BT-Drucksache 18/6477

Mögliche Diskrepanzen bei der Erfassung rechtsextremer Straftaten gegen Flüchtlingsunterkünfte

Vom 21. Oktober 2015


Deutscher Bundestag Drucksache 18/6477
18. Wahlperiode 21.10.2015

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Ulla Jelpke, Jan Korte, Katrin Kunert,

Harald Petzold (Havelland), Martina Renner, Dr. Petra Sitte und

der Fraktion DIE LINKE.

Mögliche Diskrepanzen bei der Erfassung rechtsextremer Straftaten gegen
Flüchtlingsunterkünfte

Die Anschläge gegen Unterkünfte von Flüchtlingen haben in diesem Jahr massiv
zugenommen. Nach Angaben des Bundesministers des Innern wurden bis Anfang
Oktober 2015 490 Straftaten gegen Flüchtlingsunterkünfte verübt (tagesschau,
9. Oktober 2015). Im ganzen Jahr 2014 waren es 198 solcher Straftaten. In letzter
Zeit kommt es außerdem zunehmend zu Brandanschlägen auch auf bewohnte Un-
terkünfte, die das Leben der Flüchtlinge gefährden.

Die Fragesteller haben allerdings Zweifel an der Zuverlässigkeit der polizeilichen
Erfassung solcher Delikte und fürchten, die tatsächliche Zahl könnte noch weit
höher liegen. Eine Studie des Berliner antifaschistischen Pressearchivs und Bil-
dungszentrums (apabiz; www.apabiz.de) hat die offiziellen Angaben der Bundes-
regierung, die sie auf quartalsweise gestellte Kleine Anfragen der Fraktion DIE
LINKE. mitgeteilt hat, mit den Ergebnissen eigener Recherche abgeglichen. Im
Zeitraum zwischen Oktober 2014 und Juni 2015 hat das apabiz dabei 41 Strafta-
ten (zehn davon mit unklarer Quellenlage) ermittelt, die nicht in den Antworten
der Bundesregierung enthalten waren.

Besonders bedenklich ist die möglicherweise nur unzureichende Erfassung
schwerer Delikte. Brandstiftungen etwa hat es nach Angaben des Bundeskrimi-
nalamtes (BKA) im Jahr 2015 bislang 31 gegeben – das apabiz hingegen zählt im
Zeitraum Januar bis September 2015 63 Brandstiftungen (einschließlich Versu-
che), davon 33 auf bewohnte Unterkünfte, sowie fünf Sprengstoffdelikte, davon
mindestens drei auf bewohnte Unterkünfte.

Diskrepanzen gibt es auch bei der Erfassung extrem rechter Aufmärsche gegen
Flüchtlingsunterkünfte bzw. Asylsuchende. Untersucht wurden hier lediglich die
Ereignisse im Land Berlin. Während die Bundesregierung im Untersuchungszeit-
raum lediglich drei derartige Aufmärsche nennt, kommt das apabiz auf 56. Nur
teilweise lässt sich das darauf zurückführen, dass die Bundesregierung früher nur
Angaben zu solchen Aufmärschen machte, wenn sich daran mindestens 20 Per-
sonen beteiligt haben. Beispielhaft genannt seien ein von der NPD organisierter
Aufmarsch am 1. November 2014 in Berlin-Buch, an dem 200 Personen teilnah-
men, eine Demo von 250 Personen am 17. November 2014 in Berlin-Buch, bei
der unter anderem der Pankower NPD-Kreisvorsitzende Christian Schmidt als
Redner auftrat.

Das Problem, dass das BKA nur solche Daten hat, die ihm von den Ländern ge-
meldet werden, und die Länder mitunter Straftaten gar nicht oder nicht als poli-

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tisch motiviert erfassen, ist nicht neu. Angesichts der Dimension, die der rechts-
extreme Terror gegen Asylunterkünfte mittlerweile angenommen hat, ist es aber
dringend notwendig, bei allen Landeskriminalämtern die Sensibilität für diese
Delikte zu schärfen. Manche der vom apabiz aufgeführten Fälle sind auf den ers-
ten Blick als rechtsextrem motivierte Straftaten ersichtlich, etwa durch Haken-
kreuzschmierereien.

Die Mängel bei der Erfassung von Delikten gegen Asylbewerberunterkünfte und
rechtsextremer Aufmärsche sind nach Einschätzung der Fragesteller auch dem
„extremismustheoretischen“ Ansatz von Polizei- und Verfassungsschutzbehör-
den geschuldet. Einige Täter gehören nicht den einschlägigen neofaschistischen
Organisationen an, sind deswegen aber nicht weniger militant und rassistisch. Die
rassistische Agitation auf der Straße korreliert mit entsprechenden Anschlägen;
dennoch werden in Sachsen etwa die Aufmärsche weder von Pegida noch von
Legida (Leipzig) vom Verfassungsschutz in den Blick genommen, obwohl selbst
der sächsische Verfassungsschutz bei Legida eindeutig rechtsextreme Tendenzen
erkennt (MDR, 21. Januar 2015, „Rechtsextreme Tendenzen bei Legida“)

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Hat die Bundesregierung von der erwähnten Studie des apabiz Kenntnis
genommen und die darin genannten Diskrepanzen zu den dem BKA ge-
meldeten bzw. dem Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) bekannten
Zahlen untersucht, oder will sie das noch tun, und zu welchen generellen
Schlussfolgerungen kommt sie diesbezüglich?

2. a) Inwiefern teilt die Bundesregierung angesichts der Studie des apabiz die
Sorge einer Diskrepanz zwischen den offiziellen und den tatsächlichen
Zahlen rechter Anschläge?

b) Ist die Bundesregierung bereit, den vom apabiz zusätzlich gemeldeten
Fällen nachzugehen und bei den zuständigen Landesbehörden deren
Einschätzung der jeweiligen Sachverhalte anzufragen?

Wenn nein, warum nicht?

Wenn ja, welche Rückmeldungen aus den Ländern hat sie bislang erhalten
(bitte nach Möglichkeit auf die konkreten Vorfälle eingehen)?

3. Welche der zusätzlich vom apabiz gemeldeten Fälle sind zu welchem Zeit-
punkt im Gemeinsamen Extremismus- und Terrorismusabwehrzentrum
(GETZ) besprochen worden, und welche Bewertungen und Schlussfolge-
rungen hat es dort gegeben (bitte auf die konkreten Fälle eingehen)?

4. Hat die Bundesregierung eine Erklärung dafür, warum die zuständigen
Landesbehörden die in der apabiz-Studie aufgeführten Fälle

a) Fund eines Molotowcockatils am 04. November 2014 in Senftenberg in
Verbindung mit der Parole „Werden hier Asylbewerber wohnen, wer-
den hier bald Flammen lodeln“ (sic),

b) Hakenkreuz-Schmiererei am 08. März 2015 in Hof,

c) Hakenkreuz-Schmiererei am 18. März 2015 in Tröglitz,

d) Hakenkreuz-Schmiereri am 18. April 2015 in Moers,

e) Angriff von Neonazis in Gröditz am 29. April 2015,

f) Angriff eines Mannes auf einen Flüchtling und anschließender „Hitler-
gruß“ am 28. Mai 2015 in Dresden-Lötau,

g) Brüllen rechter Parolen vor Unterkunft und Verdacht auf Volksverhet-
zung am 27. Juni 2015 in Jena,

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h) rassistische Schmierereien am 27. Juni 2015 in Bamberg,

nicht gemeldet haben,

und zu welchen dieser Vorfälle hat sie eine Erklärung der Landesbehörde
angefordert bzw. will sie dies noch tun, und wie haben die Landesbehörden
bislang reagiert?

5. Zu welchen anderen in der apabiz-Studie gemeldeten Fällen, in denen es
teilweise polizeiliche Ermittlungen gibt, hat die Bundesregierung Rück-
sprache mit den Landesbehörden genommen, und welche Schlussfolgerun-
gen ergeben sich daraus?

6. Warum hat die Bundesregierung in ihren Angaben zu rechtsextremen Auf-
märschen gegen Asylbewerberunterkünfte im Land Berlin nicht die folgen-
den Aufmärsche

a) „Tag der Patrioten“ mit 70 Personen durch „German Defence-League“
am 3. Oktober 2014,

b) Kundgebung der NPD mit 200 Personen am 1. November 2014,

c) diverse Zusammenkünfte der „Bürgerbewegung Marzahn-Hellersdorf“
im Winter 2014/2015 mit einer dreistelligen Teilnehmerzahl,

d) Demonstration mit 250 Teilnehmern am 17. November 2014, mit Rede-
beitrag eines NPD-Kreisvorsitzenden,

e) Kundgebung der NPD mit 30 Teilnehmern am 30. Januar 2015

mit angegeben?

7. Hat die Bundesregierung beim Land Berlin um Erläuterung gebeten oder
im Rahmen des GETZ besprochen, inwiefern die vom apabiz genannten
Aufmärsche als rechtsextrem beeinflusst zu werten sind?

8. Teilt die Bundesregierung die Auffassung des Berliner Senats, dass die
Proteste gegen Flüchtlingsunterkünfte in Berlin-Marzahn-Hellersdorf
rechtsextrem dominiert sind (Drucksache 17/15429 des Berliner Senats;
bitte begründen)?

9. Wie erklärt die Bundesregierung, dass die in der apabiz-Studie genannte
Zahl von Brandstiftungen von den Zahlen des BKA abweicht?

10. Inwiefern geht die Bundesregierung insbesondere den unter den laufenden
Nummern 4, 5, 8, 9, 11, 12, 14, 15, 17 bis 63 in der apabiz-Studie genannten
Fällen von Brandstiftung nach, indem sie die jeweilige Landesbehörde an-
spricht bzw. die Fälle im GETZ bespricht?

a) Welche der genannten Fälle hat sie bislang konkret angesprochen?

b) Zu welchen Erkenntnissen ist sie dabei bislang gekommen?

11. Hält die Bundesregierung die bisherige Erfassungssystematik und den ana-
lytischen Zugang der „Extremismusbeobachtung“ angesichts von Phäno-
menen wie Pegida u. ä. noch für geeignet, ein realistisches Bild über ras-
sistische Aufmärsche und Straftaten zu erhalten?

Inwiefern erwägt sie, den Ansatz zu modifizieren, um auch neue Organisa-
tionsmuster der rechtsextremen Szene in den Blick zu bekommen?

12. Welche Schlussfolgerungen zieht die Bundesregierung aus der Zahl von
Taten bzw. Tätern ohne eindeutigen Bezug zur PMK-rechts (PMK: poli-
tisch motivierte Kriminalität)?

Inwiefern deutet dies ihrer Auffassung nach auf einen Mangel des
Extremismusansatzes hin?

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13. Was will die Bundesregierung unternehmen, um zwischen Bund und Län-
dern eine einheitliche Bewertung von fremdenfeindlichen bzw. rassisti-
schen und neofaschistischen Aktivitäten, wie beispielsweise die
„-gida“-Bewegungen, zu erreichen, und welche Schwierigkeiten ergeben
sich dabei?

Berlin, den 21. Oktober 2015

Dr. Sahra Wagenknecht, Dr. Dietmar Bartsch und Fraktion

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