BT-Drucksache 18/8390

Willy-Brandt-Korps für eine solidarische humanitäre Hilfe

Vom 10. Mai 2016


Deutscher Bundestag Drucksache 18/8390
18. Wahlperiode 10.05.2016
Antrag
der Abgeordneten Annette Groth, Inge Höger, Wolfgang Gehrcke, Jan van
Aken, Christine Buchholz, Sevim Dağdelen, Dr. Diether Dehm, Heike Hänsel,
Dr. André Hahn, Andrej Hunko, Ulla Jelpke, Katrin Kunert, Stefan Liebich,
Niema Movassat, Dr. Alexander S. Neu, Alexander Ulrich, Kathrin Vogler
und der Fraktion DIE LINKE.

Willy-Brandt-Korps für eine solidarische humanitäre Hilfe

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Der erste Humanitäre Weltgipfel (WHS) im Mai 2016 in Istanbul findet vor dem
Hintergrund großer Herausforderungen an die internationale humanitäre Hilfe statt.
In den Jahren 2012 bis 2015 hat sich der Bedarf der humanitären Hilfe auf 20 Milli-
arden US-Dollar verdoppelt und auch die Anforderungen an die Ausgestaltung der
humanitären Hilfe sind gewachsen. Ende 2014 waren knapp 60 Millionen Menschen
weltweit auf der Flucht. 86 Prozent der Menschen auf der Flucht befanden sich 2014
in ärmeren, davon 25 Prozent in den ärmsten Ländern.
Weil Kriege und Krisen lange andauern und der Wiederaufbau deshalb ausbleibt,
konnten 2014 nur 126.800 Geflüchtete in ihre Länder zurückkehren – die niedrigste
Anzahl seit 31 Jahren. Binnenvertriebene sind im Durchschnitt 23 Jahre, Geflüchtete
17 Jahre auf der Flucht. Der Bedarf an langfristiger Unterbringung und Versorgung,
an Bildung und Ausbildung ist enorm gestiegen. Nötig sind geeignete Rahmenbe-
dingungen und Strukturen insbesondere für Frauen, Kinder, Familien, Menschen mit
Behinderung und für alte und kranke Menschen.
Nach Schätzungen der Vereinten Nationen (VN) sind weltweit ca. 80 Prozent der
Geflüchteten Frauen und Kinder, von diesen erreichen die wenigsten Europa. Mehr
als ein Drittel der Geflüchteten, die von der Türkei nach Griechenland aufbrechen,
sind laut dem Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen (UNICEF) Kinder. Frauen
und Kinder sind auf der Flucht noch höheren Gefahren ausgesetzt als Geflüchtete im
Allgemeinen. Frauen und Kinder erleben oft Gewalt und sind besonders schutzbe-
dürftig.
Aus Syrien Geflüchtete stellten die größte Gruppe der eine Million Menschen, die
2015 über das Mittelmeer in die Europäische Union (EU) geflüchtet sind. Ihre mas-
senhafte Flucht aus den Flüchtlingslagern in der Türkei, Jordanien und Libanon
setzte ein, als dort die Versorgung der Geflüchteten mangels ausreichender interna-
tionaler Unterstützung zusammenbrach. Im November 2014 mussten das Flücht-
lingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) und das Welternährungspro-
gramm (WFP) die Nahrungsmittelhilfe für 1,7 Millionen syrische Flüchtlinge im Li-
banon und in Jordanien erst kürzen und einen Monat später sogar vorübergehend
ganz einstellen.

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Auch 2015 war der Finanzierungsbedarf von UNHCR, WFP und des Hilfswerks der
Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten (UNRWA) nicht ein-
mal zur Hälfte gedeckt, obwohl mehrere Geberkonferenzen mit festen Zusagen statt-
gefunden hatten. Doch viele Länder haben ihre Versprechen schlichtweg nicht ein-
gehalten. Die Folgen dieser Unterfinanzierung sind: reduzierte Essensrationen, man-
gelhafte Unterkünfte – insbesondere im Winter ist das ein Problem –, mangelnde
sanitäre Einrichtungen, fehlende Bildungsmöglichkeiten für Kinder, keine geschütz-
ten Räume für Frauen und Kinder.
Die Londoner Geberkonferenz am 4.2.2016 erbrachte Zusagen in der Gesamthöhe
von 9,8 Milliarden Euro. Die Bundesregierung sagte 2,3 Milliarden Euro für den
Zeitraum der nächsten drei Jahre (2016 bis 2018) zu. Diese neuen Zusagen müssen
unbedingt eingehalten werden. Die Gelder sind jedoch allein für syrische Geflüchte-
te vorgesehen und werden schon hier nicht genügen, um alle ausreichend zu versor-
gen.
Im medialen Schatten des Syrienkonflikts droht derzeit aber auch im östlichen und
südlichen Afrika eine humanitäre Katastrophe. Dort gefährden die Folgen des Kli-
maphänomens „El Niño“ – Dürren, aber auch Überschwemmungen – die Existenz-
grundlagen von bis zu 50 Millionen Menschen. Die bisher von der internationalen
Gemeinschaft sowie von Deutschland zugesagten Hilfen sind absolut unzureichend,
um der sich anbahnenden Katastrophe angemessen zu begegnen.
Die Unterfinanzierung der internationalen Organisationen ist chronisch. Die Orga-
nisationen müssen mit wesentlich höheren Grundbeiträgen ausgestattet werden, um
Planungssicherheit und Flexibilität gewährleisten zu können. Neue Instrumente
müssen eine flexible, mehrjährige Finanzierung ermöglichen und auch für lokale und
kleine Organisationen zugänglich sein, da diese andere, vielfach besonders diskrimi-
nierte Gruppen von Betroffenen erreichen als die großen Hilfswerke, z. B. Menschen
in den akut von bewaffneter Gewalt und Konflikten betroffenen Gebieten, Menschen
in Gastfamilien, in Slums und in abgelegenen Gebieten, alleinstehende Frauen und
Kinder oder Menschen mit Behinderungen.
Die Arbeit von humanitären Organisationen wird durch Äußerungen und Handlun-
gen von Regierungen erschwert, die die humanitäre Hilfe politischen oder sogar mi-
litärischen Zielen unterordnen und sie zur Durchsetzung ihrer eigenen Interessen in-
strumentalisieren. So forderte NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen im
Frühjahr 2010 eine engere Zusammenarbeit der Nichtregierungsorganisationen
(NGO) mit dem Militär in Afghanistan und bezeichnete sie als „Soft Power“. Die
Vermischung von politischen, militärischen und humanitären Zielen ist gefährlich,
weil durch sie humanitäre Helferinnen und Helfer als Teil westlicher Interessenspo-
litik und nicht mehr als unabhängig und neutral wahrgenommen werden. Sie sind
dann nicht mehr in der Lage, den Bedürftigsten zu helfen, da sie keinen Zugang
erhalten oder dieser zu gefährlich ist. 2015 und 2016 wurden mehrmals Kranken-
häuser von Ärzte ohne Grenzen bombardiert mit vielen Opfern, u. a. im Jemen und
in Afghanistan. Auch im Gaza-Krieg von 2014 hatte die israelische Armee mehrere
Krankenhäuser im Gazastreifen bombardiert. Solche Bombardierungen von Kran-
kenhäusern und ähnliche Vorgänge müssen dringend von unabhängigen Kommissi-
onen untersucht werden. Die „International Humanitarian Fact Finding Commis-
sion“ wurde genau zu diesem Zweck eingerichtet – aber außer der Schweiz unter-
stützt bislang keine Regierung, auch nicht die Bundesregierung, diesen Prozess.
Die Bundesregierung greift bei großen Katastrophen immer wieder auf eine Zusam-
menarbeit mit der Bundeswehr zurück, wenn es um logistisches Equipment geht. Die
Bundeswehr hat aber explizit keinen humanitären Auftrag. Sie verfügt zwar über
große materielle und personelle Ressourcen und hält diese auf Abruf bereit, ist aber
auf das Führen von Kriegen spezialisiert, nicht auf Katastrophenhilfe. Immer wieder
zeigt sich außerdem, dass selbst die Bundeswehr nicht in der Lage ist, humanitäre
Logistik schnell und zuverlässig zu gewährleisten. Viele Staaten haben zudem be-
rechtigte Bedenken, ausländisches Militär in ihrem Land operieren zu lassen. Ein

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Gemeinschaftswerk aus zivilgesellschaftlichen und öffentlichen Organisationen wä-
re die richtige Antwort auf die genannten Herausforderungen. Eine zivile und huma-
nitäre Dachstruktur könnte mit speziell für zivile Anforderungen optimierter Logis-
tik und optimierten Personals wesentlich effizienter und effektiver helfen. Um um-
fangreiche logistische Aufgaben im Umfeld humanitärer Hilfseinsätze bewältigen
zu können, müssen für die internationale Katastrophenhilfe zudem umfassende ei-
gene technische Hilfsmittel, Fahrzeuge und Gerätschaften bereit gestellt werden. Die
dafür nötigen Mittel können aus dem Wehretat umgewidmet werden.
Im Jahr 2011 wurden die humanitäre Hilfe, die Übergangshilfe und die Entwick-
lungszusammenarbeit (EZ) zwischen dem Auswärtigen Amt (AA) und dem Bundes-
ministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) neu zuge-
schnitten. Die Ressortvereinbarung wurde am 23.5.2012 in Kraft gesetzt. Organisa-
tionen der humanitären Hilfe und der EZ hatten zuvor für übersichtlichere Verant-
wortlichkeiten plädiert und eine Zusammenlegung der Instrumente im BMZ emp-
fohlen. Stattdessen verblieb die humanitäre Hilfe im AA, während die Übergangshil-
fe zu größeren Teilen vom BMZ ins AA verlagert wurde. Andere Bereiche der Über-
gangshilfe verblieben im BMZ. Dieser neue Zuschnitt war seinerzeit nicht nur von
Hilfsorganisationen, sondern auch von Fachpolitikern sowohl der Opposition als
auch der Koalition kritisiert worden. Vor dem Hintergrund dauerhafter humanitärer
Krisen mit Menschen, die z. T. über viele Jahre in Lagern leben müssen, ist das In-
einandergreifen von humanitärer Hilfe, Übergangshilfe und EZ wichtiger denn je.
Eine effizientere Verknüpfung der Instrumente oder ggf. eine erneute Zusammenle-
gung der Instrumente im BMZ wäre deshalb zu prüfen.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. die internationale Verantwortung Deutschlands ausschließlich mit zivilen Mit-
teln wahrzunehmen;

2. sich für eine ausnahmslose Einhaltung der humanitären Prinzipien und eine
strikte Trennung von humanitären und militärischen Instrumenten einzusetzen
und sich immer konsequent gegen eine Instrumentalisierung der humanitären
Hilfe für politische oder militärische Zwecke auszusprechen;

3. eine Kooperationsgesellschaft aus zivilgesellschaftlichen und öffentlichen Or-
ganisationen mit dem Namen „Willy-Brandt-Korps für internationale Katastro-
phenhilfe“ zu schaffen, dessen Aufgabe der Aufbau und Unterhalt eines huma-
nitären Fachkräftepools und eines Logistikzentrums sowie technischer Hilfs-
mittel ist;

4. für ein „Willy-Brandt-Korps für internationale Katastrophenhilfe“ durch Kon-
versionsmaßnahmen Transportflugzeuge und -hubschrauber sowie Schiffe,
mobile Brücken und Krankenhäuser, Geländefahrzeuge und Lastwagen,
schweres Räumgerät, mobile Unterkünfte sowie alle weiteren benötigten tech-
nischen Hilfsmittel aus dem Bestand der Bundeswehr umzurüsten und, wo dies
nicht möglich ist, solche anzuschaffen;

5. sich dafür einzusetzen, dass auf internationaler Ebene und in den EU-Mitglied-
staaten humanitäre Prinzipien und Menschenrechte bei der Aufnahme und Ver-
sorgung von Geflüchteten unabhängig von Herkunft und Zufluchtsland gleich-
ermaßen vollumfänglich Anwendung finden;

6. die Rolle der UN und die Koordinierung der humanitären Akteure kritisch mit
dem Ziel zu evaluieren, diese an die veränderten Bedingungen anzupassen und
dabei die lokalen Akteure sowie die betroffenen Menschen mit einzubeziehen;

7. sich für die „International Humanitarian Fact Finding Commission“ einzuset-
zen und für konsequente, unabhängige Untersuchungen von Bombardierungen
von zivilen Einrichtungen wie Krankenhäusern und ähnlichen Vorgängen ein-
zusetzen;

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8. den festen Grundanteil der Beiträge an das UNHCR auf mindestens 90 Millio-

nen Euro und an das WFP auf mindestens 150 Millionen Euro jährlich zu erhö-
hen, um so eine langfristige Finanzplanung zu ermöglichen;

9. die Beiträge an den UNHCR, das WFP, UNICEF, das Entwicklungsprogramm
der Vereinten Nationen (UNDP) und das UNRWA in der Aufstellung des Haus-
halts 2017 um insgesamt mindestens 600 Millionen Euro zu erhöhen;

10. die Mittel für die humanitäre Hilfe und EZ für die vom Klimaphänomen
„El Niño“ betroffenen Länder im östlichen und südlichen Afrika kurzfristig
deutlich zu erhöhen sowie die für humanitäre Hilfe im Bundeshaushalt einge-
stellten Mittel im Sinne einer Anpassung an den real gestiegenen Bedarf ent-
sprechend aufzustocken;

11. die Mittel für die Übergangshilfe, die humanitäre Hilfe und die Sonderinitiative
Fluchtursachen im Haushalt 2017 um insgesamt 1 Milliarde Euro zu erhöhen;

12. die Zusammenlegung von humanitärer Hilfe, Übergangshilfe und EZ im BMZ
zu prüfen bzw. adäquate Maßnahmen zur besseren Verknüpfung der Instrumen-
te der internationalen Hilfe und Zusammenarbeit vorzuschlagen;

13. sich auf dem WHS dafür einzusetzen, dass
– alle Geberländer ihren Grundbeitrag erhöhen und die freiwilligen – und bis-

her unzuverlässigen – Beiträge dementsprechend anpassen;
– alle Mitgliedstaaten verbindlich ihren Anteil an der Finanzierung der huma-

nitären Aufgaben im Zusammenhang des Syrien-Kriegs und der daraus re-
sultierenden Flüchtlingsaufnahme tragen;

– die humanitäre Hilfe die Bedürfnisse von Frauen, Kindern und allein reisen-
den Minderjährigen in allen Maßnahmen angemessen mit beachtet und
Schutzräume sowie an Frauen ausgerichtete medizinische und psychologi-
sche Hilfe zugänglich macht;

– die humanitäre Hilfe die Menschen erreicht, die am dringendsten Unterstüt-
zung benötigen, insbesondere Menschen in den akut von bewaffneter Gewalt
und Konflikten betroffenen Gebieten, Menschen in Gastfamilien, in Slums
und in abgelegenen Gebieten, alleinstehende Frauen und Kinder oder Men-
schen mit Behinderungen;

– die humanitäre Hilfe angemessen auf die lange Aufenthaltsdauer in Zu-
fluchtsgebieten reagiert und den Menschen auf der Flucht eine langfristige
Perspektive auch in den Bereichen Bildung, Ausbildung und Arbeitschancen
bietet; dafür sollten jeweils 5 Prozent des jeweiligen Etats für Bildung und
Ausbildung bereitgestellt werden;

– die Rettung und Versorgung Geflüchteter unabhängig von Herkunft und Zu-
fluchtsland absolute Priorität erhält vor allen anderen Überlegungen;

– Angriffe gegen Geflüchtete durch staatliche Institutionen unabhängig unter-
sucht und juristisch geahndet werden;

– auch lokale Organisationen Zugang zu internationalen Finanzquellen erhal-
ten;

– lokale Organisationen eine aktive Mitsprache und Mitgestaltung bei der Be-
darfserhebung und der grundsätzlichen und konkreten Ausrichtung der in-
ternational finanzierten humanitären Hilfe erhalten;

– geflüchtete Menschen mit in die Planung der humanitären Versorgung und
der Infrastruktur der Zufluchtsregionen einbezogen werden und ein Mitspra-
cherecht erhalten.

Berlin, den 10. Mai 2016

Dr. Sahra Wagenknecht, Dr. Dietmar Bartsch und Fraktion
Satz: Satzweiss.com Print, Web, Software GmbH, Mainzer Straße 116, 66121 Saarbrücken, www.satzweiss.com

Druck: Printsystem GmbH, Schafwäsche 1-3, 71296 Heimsheim, www.printsystem.de
anzeiger Verlag GmbH, Postfach 10 05 34, 50445 Köln, Telefon (02 21) 97 66 83 40, Fax (02 21) 97 66 83 44, www.betrifft-gesetze.de

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