BT-Drucksache 18/7039

Fluchtursachen bekämpfen

Vom 15. Dezember 2015


Deutscher Bundestag Drucksache 18/7039

18. Wahlperiode 15.12.2015

Antrag

der Abgeordneten Sevim Dağdelen, Heike Hänsel, Niema Movassat, Wolfgang
Gehrcke, Frank Tempel, Jan van Aken, Christine Buchholz, Dr. Diether Dehm,
Annette Groth, Inge Höger, Andrej Hunko, Ulla Jelpke, Katrin Kunert, Stefan
Liebich, Dr. Alexander S. Neu, Alexander Ulrich, Kathrin Vogler und der
Fraktion DIE LINKE.

Fluchtursachen bekämpfen

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

1. Weltweit sind knapp 60 Millionen Menschen auf der Flucht, so viele wie seit Ende
des Zweiten Weltkriegs nicht mehr. In den letzten Jahren stieg die Zahl nach Anga-
ben des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen (UNHCR) so rasant an wie
noch nie seit Beginn der Erfassung. Auch die Zahl der Flüchtenden, die in Europa
ankommen, ist stark angestiegen. Die Flüchtlinge in Europa bilden jedoch nur einen
relativ kleinen Teil der globalen Fluchtbewegungen.

Allein der Krieg in Syrien hat 11,5 Millionen Menschen in die Flucht getrieben, da-
von sind 7,6 Millionen innerhalb von Syrien und 3,9 Millionen ins Ausland geflohen.
Im Nachbarland Irak, wo, ausgelöst durch die US-geführten Invasionen von 1991
und 2003, ein Bürgerkrieg von wechselnder Intensität stattfindet, in dem der terro-
ristische „Islamische Staat“ (IS) seinen Ursprung hat, leben neben den Flüchtlingen
aus Syrien noch 3,6 Millionen Binnenvertriebe. Im Jemen, wo Saudi-Arabien in ei-
ner Allianz mit weiteren arabischen Staaten Krieg führt, sind 2,3 Millionen Men-
schen auf der Flucht. In Libyen sind 300.000 Menschen auf der Flucht vor dem ge-
walttätigen Chaos, das dem internationalen Militäreinsatz im Jahr 2011 folgte. Mehr
als eine Million Afghaninnen und Afghanen leben als Flüchtlinge in Pakistan. Der
UNHCR weist darüber hinaus auf die zahlreichen Konflikte in Afrika, wie zum Bei-
spiel in der Zentralafrikanischen Republik, dem Südsudan, in Somalia, Nigeria oder
der Demokratischen Republik Kongo, hin. Auch dort haben sich immense Fluchtbe-
wegungen in Gang gesetzt. Insgesamt gibt es in Afrika südlich der Sahara 11,4 Mil-
lionen Binnen- und 3,7 Millionen internationale Flüchtlinge.

2. Der Blick in die Herkunftsländer der Flüchtenden macht deutlich, dass die west-
lichen Staaten, darunter Deutschland, einen beträchtlichen Teil der Verantwortung
dafür tragen, dass Menschen fliehen müssen. Unter der Führung der USA wurden
ganze Regionen destabilisiert: Der „Krieg gegen den Terror“ hat seit 2001 vielen
Menschen das Leben gekostet und noch mehr Menschen heimatlos gemacht. Den
Terror effektiv bekämpft hat er nicht. Im Gegenteil: Noch nie hat es so viele Terror-
opfer gegeben wie mehr als ein Jahrzehnt nach Beginn des „Kriegs gegen den Ter-
ror“.

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Die Politik des Regime-Change, des von außen aufgezwungenen Sturzes auch von
Diktaturen, etwa im Irak oder in Libyen, hat die betreffenden Länder in heilloses
Chaos gestürzt. Auch in Syrien haben ausländische Interessen ihren Anteil an der
Eskalation des Krieges. Im Umfeld des Zusammenbruchs von Staaten gedeihen im
Nahen und Mittleren Osten islamistische Ideologien und finden Terrororganisatio-
nen Zulauf. Deutschland beteiligt sich am Militäreinsatz in Afghanistan, unterstützt
die US-Drohnenangriffe in Pakistan und im Jemen stillschweigend logistisch, trägt
die Regime-Change-Politik z. B. gegenüber Syrien mit und kooperiert weiterhin mi-
litärisch und wirtschaftlich mit Ländern wie der Türkei oder Saudi-Arabien, beliefert
sie sogar mit Waffen, obwohl bekannt ist, dass sie terroristische beziehungsweise
islamistische Gruppen im syrischen Bürgerkrieg unterstützen und ausrüsten. Inso-
fern muss sich auch die deutsche Außenpolitik grundlegend ändern, wenn Fluchtur-
sachen nachhaltig bekämpft werden sollen.

3. Nicht nur direkte, auch strukturelle Gewalt kann Menschen in die Flucht treiben.
Die Europäische Union (EU) treibt weltweit Freihandelsabkommen voran, die die
Profite europäischer Konzerne erhöhen sollen und die sowohl zulasten der Lohnab-
hängigen und der Verbraucherinnen und Verbraucher als auch der kleinen Produ-
zentinnen und Produzenten, insbesondere in den Ländern des Südens, gehen. Das
geplante Abkommen TTIP zwischen der EU und den USA wird negative Auswir-
kungen auch auf Länder haben, die vertraglich zwar nicht beteiligt sind, die aber
Absatzmärkte in der EU bzw. den USA verlieren und damit wirtschaftlich erpressbar
werden. Noch direkter wirken die Wirtschaftspartnerschaftsabkommen, die soge-
nannten EPA, zwischen der EU und afrikanischen Staaten. Auch diese Abkommen
folgen der verheerenden Ideologie des Freihandels. Das Produktivitätsgefälle zwi-
schen der EU und den afrikanischen Volkswirtschaften und die fortbestehenden EU-
Agrarsubventionen werden unweigerlich dazu führen, dass vor allem kleinbäuerli-
che Existenzen in Afrika zerstört werden. Die ehemalige Kulturministerin Malis,
Aminata Traoré, spricht in diesem Zusammenhang von den „Massenvernichtungs-
waffen“ Europas. Eine selbstbestimmte, nachhaltige Entwicklung bleibt damit un-
möglich. Die wirtschaftliche Abhängigkeit wächst und verstärkt gleichzeitig auch
den Migrationsdruck. Auch Fischer, deren Fanggebiete von Trawlern aus der EU
leergefischt werden, und Kleinbauern, deren Produkte auf den lokalen Märkten nicht
mit Billigimporten aus der EU konkurrieren können, befinden sich unter den Flüch-
tenden oder werden, in Ermangelung anderer Einnahmequellen, selbst zu Schlep-
pern.

4. Der um ein Vielfaches größere Energie- und Rohstoffverbrauch in den Industrie-
staaten, verbunden mit entsprechenden Emissionen klimaschädlicher Gase, lässt die
ökologische Schuld des Nordens weiter anwachsen. Unter dem Klimawandel leiden
v. a. die Menschen im Süden, die am wenigsten dazu beigetragen haben. Der Raub-
bau an den natürlichen Ressourcen und Umweltzerstörung gefährden die Lebens-
grundlagen in vielen Ländern und schaffen so Fluchtursachen. Billige Palmöl- und
Sojaöl-Importe aus Asien und Südamerika heizen den Kampf um fruchtbares Land
an. Millionen Hektar Landfläche sind vom sogenannten Land-grabbing betroffen.
Das bedeutet, dass lokale Kleinbäuerinnen und Kleinbauern vertrieben und große
Flächen Land verkauft oder für viele Jahre an Konzerne verpachtet werden, die unter
anderem Agrarrohstoffe für den Export von „Biodiesel“ in die EU anbauen. Durch
hohe Beimischungsquoten in der EU wird dieses Geschäft weiter angeheizt. Auch
Deutschland treibt zusammen mit der G7-New Alliance, der Gates-Stiftung und
zahlreichen Agrarkonzernen wie Monsanto, Bayer und BASF eine Industrialisierung
der Landwirtschaft, insbesondere in Afrika, voran. Diese sogenannte zweite Grüne
Revolution wird zu einem weiteren Exodus aus dem ländlichen Raum führen, ohne
dass für die freigesetzten Arbeitskräfte andere Erwerbsmöglichkeiten existieren.

5. Migration kann ein wichtiger Bestandteil von wirtschaftlicher Entwicklung sein.
Auf dem EU-Afrika-Gipfel in Valletta, Malta, zu Migrationsfragen haben die afri-

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kanischen Staatschefs auf diesen Zusammenhang hingewiesen und legale Möglich-
keiten zur Migration in die EU gefordert. Ihre Länder sind auf Rücküberweisungen
der Migrantinnen und Migranten und den Austausch von Know-how angewiesen.
Die EU wollte sich auf Quoten für die legale Einreise in die EU nicht einlassen und
setzte stattdessen eine Agenda durch, die die afrikanischen Staaten dazu verpflichtet,
in der Eindämmung von Flucht und Migration und bei der Rückführung von Ge-
flüchteten zu kooperieren. Diese Politik wird aber nicht zu weniger, sondern zu mehr
Flucht führen.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

− deutsche Rüstungsexporte sofort zu stoppen;
− sich nicht länger an Regime-Change-Strategien und NATO-Militärinterventio-

nen zu beteiligen;

− den USA nicht weiter zu erlauben, auf deutschem Boden Flughäfen und militäri-
sche Einrichtungen zur Führung ihrer Kriege und weltweiten Drohneneinsätze zu
unterhalten;

− ihre Außenpolitik auf eine aktive Friedenspolitik zu orientieren, die nicht weiter
auf völkerrechtswidrige Regime-Changes und die Destabilisierung von Staaten
mittels Sanktionen, die die Bevölkerung treffen, setzt, sondern die Mittel der zi-
vilen Konfliktprävention und Konfliktbearbeitung verstärkt zum Einsatz bringt;

− insbesondere den Zivilen Friedensdienst weiter auszubauen, indem die Mittel da-
für sofort verdoppelt und perspektivisch auf 100 Millionen Euro jährlich ange-
hoben werden, sowie ein Sonderprogramm für besonders von regionalen Flucht-
bewegungen betroffene Länder wie Libanon und Jordanien aufzulegen;

− innerhalb der EU sich gegen Mandate für neoliberale Freihandelsabkommen aus-
zusprechen und Verhandlungen über weitere Abkommen wie z. B. TTIP und
TISA zu stoppen;

− sich auf europäischer Ebene für einen Stopp des Ratifizierungsprozesses der
Wirtschaftspartnerschaftsabkommen mit den AKP-Staaten einzusetzen;

− das Recht auf Nahrung als zentralen Eckpfeiler der internationalen Politik zu
etablieren und die Ernährungssouveränität der Staaten des Südens zu stärken, in-
dem diese das Recht erhalten, ihre heimischen Nahrungsmittel- und Saatgut-
märkte vor Importen zu schützen;

− in den Ländern des Südens keine Industrialisierung der Landwirtschaft im Sinne
der globalen Agrarkonzerne zu forcieren und in diesem Zusammenhang etwa die
Mitgliedschaft bei der G7-New Alliance für Ernährungssicherung in Afrika zu
beenden;

− sich für ein Verbot von Nahrungsmittelspekulation einzusetzen;
− sich für ein EU-Importverbot von Biomasse aus Drittstaaten, welche insbeson-

dere für die Agrartreibstoffproduktion genutzt wird, einzusetzen und zudem auf
eine rasche Reduzierung der Futtermittelimporte hinzuwirken;

− wirksame Maßnahmen gegen deutsche Unternehmen und Konzerne einzuleiten,
die sich an Landraub beteiligen oder durch Raubbau an natürlichen Ressourcen
die Existenzgrundlage lokaler und regionaler Ökonomien zerstören, insbeson-
dere die Einführung eines Unternehmensstrafrechts;

− sich bei den Vereinten Nationen für eine zwischenstaatliche VN- Institution ein-
zusetzen, die Steuervermeidung und Steuerflucht der multinationalen Konzerne
bekämpft;

− die selbst auferlegte Verpflichtung zu erfüllen, 0,7 Prozent des Bruttonational-
einkommens für Entwicklungszusammenarbeit einzusetzen;

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− die deutschen Beiträge an das Welternährungsprogramm, an den UNHCR und an
das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen deutlich zu erhöhen.

Berlin, den 15. Dezember 2015

Dr. Sahra Wagenknecht, Dr. Dietmar Bartsch und Fraktion

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