BT-Drucksache 18/8687

Pflegebetrug durch ambulante private Pflegedienste

Vom 31. Mai 2016


Deutscher Bundestag Drucksache 18/8687
18. Wahlperiode 31.05.2016

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Pia Zimmermann, Birgit Wöllert, Sabine Zimmermann (Zwickau),
Katja Kipping, Cornelia Möhring, Azize Tank, Frank Tempel, Kathrin Vogler,
Harald Weinberg und der Fraktion DIE LINKE.

Pflegebetrug durch ambulante private Pflegedienste

Laut aktuellen Medienberichten soll sich in den letzten Jahren in der ambulanten
medizinischen und pflegerischen Versorgung ein Betrug mit Schäden in mindes-
tens dreistelliger Millionenhöhe pro Jahr ereignet haben, vor allem im Bereich
der häuslichen Krankenpflege von Schwerstkranken und Intensivpatientinnen
und Intensivpatienten, (www.welt.de/print/wams/wirtschaft/article154429124/
Gefaehrliche-Pfleger.html). Hinter diesen kriminellen Handlungen stecken laut
Bundeskriminalamt organisierte Gruppen. Je nach Modell sind Ärztinnen und
Ärzte beteiligt, die Verordnungen ausstellen, die nicht benötigt werden, oder vor-
geblich Pflegebedürftige, die ihre Pflege- und Behandlungsbedürftigkeit teilweise
oder vollständig vortäuschen. Zudem ist es bei Schwerstkranken und Intensivpa-
tienten offenbar zu Fällen gekommen, in denen notwendige Leistungen unter Mit-
wisserschaft von Angehörigen nur teilweise erbracht wurden.
Im Zentrum dieser Modelle stehen nach bisherigen Erkenntnissen private Pflege-
dienste, die Leistungen abrechnen, die nicht erbracht wurden. Das Betrugsmodell
soll funktionieren, weil zum Schutz der Privatsphäre in privaten Wohnungen „die
Kassen keine Möglichkeit für unangemeldete Prüfungen in der Krankenpflege
hätten“ (FAZ, 20. April 2018).
Zwar kam es „in den vergangenen Jahren bundesweit“ zu „deutlich mehr als hun-
dert Strafverfahren“, in denen die „Ermittler der Landeskriminalämter aus ihrer
Sicht eindeutige Belege für Kassenbetrug im großen Stil zusammengetragen hat-
ten“. Allerdings stellten die „Staatsanwaltschaften die Ermittlungen teils ergebnislos
ein“ (DIE WELT, 18. April 2016). Der Städte- und Gemeindebund führt dies darauf
zurück, „dass die wenigsten Staatsanwaltschaften Personen haben, die auf Abrech-
nungsbetrug im Gesundheitswesen spezialisiert sind“ (DIE WELT, 18. April 2016).
In den wenigen Fällen, in denen es zu Verurteilungen kam, führten diese aller-
dings nach Aussage der AOK Niedersachsen zu „oft keinen langfristigen Ef-
fekt(en)“, weil es sich „(m)eist […] um Bewährungsstrafen“ handelte, und „die
Hintermänner […] rasch wieder neue [private] Pflegedienste“ aufmachen, um
weiterhin „illegalen Profit“ zu erzielen (Der Tagesspiegel, 22. April 2015).
Diese seit Jahren bestehenden Missstände sollen nun mit verschärfter Kontrolle,
(Straf-)Verfolgung, Hausdurchsuchungen und Razzien bis hin zu „verdeckte(n)
Ermittlern“ bekämpft werden (Karl-Joseph Laumann, Frankfurter Rundschau,
23. März 2016). Die grundlegenden Probleme einer fragmentierten, häufig in pri-
vater Hand befindlichen Pflegelandschaft, die Intransparenz, Ineffektivität und
Betrugsanreize hervorbringen, („Dickicht der Pflegedienste“, DIE WELT,
23. April 2016), rücken bis jetzt wenig ins Blickfeld.

Drucksache 18/8687 – 2 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode
 

Wir fragen die Bundesregierung:
1. Seit wann haben nach Kenntnis der Bundesregierung welche staatlichen bzw.

im öffentlichen Auftrag tätigen Institutionen Kenntnis von dem jetzt bekannt
gewordenen organisierten Betrug oder organisierter Kriminalität in der
Pflege erhalten?

2. Wann und aus welchen Anlässen hat sich nach Kenntnis der Bundes-
regierung Europol zum Betrug in der Pflege geäußert (Nordwest-Zeitung,
18. April 2016, Der Tagesspiegel, 18. April 2016)?
In welchen anderen europäischen Ländern ist es nach Kenntnis der Bundes-
regierung zu vergleichbaren Betrugsfällen in der Pflege gekommen?
In welchem Ausmaß sind skandinavische Länder betroffen?
In welchem Ausmaß sind (europaweit) private Träger und in welchem Aus-
maß öffentliche oder freigemeinnützige Träger betroffen?

3. Trifft es nach Kenntnis der Bundesregierung zu, dass der Berliner Bezirks-
stadtrat Stephan von Dassel „schon vor zwei Jahren an den Patientenbeauf-
tragten der Bundesregierung geschrieben“ und dabei auf diese Probleme hin-
gewiesen, aber „‘nie eine Antwort‘“ erhalten hat (Berliner Zeitung, 20. April
2016)?
Falls nein, welchen Inhalt hatte die Antwort der Bundesregierung an Stephan
von Dassel, und welche Maßnahmen hat die Bundesregierung seitdem ergriffen?

4. Wie viele Fälle davon sind nach Kenntnis der Bundesregierung dem Bereich
des organisierten Betrugs bzw. der organisierten Kriminalität zuzuordnen?
Wie grenzt sich nach Kenntnis der Bundesregierung organisierter Betrug von
organisierter Kriminalität ab?

5. Wie viele Fälle sind der Bundesregierung bekannt, in denen seit Einführung
der Pflegeversicherung gegen Pflegeeinrichtungen wegen des Verdachts auf
(einfachen) Betrug oder des Verdachts des organisierten Betrugs bzw. der
organisierten Kriminalität ermittelt wurde oder wird, und in wie vielen Fällen
kam es zu Verurteilungen?
Wie verteilen sich die Fälle und das Schadensvolumen nach Gliederung der
Trägerschaft (privat, freigemeinnützig, öffentlich)?

6. Wie viele ambulante Pflegedienste gibt es nach Kenntnis der Bundesregie-
rung bundesweit, die sich auf die Pflege schwerstkranker Intensivpatientin-
nen und Intensivpatienten spezialisiert haben, und wie viele solcher Patien-
tinnen und Patienten werden ambulant versorgt (bitte nach Bundesländern
auflisten, bitte nach privater und öffentlicher bzw. freigemeinnütziger Trä-
gerschaft aufschlüsseln)?

7. Welche Strategien verfolgt die Bundesregierung zur Vermeidung von Pfle-
gebetrug, und wie beurteilt die Bundesregierung die Wirksamkeit einer
Rückführung von Pflegeeinrichtungen in nichtkommerzielle Trägerschaft als
Instrument, um Anreize für betrügerisches Handeln zu reduzieren?

8. In welchem Maße sind nach Auffassung der Bundesregierung verstärkte
Kontrollen, verdeckte Ermittler, Hausdurchsuchungen und das Androhen hö-
herer Strafen geeignet, um Anreize für betrügerisches Handeln weitgehend
zu eliminieren (bitte begründen)?

9. Welche Maßnahmen entwickelt oder prüft die Bundesregierung, und in wel-
cher Weise unterstützt sie folgende Vorschläge:
a) die bisher papierbasierte Dokumentation der Pflegeleistungen bundesein-

heitlich auf eine digitale umzustellen,

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 3 – Drucksache 18/8687
 

b) eine personelle und finanzielle Stärkung des Medizinischen Dienstes der
Krankenkassen,

c) intensivere Kontrollen im Bereich ambulanter Leistungen,
d) verstärkte Kontrollen bei Ärztinnen und Ärzten, die die von organisiertem

Betrug betroffenen Leistungen verordnen,
e) eine Stärkung der zuständigen Staatsanwaltschaften bzw. die Bildung von

Schwerpunktstaatsanwaltschaften,
f) den Einsatz von verdeckten Ermittlern,
g) die Verschärfung des Strafrechts?

10. Welche weiteren Maßnahmen werden von der Bundesregierung derzeit ge-
plant oder erwogen?

11. Von welchen Kostenabschätzungen geht die Bundesregierung für die derzeit
geplanten erweiterten Maßnahmen aus (bitte begründen, falls keine Kosten-
abschätzungen vorgenommen wurden)?

12. Wie beurteilt die Bundesregierung die Option, zumindest die ambulante Ver-
sorgung besonders schutzbedürftiger, schwerstkranker Intensivpatientinnen
und Intensivpatienten ausschließlich freigemeinnützig oder in öffentlicher
Hand zu organisieren?

13. Wie viele Ermittlungsverfahren und Verurteilungen gab es nach Kennt-
nis der Bundesregierung wegen fahrlässiger Tötung (DIE WELT,
18. April 2016) in den letzten zehn Jahren in der ambulanten Pflege (bitte
nach Bundesländern und Jahren auflisten)?
In wie vielen Fällen wurde ermittelt?

14. Wie viele Ermittlungsverfahren und Verurteilungen gab es wegen Abrech-
nungsbetrug in den letzten zehn Jahren in der ambulanten Pflege (bitte nach
Bundesländern und Jahren auflisten)?
In wie vielen Fällen wurde ermittelt?

15. Wie viele Strafverfahren wegen Sozialbetrugs in der ambulanten Pflege
(Hilfe zur Pflege nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch – SGB XII) sind
der Bundesregierung bekannt, und in welcher Höhe sind Schäden für die
Kommunen entstanden (bitte einzeln und nach Bundesländern auflisten)?

16. Kann die Bundesregierung die abgegebenen Schätzungen bestätigen, nach
denen sich die Höhe des entstandenen Schadens auf mittlerweile „jährlich
mindestens eine Milliarde Euro“ (www.tagesschau.de/inland/pflege-betrug-
bka-101.html) allein im Bereich der Intensivpflegepatientinnen und Intensiv-
pflegepatienten bemisst, und hält die Bundesregierung diese Angaben für se-
riös?

17. Wie viele Beschwerden von Menschen mit Pflegebedarf oder Beschäftigten
in der Pflege wurden nach Kenntnis der Bundesregierung bei den Pflegekas-
sen eingereicht (bitte nach Ländern aufschlüsseln)?
Wie viele dieser Beschwerden wurden zur staatsanwaltlichen Ermittlung
übergeben?

18. Wie viele verdachtsgestützte, unangemeldete Prüfungen durch den Medizi-
nischen Dienst der Krankenkassen (MDK) nach § 114a SGB XI fanden seit
Einführung dieser gesetzlichen Möglichkeit nach Kenntnis der Bundesregie-
rung im ambulanten Bereich statt?

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19. Wie viele verdachtsunabhängige und verdachtsabhängige Kontrollen auf
Sozialbetrug (Hilfe zur Pflege) gab es nach Kenntnis der Bundesregierung
durch die Sozialämter in der ambulanten Pflege seit dem Jahr 2005 (bitte
nach Bundesländern auflisten)?

20. In welchem Kostenumfang wurden nach Kenntnis der Bundesregierung
Leistungen abgerechnet, die nicht, nicht vollständig oder nicht in der gefor-
derten Qualität erbracht wurden (bspw. indem kostengünstigere Hilfskräfte
statt Fachkräfte eingesetzt worden sind, DIE WELT, 18. April 2016,
www.welt.de/154426270)?

21. In welchen Bundesländern kam es nach Kenntnis der Bundesregierung zu
wie vielen Fällen, in denen Landeskriminalämter „aus ihrer Sicht eindeutige
Belege für Kassenbetrug im großen Stil zusammengetragen hatten“, die
„Staatsanwaltschaften die Ermittlungen“ aber „teils ergebnislos“ eingestellt
haben (DIE WELT, 18. April 2016)?

22. In welchen Staatsanwaltschaften gibt es nach Einschätzung der Bundesregie-
rung ausreichend personelle Kapazitäten zu Ermittlungen von Abrechnungs-
betrug im Gesundheitswesen?
Welche Gründe sind nach Kenntnis der Bundesregierung ausschlaggebend
dafür, „dass die wenigsten Staatsanwaltschaften Personen haben, die auf Ab-
rechnungsbetrug im Gesundheitswesen spezialisiert sind“ (Aussage des
Deutschen Städte- und Gemeindebundes in DIE WELT, 18. April 2016)?

23. In wie vielen Fällen ist bekannt, dass bei Patientinnen und Patienten mit Be-
darf an 24-Stundenpflege die vorgeschriebene Fachkraftquote und Behand-
lungsdauer in der ambulanten Pflege nicht eingehalten wurde, und welche
Sanktionsmöglichkeiten stehen in solchen Fällen zur Verfügung?

24. Welche Schritte wurden innerhalb der letzten zwölf Monate auf Bundes- und
Landesebene zur Bildung von Schwerpunktstaatsanwaltschaften und spezia-
lisierten Ermittlungsteams ergriffen (Aussage von K. Lauterbach, Nordwest-
Zeitung, 18. April 2016)?
Sind diese bislang eingeleiteten Schritte nach Ansicht der Bundesregierung
angemessen?

25. Wann ist ein Unternehmen bzw. eine Pflegeeinrichtung im juristischen Sinne
als „russisch“ klassifizierbar?
Welche Gründe führten nach Kenntnis der Bundesregierung dazu, dass ein
Großteil der von den Betrugsverdachtsfällen betroffenen Pflegedienste in der
Presse als „russisch“ oder „russischstämmig“ gekennzeichnet wurden?

26. Sind nach Kenntnis der Bundesregierung Gelder aus Betrügereien im Be-
reich der Altenpflege nach Russland geflossen?
Wenn ja, in welcher Höhe?

27. Wurde seitens deutscher Stellen vor diesem Hintergrund die Zusammenar-
beit mit russischen oder anderen ausländischen Behörden gesucht?

28. Gegen welche private Berliner Pflegeschule besteht nach Kenntnis der Bun-
desregierung der Verdacht, gefälschte Bescheinigungen ausgestellt zu haben
(Hannoversche Allgemeine Zeitung, 18. April 2016)?
Was wurde in diesen (möglicherweise gefälschten) Papieren nach Kenntnis
der Bundesregierung bescheinigt?
Sind derartige Vorkommnisse nach Kenntnis der Bundesregierung noch in
anderen Pflegeschulen sowie in Schulen in öffentlicher oder freigemeinnüt-
ziger Trägerschaft vorgekommen?

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29. Mit welcher Begründung lehnte die Bundesregierung den Vorschlag des Me-
dizinischen Dienstes der Krankenkassen im Pflegestärkungsgesetz II ab, in
den § 114a Absatz 1 Satz 3 SGB XI, Anlassprüfungen in ambulanten Pfle-
gediensten auch ohne begründeten Verdacht unangekündigt zuzulassen?

30. Welche Regelungen gelten für die Kontrolle der häuslichen Krankenpflege
nach § 37 SGB V, und teilt die Bundesregierung die Einschätzung, dass eine
Kontrolle im Rahmen der häuslichen Krankenpflege derzeit nicht möglich
sei (wenn ja, bitte begründen)?

31. Welche Regelungen hält die Bundesregierung für erforderlich, um bei An-
lassprüfungen im ambulanten Bereich das Grundrecht auf Unverletzlichkeit
der Wohnung zu wahren?

32. Gelten stationäre Einrichtungen der Behindertenhilfe sowie ambulante
Wohnformen nach § 38a SGB XI als Häuslichkeit und unterliegen demzu-
folge dem Grundrecht auf Unverletzlichkeit der Wohnung?

Berlin, den 30. Mai 2016

Dr. Sahra Wagenknecht und Dr. Dietmar Bartsch und Fraktion

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