BT-Drucksache 18/9004

NATO-Raketenabwehrschirm und NATO-Nuklearstrategie im Umfeld des Warschauer Gipfels

Vom 24. Juni 2016


Deutscher Bundestag Drucksache 18/9004
18. Wahlperiode 24.06.2016

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Dr. Alexander S. Neu, Wolfgang Gehrcke, Christine Buchholz,
Annette Groth, Inge Höger, Andrej Hunko, Kathrin Vogler und der
Fraktion DIE LINKE.

NATO-Raketenabwehrschirm und NATO-Nuklearstrategie im Umfeld des
Warschauer Gipfels

Die Agenda des NATO-Gipfeltreffens in Warschau sieht nach Einschätzung maß-
geblicher Beobachter Beschlüsse sowohl betreffend die südliche als auch die öst-
liche Nachbarschaft des Bündnisgebietes vor. Im Vordergrund der Maßnahmen
an der „Ostflanke“ des Militärbündnisses steht die unkonditioniert langfristige
Weiterführung der Maßnahmen im Rahmen des Readiness Action Plan, der eine
weitere Verstärkung der NATO-Truppenpräsenz an der russischen Grenze vor-
sieht. Auch Maßnahmen zur Etablierung einer erstmaligen ständigen Flottenprä-
senz („NATO-Schwarzmeerflotte“) und eine Intensivierung von militärischen
Übungen und Manövern soll beschlossen werden. Im Rahmen der Ministertreffen
im Vorfeld des Gipfels in Warschau wurde überdies zentral auf die nach Angaben
der NATO-Minister nötige „Verstärkung des Abschreckungs- und Verteidi-
gungsdispositivs“ der NATO fokussiert. Inmitten dieser Maßnahmen soll mit der
politischen Erklärung des Gipfels über die Anfangs-Operationsbefähigung auch
der Aufbau des NATO-Raketenabwehrschirms (BMD) in Osteuropa weiter vo-
rangetrieben werden. Mit der Zertifizierung der Operationsfähigkeit der Raketen-
basis im rumänischen Deveselu (20. Mai 2016) wurde jetzt die Phase 2 des soge-
nannten European Phased Adaptive Approach abgeschlossen, die Phase 3 soll im
Jahr 2018 mit der Stationierung weiterer Abfangraketen (Interzeptoren) im pol-
nischen Redzikowo, knapp 300 km von der russischen Grenze entfernt, erreicht
werden. Eine Mischung aus see- und landgestützten Fähigkeiten des Raketenab-
wehrsystems Aegis, das ursprünglich nur für den Einsatz auf See gebaut wurde,
soll bis zum Jahr 2021 „einen Schutz vor Bedrohungen, die außerhalb des euro-
atlantischen Raums erwachsen“ (www.nato.int/cps/en/natolive/topics_49635.htm)
gewähren. Die Bundesregierung schließt sich dieser Zweckerklärung der NATO
seit den Erklärungen von Lissabon aus dem Jahr 2010 demonstrativ an und er-
klärt, auch mit eigenen Beiträgen an dem Projekt teilzunehmen. So ist es geplant,
das Operationszentrum für den Raketenabwehrschirm in Ramstein einzurichten.
Die USA beteuern immer wieder, dass sich das Projekt nicht gegen Russland und
dessen Nuklearwaffenkapazitäten richte, verweigern aber gleichzeitig jegliche
völkerrechtlich bindende vertragliche Festlegung zum Raketenabwehrschirm mit
der Russischen Föderation. Im Kontext der Diskussion um die sogenannte Rück-
versicherung der NATO-Staaten für die Regierungen Polens und des Baltikums
erhält die Diskussion über eine langfristig gedachte nukleare „Abschreckung“ ge-
genüber Russland wieder neue Fahrt. Die Nachrichtenagentur „Reuters“ resü-
mierte am 12. Mai 2016 eine „Vagheit im Bezug auf die mögliche Ausrichtbar-
keit des Raketenabwehrschirms gegen Russland“ in einer Reihe von Kommen-

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taren von führenden NATO-Repräsentanten (US-Botschafter bei der NATO,
Douglas Lute (Ü): „Wir stationieren […] um jedweder Gefahr zu begegnen“,
www.reuters.com/article/us-nato-shield-idUSKCN0Y30JX; Polens Präsident
Andrzej Duda: „[Die NATO benötigt den Raketenschirm] um unsere Truppen
rechtzeitig in Stellung zu bringen. Das Raketenarsenal der Russen ist so groß,
dass dies anders nicht möglich sein wird“, http://sputniknews.com/europe/
20160330/1037220991/poland-nato-missile-defense-russia.html). Auch NATO-
Generalsekretär Jens Stoltenberg hat immer wieder betont, dass das NATO-Ra-
ketenabwehrschild die russische Zweitschlagskapazität nicht gefährdet, weil die
in Rumänien und Polen stationierten bzw. zu stationierenden Raketen-Interzep-
toren (SM3) nicht die dafür nötige Geschwindigkeit von über 5 km/s erreichen
könnten – zu diesen Vermutungen, wie auch zu russischen Befürchtungen, es
könne dort eine klandestine Stationierung von Cruise-Missile-Systemen erfolgen,
gibt es keine Klarheit. Nach Auffassung der Fragesteller wird dieses Projekt zu
einer massiven weiteren Destabilisierung der sicherheitspolitischen Situation in
Osteuropa führen, sowohl was ein erhöhtes militärisches Eskalationsrisiko be-
trifft als auch die möglichen Folgen einer Unterminierung des Washingtoner Ver-
trags über nukleare Mittelstreckensysteme (INF-Vertrag) und damit auch anderer
Eckpfeiler der Rüstungskontrolle zwischen der Russischen Föderation und der
NATO. Die Bundesregierung hat sich durch ihre freiwillige Entscheidung zur
Teilnahme an der Entwicklung und Implementierung des Systems auch zur poli-
tischen Unterstützerin dieses Projekts gemacht. Das bürdet ihr nicht nur ein
Höchstmaß an politischer Mitverantwortung für die Folgen der Stationierung die-
ses Systems in Europa auf. Sie ist nach Auffassung der Fragesteller auch in der
Pflicht, Öffentlichkeit und Steuerzahler über die finanziellen Kosten des Projek-
tes, die Funktionsfähigkeit seiner Technik im Ernstfall und die politischen und
militärischen Konsequenzen seiner Implementation genau zu informieren.

Wir fragen die Bundesregierung:
1. Welche Rolle sollen Nuklearwaffen nach den Informationen der Bundesre-

gierung innerhalb der geplanten ‚Verstärkung des Abschreckungs- und Ver-
teidigungsdispositivs‘ der NATO einnehmen, und hat nach Auffassung der
Bundesregierung der NATO-Raketenabwehrschirm hierin eine Funktion?

2. Auf welchen Betrag belaufen sich nach Kenntnis der Bundesregierung die
derzeitigen Schätzungen der NATO zu den Gesamtkosten des Projekts
NATO-Raketenabwehrschirm?

3. Welche Beiträge leistet Deutschland derzeit zum Raketenabwehrschirm der
NATO, und welche Beiträge hat es bereits geleistet?
Welche Beiträge sollen bis wann finalisiert sein (bitte nach Teilprojekten,
Jahren und Kosten auflisten)?

4. Wie weit ist nach Kenntnis der Bundesregierung sichergestellt, dass das Kon-
troll- und Führungszentrum des Raketenabwehrsystems in Ramstein tatsäch-
lich so weit entwickelt ist, dass die Verantwortungsübergabe von den USA
an die NATO sichergestellt ist?
Wann wird die Verantwortungsübergabe stattfinden?
Wer hat danach im Ernstfall die Entscheidungsbefugnis über den Abschuss
eines sich nähernden Systems (d. h. einer Rakete)?

5. Mit wie viel Personal ist Deutschland am Competence Centre for Surface
Based Air and Missile Defense in Ramstein beteiligt, und inwieweit ist die
Bundesrepublik Deutschland personell am Kontroll- und Führungszentrum
für das Raketenabwehrsystem auf dem US-Luftwaffenstützpunkt in
Ramstein beteiligt?

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 3 – Drucksache 18/9004
 

6. Wie weit sind die Untersuchungen der Marine gediehen, um die drei deut-
schen F-124-Fregatten mit Sensorfähigkeiten für die Identifizierung von bal-
listischen Raketen in größeren Höhen auszustatten?
Welche weiteren Fähigkeiten sollen die betreffenden Sensoren haben, etwa
in Bezug auf nicht-ballistische Raketen?
Werden diese Sensoren auch mit anderen Raketenabwehrsystemen in Ver-
bindung stehen?

7. Welche militärischen Fähigkeiten haben nach Kenntnis der Bundesregierung
die bereits auf niederländischen und dänischen Fregatten montierten Senso-
ren?
Inwieweit sind sie mit den Sensoren vergleichbar, die auf den F 124 statio-
niert werden sollen?
Wurden sie bereits im Sinne der Raketenabwehrfähigkeit erprobt?
Wenn ja, wann und wie wurden sie erprobt, und was sind die Resultate dieser
Erprobung?

8. Gibt es Überlegungen, Schiffe der Bundesmarine auch mit Interzeptoren aus-
zustatten?
Wenn ja, welche Typen an Interzeptoren, und welche Abschussplattformen
werden ggf. für eine solche Ausstattung in Betracht gezogen?

9. Wurden bezüglich solcher Interzeptoren Tests mit bundesdeutscher Beteili-
gung durchgeführt, bzw. sind solche Tests in der Zukunft geplant?

10. Wie viele Abschuss-Tests wurden nach Kenntnis der Bundesregierung mit
dem System Aegis (sea-based), das die Interzeptor-Fähigkeit der derzeitig
stationierten vier seegestützten US-Interzeptor-Einheiten ausmacht, durch-
geführt?
Wie viele der Tests wurden mit dem erfolgreichen Abfang einer Rakete be-
endet?

11. Unter welchen Bedingungen auf welche Varianten des Einsatzes hin wurde
das System Aegis (sea-based) getestet?
Wie viele der Tests wurden nach Kenntnis der Bundesregierung mit Raketen
durchgeführt, deren Flugbahn und -zeit unbekannt waren?
Wie viele Tests wurden mit Raketen durchgeführt, die nicht mit einem extra
Zielleitsender oder anderen Hilfsmitteln für den Interzeptor ausgestattet wa-
ren?
Wie viele Tests fanden nachts statt?
Bei wie vielen Tests wurde die Fähigkeit des Systems, auf Gegenmaßnah-
men des Gegners zu reagieren, mit getestet (z. B. Simulation mehrerer oder
von Attrappensprengköpfen)?

12. Wie oft war nach Kenntnis der Bundesregierung geplant, das System Aegis
Ashore zu testen, und wie viele Tests wurden tatsächlich durchgeführt, bevor
die US-Raketenbehörde MDA die „operational effectiveness“ zertifizierte?
Wie viele der Tests waren erfolgreich im Sinne des gelungenen Abfangs ei-
ner Rakete?

13. Wurden die Bedingungen und Parameter der Tests für Aegis Ashore im
Laufe der Testperiode nach Kenntnis der Bundesregierung verändert?
Wenn ja, in welcher Weise?

Drucksache 18/9004 – 4 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode
 

14. In welcher Weise unterscheiden sich die Systeme Aegis (sea-based) und
Aegis Ashore nach den Informationen der Bundesregierung?

15. Können die getesteten SM3-Interzeptoren nach Kenntnis der Bundesregie-
rung Mehrfach-Sprengköpfe neutralisieren?

16. Sind die Radarsensoren bzw. andere elektronische Aufklärungsmechanis-
men des Projekts NATO-BMD nach Kenntnis der Bundesregierung in der
Lage, auch tieffliegende Raketen (Cruise-Missiles) zu identifizieren?

17. Mit welcher Erfolgswahrscheinlichkeit für den Abfang bzw. die Neutralisie-
rung einer ballistischen Rakete im von ihr angenommenen Fall eines An-
griffs durch einen sogenannten Rogue State rechnet die Bundesregierung
nach der Fertigstellung des Schirms?

18. Welche Bedrohungsanalyse liegt dem Projekt momentan zugrunde?
a) Hat sich nach Einschätzung der Bundesregierung durch das Atomabkom-

men mit dem Iran vom Vorjahr eine Veränderung in dieser Bedrohungs-
analyse ergeben?

b) Folgt die Bundesregierung der Einschätzung, dass obgleich konventionell
bestückte ballistische Raketen eine potentielle Gefahr für europäische
Ziele darstellen, diese Gefahr nicht existentieller Natur ist?

c) Vor dem Hintergrund einer faktischen Einfrierung des iranischen Atom-
programms, und der ungleich geringeren Bedrohung durch konventionell
bestückte ballistische Raketen, welche anderen kernwaffenanstrebenden
Staaten mit der Fähigkeit zur Produktion von Mittelstreckenraketen be-
drohen Europa nach Erkenntnissen der Bundesregierung heute?

19. Welcher Lesart schließt sich die Bundesregierung angesichts der offiziellen
Lesart der NATO, dieses System sei nicht gegen Russland gerichtet, und an-
derslautender Meldungen von Regierungsvertretern der USA und Polens an?

20. Aus welchen konkreten Gründen wurde nach Kenntnis der Bundesregierung
im Jahr 2014 die technische Zusammenarbeit zwischen NATO und Russland
auf dem Gebiet des Raketenabwehrschilds beendet?
Wie wurde gegenüber der russischen Seite, insbesondere in der Frage der
Transparenz und Offenlegung von Parametern der projektierten Waffen und
Infrastruktur, agiert?

21. Wie positioniert sich die Bundesregierung zu der russischen Befürchtung,
dass US-amerikanische Interzeptoren bereits jetzt eine Geschwindigkeit von
bis zu 6 km/s erreichen können (www.reuters.com/article/us-nato-shield-i
dUSKCN0Y217M)?
Welche Schlussfolgerungen zieht sie aus dem Umstand, dass bereits jetzt in
den USA US-Senatoren aktiv für ein weiteres Upgrade (und damit die wei-
tere Beschleunigung) der letzten Variante der SM3 eintreten, wie deutsche
Abrüstungsexperten berichten (www.pro-physik.de/details/phiuznews/
8172551/Sinn_und_Unsinn_der_strategischen_Raketenabwehr.html)?

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22. Wie positioniert sich die Bundesregierung zu dem russischen Statement, das
System MK41 VSL, das die zentrale Startplattform in beiden Landbasen
(Deveselu, Rumänien und Redzikowo, Polen) ist/sein wird, sei auch für
den Abschuss von Mittelstreckenraketen, insbesondere Cruise-Missiles
(wie z. B. vom Typ Tomahawk) befähigt (Vize-Außenminister Alexander
Grushkow vom 15. April 2016), was auch durch Angaben des Herstel-
lers selbst bestätigt wird (www.lockheedmartin.com/us/100years/stories/
aegis.html)?
Schließt die Bundesregierung die Möglichkeit aus, dass die Systeme in
Redzikowo und Deveselu die Fähigkeit zum Start von Cruise-Missiles haben
bzw. diese Fähigkeit erlangen können?

23. Wie beurteilt die Bundesregierung selbst daraus folgernd die Kompatibilität
des Systems MK41 VSL (und möglicher Weiterentwicklungen) mit den
Bestimmungen des INF-Vertrags?

24. Kann die Bundesregierung ausschließen, dass auch Mittelstreckensysteme,
insbesondere Cruise-Missiles, neben Interzeptoren in den Basen in Deveselu
und Redzikowo disloziert werden?

25. Wäre nach Auffassung der Bundesregierung die Dislozierung von bodenge-
stützten Cruise-Missile-Mittelstreckenraketen an der Westgrenze Russlands
ein Bruch des INF-Vertrages?

26. Wird sich die Bundesregierung dafür einsetzen, dass russische Inspekteure
in Deveselu und in Redzikowo im Rahmen vertrauensbildender Maßnahmen
die Abschusssysteme und die bevorrateten Waffensysteme untersuchen kön-
nen, um sich von deren Ausrichtung und ihrer Bewaffnung gemäß dem INF-
Vertrag ein Bild zu machen?

27. Wie positioniert sich die Bundesregierung zu dem Umstand, dass die USA,
trotz anders lautender mündlicher Statements, fortgesetzt ablehnen, Russland
völkerrechtlich bindende Zusagen zu geben, die Systeme des ballistischen
Raketenschilds nicht gegen Russland und russische ballistische Systeme zu
richten?

28. Hält die Bundesregierung den Aufbau eines NATO-Raketenschilds in der
jetzt geplanten Form für einen Schritt zu mehr strategischer Stabilität oder
mehr strategischer Instabilität in Europa?

Berlin, den 23. Juni 2016

Dr. Sahra Wagenknecht, Dr. Dietmar Bartsch und Fraktion

Satz: Satzweiss.com Print, Web, Software GmbH, Mainzer Straße 116, 66121 Saarbrücken, www.satzweiss.com
Druck: Printsystem GmbH, Schafwäsche 1-3, 71296 Heimsheim, www.printsystem.de

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