BT-Drucksache 18/8224

Klimawandel und Migration im Nahen Osten und in Nordafrika (MENA-Region)

Vom 20. April 2016


Deutscher Bundestag Drucksache 18/8224
18. Wahlperiode 20.04.2016

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Eva Bulling-Schröter, Caren Lay, Wolfgang Gehrcke,
Jan van Aken, Christine Buchholz, Heike Hänsel, Inge Höger, Andrej Hunko,
Sabine Leidig, Ralph Lenkert, Birgit Menz, Niema Movassat,
Dr. Kirsten Tackmann, Alexander Ulrich, Kathrin Vogler, Hubertus Zdebel
und der Fraktion DIE LINKE.

Klimawandel und Migration im Nahen Osten und in Nordafrika (MENA-Region)

Die MENA-Region gilt als einer der globalen Brennpunkte klimabedingter Ver-
änderungen (Sicherheitsrisiko Klimawandel, Beirat der Bundesregierung Globale
Umweltveränderungen, 2007). Klimawandel, Migration und Sicherheit werden
heute zunehmend zusammen betrachtet. Laut Vereinten Nationen findet sich in
fast jedem Dringlichkeitsappell zu humanitären Hilfeleistungen ein direkter Be-
zug zum Klima. Die Europäische Kommission versteht den Klimawandel als „Be-
drohungsmultiplikator“, der „bestehende Tendenzen, Spannungen und Instabilität
noch verschlimmert“ (Klimawandel und internationale Sicherheit, 2007). Andere
Stimmen warnen vor einer Militarisierung des Klimawandels und seiner Folgen
(vgl. www.theguardian.com/commentisfree/2015/nov/29/climate-change-syria-
civil-war-prince-charles vom 29. November 2015).
Die MENA-Region erstreckt sich südlich des Mittelmeeres von Marokko bis
Ägypten nach Sudan, Somalia und Dschibuti, östlich des Mittelmeeres vom Je-
men über die Länder der arabischen Halbinsel bis nach Syrien, die Türkei und
den Irak. In der direkten Nachbarregion der Europäischen Union leben circa
380 Millionen Menschen, rund 6 Prozent der Weltbevölkerung. In Ländern wie
Syrien, Irak, Libyen, Jemen, Somalia und Sudan gibt es bewaffnete Konflikte mit
vielen Akteuren. Das hohe Bevölkerungswachstum, Armut und Ungleichheit,
Landflucht, Ressourcenknappheit (Wasser, Ackerland, Nahrungsmittel), eine Ar-
beitslosigkeit von durchschnittlich 12 Prozent und schwache Konjunkturdaten,
sowie geo- und wirtschaftspolitisch motivierte Einflussnahme (Öl, Pipelines,
Handelsrouten) auf die Innen- und Außenpolitik der Staaten durch globale Groß-
mächte und regionale Hegemone und religiöse, ethnische und stammesbezogene
Konflikte stellen für die postkolonialen Gesellschaften eine anhaltend große Be-
lastung dar.
Der Klimawandel wird in der MENA-Region, die als eine der konfliktreichsten
Weltregionen gilt (vgl. Institute for Economics and Peace, 2013), vielfach als
Verstärker oder sogar Auslöser für die Eskalation von Konflikten identifiziert. In
den institutionell oft schwachen MENA-Staaten, in denen die Landmasse im
Schnitt zu 95 Prozent aus Wüste besteht, die Sonnenintensität sehr stark und die
Klimaabhängigkeit wegen kleiner Regenquoten und geringer Trinkwasservorräte
besonders hoch ist (Arab Water Council 2015), verursachen die sich verändern-
den Umweltbedingungen besonders gravierende Auswirkungen, während die In-
dustrienationen mit der größten Verantwortung für den menschengemachten Kli-

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mawandel über ausreichend Mittel und Infrastruktur verfügen, um negative Kli-
mawandelfolgen abzufedern. Die jüngsten Migrationsbewegungen zeigen, dass
die Europäische Union und Deutschland, wie selten zuvor, Ziel von Migration
sind von Menschen, die aus vom Klimawandel besonders stark betroffenen Welt-
teilen stammen.
Im Koalitionsvertrag der die Bundesregierung stellenden Parteien CDU, CSU und
SPD wird der Zusammenhang zwischen Klimawandel und Migration genannt.
Hervorgehoben wird Deutschlands Mitverantwortung für die Entstehung und Be-
wältigung aktueller Krisen: „Globale Ungleichgewichte, Klimawandel und der
Verbrauch knapper Ressourcen erfordern ein neues, nachhaltiges Wohlstandsmo-
dell“ (Deutschlands Zukunft gestalten, 2013, S. 7). Um Klimawandelfolgen bes-
ser zu verstehen, werde Klimaforschung gestärkt „mit den Schwerpunkten
Klimamodellierung und regionale Klimafolgenabschätzung“, die ein Verständnis
für „Chancen und Risiken sowie zu Handlungsoptionen“ ermöglichen soll (ebd.,
S. 25). Im Bereich der internationalen Zusammenarbeit werde der „Fokus auf den
Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen, wie auf Maßnahmen des Klimaschut-
zes einschließlich einer effizienten und erneuerbaren Energieversorgung, des
Schutzes der Wälder und der biologischen Vielfalt“ gelegt, besonders Entwick-
lungsländer müssten „bei der Anpassung an den Klimawandel und dessen Folgen
unterstützt werden.“ Auch kündigten die Regierungsparteien an, sich für die „Ent-
wicklung internationaler Instrumente bei dem zunehmend wichtigen Thema der
Klimaflüchtlinge [zu] engagieren“ (ebd., S. 125).

Wir fragen die Bundesregierung:
1. Sieht die Bundesregierung direkte oder mittelbare Zusammenhänge zwi-

schen Klimawandel und Migration aus den Ländern der MENA-Region?
Wenn ja, welche?

2. Sind der Bundesregierung Zusammenhänge zwischen Armut und Klimawan-
del in der MENA-Region bekannt?
Wenn ja, welche?

3. Sind der Bundesregierung Zusammenhänge zwischen sozialer Ungleichheit
und Klimawandel in der MENA-Region bekannt?
Wenn ja, welche?

4. Berücksichtigt die Bundesregierung den Zusammenhang zwischen Klima-
wandel und Migration aus der MENA-Region in die Europäische Union und
nach Deutschland in ihren mittel- und langfristigen Prognosen zu Migrati-
ons- und Fluchtbewegungen?
Wenn ja, inwiefern, und auf Grundlage welcher Erkenntnisse?
Wenn nein, warum nicht, und gedenkt sie dies künftig zu tun?

5. Welche Rolle spielen klimawandelbedingte Migrations- und Fluchtfaktoren
bei der Bestimmung sicherer Herkunftsländer gemäß des gesetzlichen Er-
messenspielraums durch die Bundesregierung vor dem Hintergrund, dass der
globale Klimawandel die Verwirklichung der Menschenrechte gefährdet und
dies insbesondere für diejenigen Bevölkerungsgruppen gilt, deren Rechte
und deren Existenz ohnehin besonders bedroht sind, und wenn sie keine
Rolle spielen, warum nicht?
Sind diesbezüglich gesetzliche Neuerungen geplant?

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 3 – Drucksache 18/8224
 

6. Welche Rolle spielen klimawandelbedingte Migrations- und Fluchtfaktoren
bei der Einzelfallprüfung von Asylbegehren vor dem Hintergrund, dass der
globale Klimawandel die Verwirklichung der Menschenrechte gefährdet und
dies insbesondere für diejenigen Bevölkerungsgruppen gilt, deren Rechte
und deren Existenz ohnehin besonders bedroht sind, und wenn sie keine
Rolle spielen, warum nicht?
Sind diesbezüglich gesetzliche Neuerungen geplant?

7. Befragt das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge Antragstellerinnen
und Antragsteller auf Asyl zu umwelt- und klimabezogenen Migrations- und
Fluchtgründen?
Wenn nein, warum nicht, und gedenkt es dies künftig zu tun?

8. Wie definiert und misst die Bundesregierung den vom Bundesamt für Mig-
ration und Flüchtlinge in seinen kurzfristigen Prognoseschreiben verwende-
ten Begriff „Migrationsdruck“ (www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/
Downloads/Infothek/DasBAMF/2015-08-20-prognoseschreiben-asylantraege.
pdf;jsessionid=1A51084C65615085A203F227266003A8.1_cid294?__blob=
publicationFile), und beeinhaltet dieser eine umwelt- bzw. klimabezogene
Komponente?
Wenn nein, warum nicht, und gedenkt sie dies künftig zu tun?

9. Gibt es nach Kenntnis der Bundesregierung in der Europäischen Union und
Deutschland eine amtliche Definition von „Umwelt- oder Klimaflüchtling“
in Anlehnung an das Umweltbüro der Vereinten Nationen (UNEP), das Per-
sonen als Umweltflüchtlinge bezeichnet, „die gezwungen wurden, ihre tradi-
tionelle Umgebung vorübergehend oder dauerhaft zu verlassen, da Umwelt-
schäden (seien diese natürlicher Art oder durch den Menschen ausgelöst) ihre
Existenz in Gefahr brachten und/oder ihre Lebensqualität schwerwiegend be-
einträchtigten“ (UNEP, 1995, Environmental Refugees)?

10. Wie hoch ist nach Kenntnis der Bundesregierung die Zahl von Migrantinnen
und Migranten aus der MENA-Region in Deutschland und der Europäischen
Union seit dem Jahr 2007 (bitte nach Herkunftsland, Alterskohorten, Ge-
schlecht, Aufenthaltsstatus, Veränderung gegenüber dem Vorjahr in Prozent
sowie Anteil an der Gesamtmigration auflisten)?

11. Wie hoch ist nach Kenntnis der Bundesregierung das sog. Braindrain (Ab-
wanderung hochqualifizierter Staatsbürgerinnen und Staatsbürger als Verlust
der betroffenen Volkswirtschaft) aus der MENA-Region in die Europäische
Union und nach Deutschland?
Wie misst die Bundesregierung dieses?
Wie bewertet die Bundesregierung die Abwanderung vor dem Hintergrund
entwicklungspolitischer Aspekte?
Welche Programme der Bundesregierung gibt es, um einem Fortschreiten
bestehender Bildungsungleichheiten zwischen der Europäischen Union und
Deutschland gegenüber der MENA-Region entgegenzuwirken?

12. Sind der Bundesregierung wissenschaftliche Studien bekannt, denen zufolge
der Klimawandel und seine Folgen (Dürren, Ernteausfälle, Nahrungsmittel-
knappheit) mit zum Ausbruch von Anti-Regierungsprotesten („Arabischer
Frühling“) in der MENA-Region geführt haben?
Welche sind das, und wie bewertet sie diese?

Drucksache 18/8224 – 4 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode
 

13. Sind der Bundesregierung wissenschaftliche Studien bekannt, denen zufolge
der Klimawandel und seine Folgen (Dürren, Ernteausfälle, Nahrungsmittel-
knappheit) mit zum Ausbruch der Anti-Regierungsproteste in Syrien und da-
mit zum Ausbruch des Bürgerkrieges geführt haben?
Welche sind das, und wie bewertet sie diese?

14. Welche allgemeinen durch den Klimawandel ausgelösten Chancen, Risiken
und Handlungsoptionen (etwa bezogen auf Nahrungsmittelproduktion, Süß-
wasserressourcen, Extremwetter) identifiziert die Bundesregierung für die
MENA-Region insgesamt?

15. Welche spezifischen durch den Klimawandel ausgelösten Chancen, Risiken
und Handlungsoptionen identifiziert die Bundesregierung für:
- Syrien
- Türkei
- Jordanien
- Libanon
- Israel
- Palästinensische Gebiete
- Irak
- Iran
- Ägypten
- Jemen
- Saudi-Arabien
- Katar
- Kuweit
- Bahrain
- Vereinigte Arabische Emirate
- Oman
- Sudan
- Somalia
- Dschibuti
- Marroko
- Tunesien
- Algerien
- Mauretanien
(bitte in Form gesonderter und ausführlicher Klima-Länderberichte im An-
hang anführen)?

16. Welche konkreten klimaschutzpolitischen Maßnahmen hat die Bundesregie-
rung mit der MENA-Region bisher eingeleitet, um Klimawandelfolgen nicht
nur mit kurzfristiger Nothilfe (etwa bei Dürren oder Überschwemmungen),
sondern durch langfristige Planung vorzubeugen (bitte nach Programmen,
Kurzbeschreibung, Land, Jahr, Haushaltstitel sowie Mittelabfluss seit dem
Jahr 2007 auflisten)?

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 5 – Drucksache 18/8224
 

17. Wie hoch ist der Mittelanteil klimaschutzpolitischer Maßnahmen gegenüber
dem gesamten Mitteleinsatz der deutschen Entwicklungszusammenarbeit
mit der MENA-Region mit und ohne Berücksichtigung der Förderung des
Ausbaus erneuerbarer Energien (bitte in Prozent und absolut seit dem Jahr
2007 angeben)?

18. Von welchen klimaschutzpolitischen Maßnahmen der Klimafolgenanpas-
sung auf EU-Ebene mit der MENA-Region hat die Bundesregierung Kennt-
nis, und wie hoch ist der Anteil an den Gesamtmitteln der EU-Entwicklungs-
zusammenarbeit mit der Region mit und ohne Förderung erneuerbarer Ener-
gien (bitte nach Programmen, Kurzbeschreibung, Land, Jahr, Haushaltstitel,
Mittelabfluss seit dem Jahr 2007 sowie Vergleich in Prozent und absolut auf-
listen)?

19. Welche Stellen in welchen Bundesministerien und Behörden beschäftigen
sich seit dem Jahr 2007 zuständigkeitshalber schwerpunktmäßig mit dem Zu-
sammenhang von Klimawandel und Migration (bitte nach Bundesministe-
rium, Anzahl der Personalstellen sowie Mitteleinsatz auflisten)?

20. Welche Studien hat die Bundesregierung seit dem Jahr 2007 zur Erforschung
des Zusammenhangs von Klimawandel und Migration in Auftrag gegeben?
Welche plant sie in Auftrag zu geben (bitte Nennung der beauftragen For-
schungsinstitute, Studientitel, Jahr sowie Mitteleinsatz)?

21. Inwiefern hat der Klimawandel für die Bundesregierung sicherheitspoliti-
sche Relevanz?
In welchen Politiken und konkreten Maßnahmen kommt diese Relevanz zum
Ausdruck, und welche künftigen Vorhaben sind geplant, insbesondere mit
Hinblick auf die MENA-Region?

22. Welche Stellen in welchen Bundesministerien und Behörden beschäftigen
sich seit dem Jahr 2007 zuständigkeitshalber schwerpunktmäßig mit dem Zu-
sammenhang von Klimawandel und Sicherheit (bitte nach Institution, An-
zahl der Personalstellen sowie Mitteleinsatz auflisten)?

23. Welche Stellen in der Bundeswehr, Bundesgrenzschutz und im Bundesnach-
richtendienst beschäftigen sich seit dem Jahr 2007 zuständigkeitshalber
schwerpunktmäßig mit dem Zusammenhang von Klimawandel und Sicher-
heit (bitte nach Institution, Anzahl der Personalstellen sowie Mitteleinsatz
auflisten)?

24. Welche Studien hat die Bundesregierung zur Erforschung des Zusammen-
hangs von Klimawandel und Sicherheit in der Vergangenheit in Auftrag ge-
geben?
Welche plant sie in Auftrag zu geben (bitte die beauftragten Forschungsin-
stitute, Studientitel, Jahre und Kosten seit dem Jahr 2007 nennen)?

25. Wie definiert die Bundesregierung ein „neues, nachhaltiges Wohlstandmo-
dell“ im Sinne des Koalitionsvertrages der die Regierung bildenden Parteien
CDU, CSU und SPD?
Bewertet sie das bestehende Wohlstandsmodell daraus abgeleitet als nicht
nachhaltig, und welche konkreten Schritte hat sie zu dessen Überwindung
eingeleitet?

Berlin, den 20. April 2016

Dr. Sahra Wagenknecht, Dr. Dietmar Bartsch und Fraktion

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