BT-Drucksache 18/8471

Anerkennung politisch rechts oder rassistisch motivierter Tötungsdelikte seit dem Jahr 1990

Vom 11. Mai 2016


Deutscher Bundestag Drucksache 18/8471
18. Wahlperiode 11.05.2016

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Martina Renner, Frank Tempel, Sevim Dağdelen, Ulla Jelpke,
Petra Pau, Harald Petzold (Havelland), Dr. Petra Sitte, Kersten Steinke,
Halina Wawzyniak, Birgit Wöllert und der Fraktion DIE LINKE.

Anerkennung politisch rechts oder rassistisch motivierter Tötungsdelikte
seit dem Jahr 1990

Das Landgericht Limburg verurteilte am 26. Juni 2015 zwei Männer wegen Mor-
des an dem 55-jährigen Charles W. zu Haftstrafen zwischen zehn und zwölf Jah-
ren. Charles W. kam im Jahr 1972 als Flüchtling aus Ruanda nach Deutschland
und wurde am 23. Oktober 2014 in einer Unterkunft für Wohnungslose aus ras-
sistischen Motiven getötet. Zeugenaussagen zufolge hatten die Angreifer Charles
W. rassistisch beschimpft und ihn dann tödlich verletzt (vgl. Nassauische Neue
Presse „Alkohol und Rassismus“ vom 13. Juni 2015, www.nnp.de/lokales/lim-
burg_und_umgebung/ Alkohol-und-Rassismus;art680,1443929). Das Landgericht
Limburg ging in seinem Urteil von „Fremdenfeindlichkeit“ als Tatmotiv und
Mordmerkmal aus. Die Täter hätten zwar keiner rechtsradikalen Organisation an-
gehört, hätten sich aber von ihren rechtsradikalen Ansichten bei dem Angriff lei-
ten lassen, stellte das Gericht in der mündlichen Urteilsbegründung fest (vgl. Nas-
sauische Neue Presse „Mord aus Hass: Hohe Haftstrafen für rechtsradikale Täter“
vom 24. Juni 2015, www.nnp.de/lokales/limburg_und_umgebung/Mord-aus-
Hass-Hohe-Haftstrafen-fuer-rechtsradikale-Taeter;art680,1462450). Legt man
die Kriterien für die Erfassung von Straf- und Gewalttaten nach dem Katalogsys-
tem PMK-rechts (PMK: politisch motivierte Kriminalität) zugrunde, hätte der
Mord an Charles W. im Verfassungsschutzbericht des Bundesamtes für Verfas-
sungsschutz für das Jahr 2014 als PMK-rechts Tötungsdelikt genannt werden
müssen, da sowohl Polizei als auch Staatsanwaltschaft unmittelbar nach der Tat
und der Festnahme von einem fremdenfeindlich motivierten Tötungsdelikt aus-
gegangen waren (vgl. Hessischer Rundfunk „Polizei vermutet fremdenfeindliches
Motiv“ vom 29. Oktober 2014, www.hr-online.de/website/rubriken/nachrichten/
indexhessen34938.jsp?rubrik=36090&key=standard_document_53408781). Der
Verfassungsschutzbericht 2014 des Bundesamtes für Verfassungsschutz weist al-
lerdings in der Kategorie „PMK-rechts Tötungsdelikte“ kein vollendetes Tö-
tungsdelikt für das Jahr 2014 aus.
Die Bundesregierung erkennt 75 Todesopfer rechter Gewalt seit dem Jahr 1990
an. Demgegenüber gehen Recherchen für „Der Tagesspiegel“ und „ZEIT
ONLINE“ von mindestens 156 politisch rechts und rassistisch motivierten
Tötungsdelikten seit dem Jahr 1990 aus (vgl. ZEIT ONLINE „156 Schicksale“
vom 30. Juni 2015, www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2010-09/todesopfer-
rechte-gewalt). Die Amadeu Antonio Stiftung und antifaschistische Initiativen
gehen sogar von mindestens 178 Todesopfern rechter Gewalt seit dem Jahr 1990
aus (vgl. Opferfonds CURA: „Todesopfer rechter Gewalt seit 1990“, www.
opferfonds-cura.de/zahlen-und-fakten/todesopfer- rechter-gewalt/). Die Initiativen

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und spezialisierten Opferberatungsstellen für Opfer rechter Gewalt fordern schon
seit langem eine unabhängige Überprüfung der Diskrepanz zwischen den Todes-
opfer-Zahlen von Initiativen und Medien einerseits und der offiziellen Anerken-
nungspraxis andererseits. Im Juni 2015 hatte die Landesregierung Brandenburg
das Ergebnis einer unabhängigen Untersuchung von 24 so genannten Altfällen
durch das Moses Mendelssohn Zentrum für europäisch-jüdische Studien e. V.
(MMZ) in Potsdam bekannt gegeben und neun weitere Tötungsdelikte aus dem
Zeitraum der Jahre 1990 bis 2008 als politisch rechts motiviert anerkannt (vgl.
Abschlussbericht des Forschungsprojekts „Überprüfung umstrittener Altfälle
rechtsextremer und rassistischer Gewalt im Land Brandenburg seit 1990“,
www.mmz-potsdam.de/files/MMZ-Potsdam/Bilder_Veranstaltungen/MMZ%
20Forschungsbericht%20Studie%20Todesopfer%20rechtsextremer%20und%20
rassistischer%20Gewalt% 20in%20Brandenburg%2029062015.pdf). Damit ist
das Land Brandenburg das erste Bundesland, das die so genannten Altfälle durch
eine unabhängige Institution überprüfen ließ, während Sachsen und Sachsen-An-
halt in den vergangenen Jahren retroaktive Anerkennungen durch Überprüfungen
von Innen- und Justizministerien vornahmen.

Wir fragen die Bundesregierung:
1. Hat die Bundesregierung Kenntnis, wann und in welchem Gremium bzw. in

welchen Gremien der Innenministerkonferenz (IMK) die Ergebnisse des For-
schungsprojekts „Überprüfung umstrittener Altfälle rechtsextremer und ras-
sistischer Gewalt im Land Brandenburg seit 1990“ des Moses Mendelssohn
Zentrums für europäisch-jüdische Studien e. V. vorgestellt wurden?

2. Welche Bundesländer bzw. deren Vertreterinnen und Vertreter bei der IMK
wenden sich nach Kenntnis der Bundesregierung gegen eine Überprüfung
umstrittener Altfälle von Tötungsdelikten mit mutmaßlichem rechtsextre-
mem oder rassistischem Hintergrund durch unabhängige wissenschaftliche
und zivilgesellschaftliche Einrichtungen?

3. Welche Bundesländer bzw. deren Vertreterinnen und Vertreter bei der IMK
befürworten nach Kenntnis der Bundesregierung eine Überprüfung umstrit-
tener Altfälle von Tötungsdelikten mit mutmaßlichem rechtsextremem oder
rassistischem Hintergrund durch unabhängige wissenschaftliche und zivilge-
sellschaftliche Einrichtungen?

4. Aus welchen Gründen haben das Bundesministerium des Innern und die IMK
bislang keine Überprüfung aller auf dokumentierten umstrittenen Altfälle
von Tötungsdelikten (vgl. www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2010-09/
todesopfer-rechte-gewalt sowie www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/
2010-09/verdachtsfaelle-toetungsdelikt-rechter-hintergrund) mit mutmaßli-
chem rechtsextremem bzw. rassistischem Hintergrund nach dem Vorbild des
Forschungsprojekts „Überprüfung umstrittener Altfälle rechtsextremer und
rassistischer Gewalt im Land Brandenburg seit 1990“ des Moses Mendels-
sohn Zentrums für europäisch-jüdische Studien e. V. angeregt und beschlos-
sen?

5. Waren die 22 für die „ZEIT ONLINE“ recherchierten Fälle, bei denen der
Verdacht auf ein rechtes Tötungsdelikt besteht, Gegenstand der Untersu-
chung der Arbeitsgruppe (AG) Fallanalyse im Gemeinsamen Extremismus-
und Terrorismusabwehrzentrum Rechts – GETZ-R – (vgl. „Erstochen, er-
schlagen, verbrannt – 22 Verdachtsfälle“, ZEIT ONLINE vom 30. Juni
2015, www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2010-09/verdachtsfaelle-
toetungsdelikt-rechter-hintergrund)?

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 3 – Drucksache 18/8471
 

6. Ist die Überarbeitung des Evaluierungsberichtes der AG Fallanalyse im
GETZ-R im Hinblick auf die Ergebnisse des Forschungsprojekts „Überprü-
fung umstrittener Altfälle rechtsextremer und rassistischer Gewalt im Land
Brandenburg seit 1990“ des Moses Mendelssohn Zentrums für europäisch-
jüdische Studien e. V. abgeschlossen und wenn ja, mit welchem Ergebnis?

7. Falls die Überprüfung noch nicht abgeschlossen ist, wann ist damit zu rech-
nen?

8. Welche Schlussfolgerungen für das weitere Vorgehen haben die IMK und
ihre Gremien aus dem Evaluierungsbericht der AG Fallanalyse gezogen?

Berlin, den 10. Mai 2016

Dr. Sahra Wagenknecht, Dr. Dietmar Bartsch und Fraktion

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