer 2, § 60a Absatz 2c AufenthG)?

24. Wie ist nach Auffassung der Bundesregierung die gesetzliche Neuregelung,
wonach nur Atteste approbierter Ärztinnen und Ärzte, nicht aber Stellung-
nahmen und Gutachten psychologischer Psychotherapeutinnen und -thera-
peuten bei der Prüfung gesundheitsbedingter Abschiebungshindernisse Be-
rücksichtigung finden können sollen, damit zu vereinbaren, dass verbindli-
che medizinische Standards zur Behandlung posttraumatischer Belastungs-
störungen die Psychotherapie als das Behandlungsmittel der Wahl vorsehen
und eine ausschließlich medikamentöse Behandlung in solchen Fällen nicht
angezeigt ist, sondern mindestens mit psychotherapeutischen Interventionen
kombiniert werden muss (vgl. Stellungnahme der Bundesweiten Arbeitsge-
meinschaft Psychosozialer Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer zum Re-
ferentenentwurf des BMI, Gesetz zur Einführung beschleunigter Asylverfah-
ren vom 25. November 2015, S. 3)?

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 9 – Drucksache 18/9380
 

25. Wie ist nach Auffassung der Bundesregierung die gesetzliche Neuregelung,
wonach nur Atteste approbierter Ärztinnen und Ärzte, nicht aber Stellung-
nahmen und Gutachten psychologischer Psychotherapeutinnen und -thera-
peuten bei der Prüfung gesundheitsbedingter Abschiebungshindernisse Be-
rücksichtigung finden können sollen, damit zu vereinbaren, dass Psycholo-
gische Psychotherapeutinnen und -therapeuten seit der Verabschiedung des
Psychotherapeutengesetzes vor über 15 Jahren eine geregelte Ausbildung ab-
solvieren müssen und mit der Approbation zur Behandlung psychisch er-
krankter Patientinnen und Patienten befugt und aufgrund ihrer Ausbildung
besonders geeignet sind, während im Gegenzug approbierte Ärztinnen und
Ärzte (z. B. der Kardiologie, Orthopädie usw.) häufig nicht über eine ent-
sprechende Fachkunde in Bezug auf bei Geflüchteten häufig auftretende psy-
chische Erkrankungen verfügen, wenn sie keine entsprechende Zusatzquali-
fikation erworben haben (vgl. www2.psychotherapeutenkammer-berlin.de/
uploads/20160203_pm_bptk_asylrechtspaket_ii.pdf“: „Für eine qualifizierte
Begutachtung von psychischen Erkrankungen reicht eine Approbation als
Arzt aber nicht aus“, stellt der BPtK-Präsident fest: „Depressionen und post-
traumatische Erkrankungen erfordern einschlägige fachärztliche oder psy-
chotherapeutische Kompetenz“) (bitte begründen)?

26. Warum ist in der Begründung zu Artikel 2 Nummer 1 des Gesetzentwurfs
zur Einführung beschleunigter Asylverfahren auf Bundestagsdrucksache
18/7538 davon die Rede, dass psychische Erkrankungen, z. B. PTBS
„schwer diagnostizier- und überprüfbar“ seien (die BPtK bezeichnet diese
Aussage als „fachlich falsch“, Ausschussdrucksache 18(4)488, S. 12), ob-
wohl psychische Erkrankungen von Fachleuten „hinreichend sicher diagnos-
tiziert“ werden können, wie auch der BDP in einem Schreiben vom 2. De-
zember 2015 an den Bundesinnenminister dargelegt hat (S. 2, bitte begrün-
den)?

27. Welche Erkenntnisse oder Einschätzungen hat die Bundesregierung dazu, in
welchem Umfang (auch relativ zur Gesamtzahl der ausgestellten Atteste und
Gutachten) von Ärztinnen und Ärzten bzw. psychologischen Psychothera-
peutinnen und -therapeuten bewusst falsche Atteste oder Gutachten im Kon-
text aufenthaltsbeendender Maßnahmen ausgestellt wurden oder werden
(bitte darlegen), und stimmt die Bundesregierung der Auffassung zu, dass
hiervon nicht bereits dann die Rede sein kann, wenn unterschiedliche Diag-
nosen unterschiedlicher Medizinerinnen und Mediziner vorliegen, weil un-
terschiedliche Einschätzungen und unterschiedlich intensive Kenntnisse des
jeweiligen Einzelfalls zu unterschiedlichen Ergebnissen führen können, ohne
dass von einem „Gefälligkeitsgutachten“ gesprochen werden kann (bitte aus-
führen)?

28. Wenn der Bundesregierung keine verlässlichen Informationen dazu vorlie-
gen, in welchem Umfang angeblich bewusst falsche „Gefälligkeitsatteste“
erstellt werden, worauf begründet sich dann das vom Bundesinnenminister
geäußerte Misstrauen, es könne nicht sein, dass „immer noch zu viele Atteste
von Ärzten ausgestellt“ würden, „wo es keine echten gesundheitlichen Ab-
schiebungshindernisse gibt“ (siehe Vorbemerkung)?

Drucksache 18/9380 – 10 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode
 

29. Ist der Bundesregierung bekannt, dass Ärztinnen und Ärzten per Berufsord-
nung dazu verpflichtet sind, sich an gewisse Regeln und genaue Richtlinien
zu halten und bei Nichteinhaltung die zuständigen Landesärztekammern dies
überprüfen können?
In wie vielen Fällen gibt es nach Kenntnis der Bundesregierung solche Ver-
fahren mit welchem Ergebnis im Zusammenhang mit der medizinischen Prü-
fung medizinischer Abschiebungshindernisse, und wie viele Ärztinnen und
Ärzte wurden bislang nach Kenntnis der Bundesregierung wegen falsch aus-
gestellter Atteste mit welchen Sanktionen belegt (bitte ausführen)?

30. Inwiefern, wann, und in welcher Form wird das Bundesinnenministerium in
einen Dialog mit Ärztinnen und Ärzten sowie psychologischen Psychothera-
peutinnen und -therapeuten treten, um die umstrittenen Fragen des auslän-
derrechtlichen und praktischen Umgangs mit (psychisch) kranken Men-
schen, insbesondere bei Abschiebungen, zu besprechen und zu klären, und
wenn dies nicht beabsichtigt ist, warum nicht (bitte darlegen)?

31. Welche Schlussfolgerungen zieht die Bundesregierung aus der Einschätzung
des Gutachters H. W. G. (FAZ vom 14. Juli 2016: „Arzt statt Abschiebung“),
dass nur etwa 20 Prozent der Traumatisierungen bei Geflüchteten tatsächlich
erkannt würden, weil es – trotz Verpflichtungen aus der Asylverfahrensricht-
linie – kein Verfahren gebe, mit dem vulnerable Personen identifiziert wür-
den (bitte ausführen)?

32. Inwieweit haben der Bund oder nach Kenntnis der Bundesregierung die Län-
der wann evaluiert, welche gesundheitlichen Belastungen und welche kurz-,
mittel- und langfristigen negativen Folgewirkungen Abschiebungen von Per-
sonen hatten, die gesundheitsbedingte Abschiebungshindernisse geltend ge-
macht haben, und wenn keine Evaluation erfolgt ist, warum nicht?

33. Inwieweit kommt die Bundesrepublik Deutschland nach der Verschärfung
des Umgangs mit (psychisch) kranken Menschen bei Abschiebungen durch das
Asylpaket II noch den durch die Bundesregierung am 29. August 2011 gegenüber
dem UN-Antifolterausschuss eingegangenen Zusicherungen (www.institut-
fuer-menschenrechte.de/fileadmin/user_upload/PDF-Dateien/Pakte_
Konventionen/CAT/cat_state_report_germany_5_2009_list_of_issues_
AntwortNReg2011_en.pdf, dort S. 6, Nummer 7) nach, jegliche Abschie-
bung zu unterlassen, solange eine PTBS nicht ausgeschlossen werden kann
oder irgendein Anzeichen für ein Gesundheitsrisiko im Zusammenhang mit
einer Abschiebung besteht („Before a foreign national is handed over to the
Federal Police for deportation, the Länder authorities must conduct a medical
examination if there is any indication of a health risk or other risks which
could have an impact on execution of the order. These examinations are con-
ducted with a special focus on post-traumatic stress disorders (PTBS). As
long as the existence of a post-traumatic stress disorder cannot be ruled out,
removal by air will not take place“), und wie ist mit der damaligen Zusiche-
rung, PTBS stünden bei solchen gesundheitlichen Überprüfungen im Fokus,
vereinbar, dass nach der Begründung der entsprechenden Verschärfung von
§ 60 Absatz 7 Satz 2 AufenthG ein zu beachtendes gesundheitsbedingtes Ab-
schiebungshindernis „in Fällen von PTBS regelmäßig nicht angenommen
werden“ könne (Bundestagsdrucksache 18/7538, Begründung zu Artikel 2
Nummer 1; bitte ausführlich begründen)?

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 11 – Drucksache 18/9380
 

34. Wie lauten die aktuellen Zahlen des Ausländerzentralregisters (AZR) zu Ge-
duldeten in Deutschland (bitte auch nach den 15 wichtigsten Herkunftsstaa-
ten, Geschlecht, Alter und Bundesländern differenzieren), und wie groß ist
die Zahl der aus medizinischen Gründen geduldeten Personen (bitte ebenfalls
nach den 15 wichtigsten Herkunftsstaaten, Geschlecht, Alter und den Bun-
desländern differenzieren)?

35. Wie aussagekräftig sind diese Zahlen nach Einschätzung der Bundesregie-
rung, nachdem die neue Kategorie medizinischer Duldungsgründe im AZR
im November 2015 eingeführt wurde (vgl. FAZ vom 14. Juli 2016: „Arzt
statt Abschiebung“), wie lange dauert die entsprechende technische Anpas-
sung der IT-Systeme der Ausländerbehörden, und womit begründet das Bun-
desinnenministerium seine Auffassung, Duldungsgründe würden bei einer
Duldungsverlängerung „häufig nicht aktualisiert“ (ebd.)?

36. Inwieweit sind nach Einschätzung der Bundesregierung die Angaben des
AZR zu medizinischen Duldungsgründen, unabhängig von der möglicher-
weise noch beschränkten Aussagekraft dieser Angaben, vereinbar mit Ein-
schätzungen, wonach 70 Prozent der Männer unter 40 Jahren vor einer Ab-
schiebung für krank und nicht transportfähig erklärt würden bzw. wonach
70 Prozent der Ausreisepflichtigen psychische Erkrankungen als Vollzugs-
hindernis geltend gemacht hätten, und welche generellen Schlussfolgerungen
zieht die Bundesregierung aus den Daten des AZR zu medizinischen Dul-
dungsgründen?

37. Besaß der syrische Attentäter von Ansbach nach Kenntnis der Bundesregie-
rung (zuletzt) eine Duldung aus medizinischen Gründen, inwieweit war eine
Suizidgefahr für den Fall einer drohenden Abschiebung nach Bulgarien im
konkreten Fall diagnostiziert oder vorgebracht worden, und inwieweit, und
mit welcher Begründung haben Behörden und Gerichte eine solche Suizid-
gefahr gegebenenfalls als Abschiebungshindernis gewertet oder nicht (bitte
auch im Zeitverlauf darstellen), und mit welcher Begründung und aufgrund
welcher geänderten Umstände hat insbesondere das BAMF am 13. Juli 2016,
entgegen der vorherigen Duldungspraxis, entschieden, den Betroffenen zur
Ausreise nach Bulgarien aufzufordern und ihm andernfalls eine Abschiebung
anzudrohen, obwohl konkrete Hinweise auf einen drohenden Suizid bzw. so-
gar für einen „spektakulären Selbstmord“ für diesen Fall vorlagen (vgl. Süd-
deutsche Zeitung vom 26. Juli 2016: „Erster Selbstmordanschlag in Deutsch-
land“, DIE WELT vom 27. Juli 2016: „Mohammed D. war ‚spektakulärer
Selbstmord‘ zuzutrauen“; bitte ausführen)?

38. Inwieweit haben nach Kenntnis der Bundesregierung Behörden und Gerichte
bei der Prüfung von Abschiebungshindernissen in Bezug auf die geplante
Abschiebung des psychisch kranken syrischen Flüchtlings (vgl. www.br.de/
nachrichten/mittelfranken/inhalt/attentaeter-ansbach-behandlung-ausgesetzt-
100.html), des späteren Attentäters von Ansbach, nach Bulgarien berück-
sichtigt, dass er dort nach eigenen Angaben inhaftiert, misshandelt und ihm
eine medizinische Behandlung (Granatsplitter in Armen und Beinen) verwei-
gert und er zudem in die Obdachlosigkeit entlassen worden sein soll (Letzte-
res deckt sich mit allgemeinen Informationen zu Bulgarien, etwa von PRO
ASYL, die im Kern auch vom Auswärtigen Amt bestätigt wurden:
www.proasyl.de/news/auswaertiges-amt-bestaetigt-fluechtlinge-bleiben-in-
bulgarien-schutzlos/), was insbesondere Vorgaben des EU-Rechts zum Um-
gang mit besonders schutzbedürftigen Asylsuchenden widersprechen würde
(bitte ausführen)?

Drucksache 18/9380 – 12 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode
 

39. Welche Informationen liegen der Bundesregierung dazu vor, aus welchen
Gründen die weitere Kostenübernahme für die Therapie des psychisch
kranken syrischen Flüchtlings, des späteren Attentäters von Ansbach, erst
nach monatelanger Verzögerung genehmigt wurde (einem Antrag von
Januar 2016 sei erst zum 1. August 2016 entsprochen worden; vgl.
www.br.de/nachrichten/mittelfranken/inhalt/attentaeter-ansbach-behandlung-
ausgesetzt-100.html), wer hat nach Kenntnis der Bundesregierung den Ver-
längerungsantrag für die Kostenübernahme in welchem konkreten Verfahren
geprüft, inwieweit waren die eingeschränkten Bedingungen der Behand-
lungskostenübernahme im Rahmen des Asylbewerberleistungsgesetzes für
die Verzögerung (mit-)verantwortlich, und inwieweit geht die Bundesregie-
rung davon aus, dass die Behandlungsunterbrechung eine psychische Desta-
bilisierung des Attentäters und seine Bereitschaft für ein Selbstmordattentat
zumindest befördert haben könnte (bitte ausführen)?

40. Welche konkreten Konsequenzen zieht die Bundesregierung aus den bekannt
gewordenen Abläufen im Zusammenhang mit dem psychisch kranken Atten-
täter von Ansbach, insbesondere in Hinblick auf verbesserte Behandlungs-
möglichkeiten für psychisch erkrankte Geflüchtete und einen anderen Um-
gang mit in anderen Ländern anerkannten Flüchtlingen, die oft aus guten
Gründen nicht zurückkehren können, was auch der vormalige Präsident des
BAMF, Dr. Manfred Schmidt, bestätigte, als er im Januar 2015 erklärte:
„Das Schlimmste, was ihnen heute passieren könnte, wäre, anerkannter
Flüchtling in Italien zu werden“, da dort „selbst Familien mit Kleinkindern
unter Brücken schlafen“ müssen (Fränkische Landeszeitung vom 20. Januar
2015) – was sich mühelos auf die Situation anerkannter Flüchtlinge z. B. in
Bulgarien übertragen lässt und die Verzweiflung des syrischen Flüchtlings
angesichts der drohenden Abschiebung nach Bulgarien erklärt (bitte ausfüh-
ren)?

Berlin, den 9. August 2016

Dr. Sahra Wagenknecht, Dr. Dietmar Bartsch und Fraktion

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