BT-Drucksache 18/9029

Entwurf eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigungen in einem Ghetto

Vom 5. Juli 2016


Deutscher Bundestag Drucksache 18/9029
18. Wahlperiode 05.07.2016

Gesetzentwurf
der Abgeordneten Ulla Jelpke, Azize Tank, Matthias W. Birkwald, Dr. Petra Sitte
und der Fraktion DIE LINKE.

Entwurf eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur
Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigungen in einem Ghetto

A. Problem und Ziel
Zeiten der Beschäftigung in einem Ghetto gelten als Beitragszeiten für die deut-
sche Rentenversicherung. Der Gesetzgeber hat mit dem im Jahr 2002 einstimmig
verabschiedeten Gesetz zur Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigungen in
einem Ghetto (ZRBG) klargestellt, dass es für solche Beschäftigungszeiten keine
pauschale Entschädigung geben soll, sondern Rentenzahlungen.

Von der Geltung üblicher rentenrechtlicher Bestimmungen ist beim ZRBG mehr-
fach abgewichen worden, weil mit dem ZRBG die Anerkennung von Beitragszei-
ten für entgeltliche Beschäftigung im Wesentlichen für Personen anerkannt
wurde, die das Versicherungseintrittsalter nicht erreicht haben. Das Bundessozi-
algericht ist im Juni 2009 von der engen Auslegung rentenrechtlicher Begriffe
abgewichen. Zuletzt wurde im Ersten Gesetz zur Änderung des ZRBG (Bundes-
tagsdrucksache 18/1308) unter anderem die Geltung von § 44 SGB X für den Be-
reich des ZRBG aufgehoben. Ausschlaggebend dafür war das Bestreben, den
Wünschen der ehemaligen Ghettobeschäftigten soweit wie möglich entgegenzu-
kommen.

Weiterhin gilt allerdings der Grundsatz, dass ein Rentenanspruch erst nach min-
destens fünfjähriger Wartezeit in Form von Beitrags- oder Ersatzzeiten begründet
wird. In der Praxis führt dies dazu, dass Jüdinnen und Juden bzw. Sinti und Roma,
obwohl sie in einem Ghetto beschäftigt waren, keine Rentenzahlungen erhalten,
sofern sie die Wartezeitenregelung nicht durch Beitragszeiten in Deutschland o-
der ihren Heimatländern bzw. durch die Anrechnung von Ersatzzeiten erfüllen.

Besonderen Benachteiligungen sehen sich dabei osteuropäische Sinti und Roma
ausgesetzt, die in ihren Heimatländern auch nach der Befreiung vom Faschismus
ausgegrenzt wurden und nicht gleichberechtigt in den Arbeitsmarkt inkludiert wa-
ren. Für die Betroffenen stellt sich ihr Ausschluss von Rentenzahlungen aus
Deutschland, obwohl sie im Ghetto beschäftigt waren, als Ungerechtigkeit dar.
Eine Gesetzesänderung soll ihnen ebenfalls einen Rentenanspruch zusichern.

Drucksache 18/9029 – 2 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode

B. Lösung
Bei allen Personen, die in einem Ghetto beschäftigt waren, gilt die Fiktion einer
subsidiären, lückenfüllenden, mindestens fünfjährigen Wartezeit, sofern sie nicht
bereits durch andere Beitragszeiten oder durch Ersatzzeiten erfüllt ist. Dadurch
begründet sich für alle ehemaligen Ghettobeschäftigten unabhängig von späteren,
in der deutschen Rentenversicherung anrechenbaren Beitragszeiten und von der
Anrechnung von Ersatzzeiten ein gesetzlicher Rentenanspruch.

Erst durch die Wartezeitfiktion wird für die betroffene Gruppe die Rente als eine
Entschädigung für die Ghettoarbeit zahlbar gemacht. Auch die Wissenschaftli-
chen Dienste sehen eine solche Regelung als vereinbar mit dem Grundgesetz an
(vgl. das WD-Gutachten „Besondere Wartezeitenregelung für Berechtigte nach
dem Ghettorentengesetz unter Beachtung des Gleichhandlungsgebotes – WD-6-
3000-049/16)“.

C. Alternativen
Einmalige Entschädigungszahlungen. Diese sind nur schwer gerecht festzulegen
und entsprechen, wie bereits in der Anhörung des Deutschen Bundestages am 10.
Dezember 2012 deutlich wurde, nicht den Erwartungen der Betroffenen und ha-
ben sich darüber hinaus nicht bewährt (vgl. Gutachten des Deutschen Bundesta-
ges, WD-6-3000-049/16).

D. Kosten
Die Zahl der Betroffenen kann nur geschätzt werden, dürfte aber eine niedrige
vierstellige Zahl übertreffen. Für diesen Personenkreis wären Rentenzahlungen in
voraussichtlich geringer Höhe sowie Nachzahlungen für den Zeitraum ab Juli
1997 zu leisten.

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 3 – Drucksache 18/9029

Entwurf eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur
Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigungen in einem Ghetto

Vom …

Der Bundestag hat das folgende Gesetz beschlossen:

Artikel 1

Änderung des Gesetzes zur Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigungen in einem Ghetto

Das Gesetz zur Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigungen in einem Ghetto vom 20. Juni 2002 in der
Fassung der Bekanntmachung vom 20. Juni 2002 (BGBl. I S. 3866), das zuletzt durch Artikel 1 des ersten Ände-
rungsgesetzes vom 15. Juli 2014 (BGBl. I S. 952) geändert worden ist, wird wie folgt geändert:

1. Nach § 2 wird folgender § 3 eingefügt:

㤠3

Wartezeiterfüllung

Die allgemeine Wartezeit gilt für Personen mit Beitragszeiten nach diesem Gesetz als erfüllt, soweit sie
nicht bereits durch andere Beitragszeiten oder durch Ersatzzeiten erfüllt ist.“

2. Die bisherigen §§ 3 bis 5 werden die §§ 4 bis 6.

Artikel 2

Inkrafttreten

Dieses Gesetz tritt am Tag nach der Verkündung in Kraft.

Berlin, den 5. Juli 2016

Dr. Sahra Wagenknecht, Dr. Dietmar Bartsch und Fraktion

Drucksache 18/9029 – 4 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode
Begründung

A. Allgemeiner Teil

Mit dem Gesetz zur Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigungen in einem Ghetto hat der Deutsche Bun-
destag im Jahr 2002 einstimmig beschlossen, dass Zeiten der Beschäftigung in einem Ghetto als Beitragszeiten
für die deutsche Rentenversicherung gelten. Dabei galt von Anfang an die Fiktion einer Beitragszahlung.

In der Folge zeigte sich, dass diese „rentenrechtliche Lösung“ zu ernsthaften Problemen führte. Zunächst wurden
über 90 Prozent aller Anträge abgelehnt, weil Rententräger und Gerichte einschlägige Begriffe wie „entgeltliche
Beschäftigung“ und „Freiwilligkeit der Beschäftigung“ eng interpretierten. Die Bedeutung dieser Begriffe hat das
Bundessozialgericht durch mehrere Entscheidungen im Jahr 2009 endgültig geklärt.

Die daraufhin nachträglich anerkannten Rentenanträge unterlagen dann aber der allgemeinen Rückwirkungsfrist
von vier Jahren des § 44 SGB X. Rentenberechtigte erhielten ihre Nachzahlungen nicht, wie vom Gesetzgeber
ursprünglich vorgesehen, ab dem Jahr 1997, sondern erst ab dem Jahr 2005. Wegen der von vielen Berechtigten
beklagten finanziellen Einbußen und dem Gefühl der ungerechten Behandlung hat der Deutsche Bundestag im
Jahr 2014 mit dem Ersten Gesetz zur Änderung des ZRBG die Rückwirkungsfrist aufgehoben. Auch Neuantrag-
steller können seither eine rückwirkende Zahlung ab dem Jahr 1997 erhalten. Zugleich wurde der Geltungsbereich
des ZRBG erweitert und umfasst seither auch Gebiete „des nationalsozialistischen Einflussbereichs“ und nicht
mehr nur, wie zuvor, unmittelbar vom Deutschen Reich besetzte oder ihm eingegliederte Gebiete.

Das ZRBG selbst, die BSG-Entscheidungen von 2009 und die Änderung des ZRBG im Jahr 2014 lösen die vor-
genannten Probleme entsprechend der besonderen Zielsetzung des ZRBG. Der spezifische Zweck des ZRBG, die
im Ghetto geleistete entgeltliche Arbeit versicherungsrechtlich zu beachten begründet und legitimiert diese Spe-
zial-Vorschrift.

Zu diesem Ergebnis kommen auch die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages (vgl. das WD-
Gutachten „Besondere Wartezeitenregelung für Berechtigte nach dem Ghettorentengesetz unter Beachtung des
Gleichhandlungsgebotes (WD-6-3000-049/16)).“

Bei der Verabschiedung und Überarbeitung des ZRBG waren dem Gesetzgeber ganz offensichtlich eine Reihe
möglicher Problemlagen nicht bewusst. Er war aber, nachdem diese erkannt wurden, bisher stets bemüht, sie zu
lösen. Eine spezifische noch ungelöste Frage ist die Frage der Wartezeiterfüllung.

Auf besondere, noch ungelöste Problemlagen hat unter anderem ein Appell des Verbandes der Jüdischen Glau-
bensgemeinschaften in Polen und der Vereinigung der Roma in Polen vom 27. Januar 2016 aufmerksam gemacht:
Noch immer werden Personen, die in einem Ghetto beschäftigt waren, Leistungen nach dem ZRBG verwehrt. Das
betrifft Personen, die keinen Nachweis über eine mindestens fünfjährige Wartezeit im Sinne des SGB VI vorlegen
können. Dies bedeutet für Kinder, die zwar in einem Ghetto verbotene Kinderarbeit geleistet haben, aber nicht
über weitere in der deutschen Rentenversicherung anrechenbare Beitragszeiten verfügen, dass sie keine Leistun-
gen nach dem ZRBG erhalten. Sie haben häufig auch keine Ersatzzeiten nach der Befreiung aus dem Ghetto, die
auf die Wartezeit anrechenbar wären.

Besonders betroffen von der damit verbundenen Gerechtigkeitslücke sind Sinti und Roma, die z. B. in Polen und
Rumänien vor Nachweisproblemen stehen. Zusätzlich ist eine Wartezeiterfüllung bei denjenigen Ghetto-Beschäf-
tigten nicht möglich, die außerhalb der EU in einem Staat wohnen mit dem kein Sozialversicherungsabkommen
besteht u.a. darüber, ob die dort erlangten Beitragszeiten in der deutschen Rentenversicherung angerechnet wer-
den. Im genannten Appell aus Polen heißt es dazu: „Aufgrund der Mehrfachdiskriminierung und mangelnder
gesellschaftlicher Inklusion waren Roma nach der Befreiung selten in geregelten Betrieben beschäftigt, die Bei-
träge an die polnische staatliche Sozialversicherung ZUS abführten.“ Auch in Rumänien sind zumindest mehrere
Dutzend Roma, die 1942 bis 1944 in einem Ghetto in Transnistrien einer Beschäftigung nachgegangen waren,
aufgrund der Nichterfüllung der Wartezeiten von Rentenleistungen aus Deutschland ausgeschlossen. Nach Anga-
ben des Historikers Petre Mattei haben die Betroffenen zwar in der Nachkriegszeit in Rumänien rentenversiche-
rungspflichtig gearbeitet. Weil diese Beschäftigungszeiten aber weniger als 15 Jahre andauerten – was quasi die

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rumänische Mindestversicherungszeit ist – hatten die Betroffenen für die entsprechenden Bescheide keine Ver-
wendung und haben sie teilweise nicht aufbewahrt. Eine Wiederbeschaffung ist für diesen Personenkreis, der
zudem meist illiterat ist, sehr schwierig, zum Teil auch, weil die Dokumente nicht immer ordentlich archiviert
sind. Im Ergebnis bleiben die Betroffenen ohne Rente, obwohl die Tatsache, dass sie ZRBG-Beitragszeiten erlangt
haben, von niemandem in Frage gestellt wird. Ähnliche Problemlagen sind in anderen osteuropäischen Staaten
und in Einzelfällen auch bei jüdischen Betroffenen anzunehmen.

Die Mehrzahl der vom beschriebenen Problem betroffenen Personen hat für ihre Beschäftigung im Ghetto, die
unter kaum vorstellbar grausamen Bedingungen erfolgte, bis zum heutigen Tag keine Entschädigungsleistung
erhalten. Die Tatsache, dass ehemalige Ghettobeschäftigte durch die Anrechnung von ausländischen Beitragszei-
ten und Ersatzzeiten ZRBG-Leistungen erhalten, andere dagegen ohne solche Zeiten , trotz gleichen Verfolgungs-
schicksals im Ghetto, nicht, wird von den Betroffenen als große Ungerechtigkeit empfunden. Einige von ihnen
haben zwar die sog. Anerkennungsleistung in Höhe von 2000 Euro erhalten, diese stellt jedoch keinen Ersatz für
die erforderlichen sozialrechtlichen Entschädigungsleistungen bzw. Rentenleistungen dar und war auch nie als
solche gedacht.

Die subsidiäre, lückenfüllende Fiktion der Erfüllung der Wartezeit für alle ehemaligen Ghetto-Beschäftigten
schließt diese Gerechtigkeitslücke. Die Pflicht Deutschlands, das Leid von NS-Opfern soweit möglich zu kom-
pensieren, ist nach dem besonderen Ziel des ZRBG zu verwirklichen und dringend geboten.

B. Besonderer Teil

Zu Artikel 1
Durch die Neuregelung gilt bei allen Personen, die in einem Ghetto beschäftigt waren, die gesetzliche Wartezeit
als erfüllt. Weitere Nachweise über Beitragszeiten oder die – altersabhängige – Anrechnung von Ersatzzeiten
könnten den Rentenanspruch ggf. erhöhen, sind aber keine Voraussetzung für einen solchen Anspruch. Damit ist
diese Regelung geeignet, auch solchen ehemaligen Ghetto-Beschäftigten, die die Wartezeiten-Anforderung nicht
erfüllen, einen, wenn auch bescheidenen, Rentenanspruch zuzugestehen.

Zu Artikel 2
Die Vorschrift regelt das Inkrafttreten der Änderung.

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