BT-Drucksache 18/5997

Angriffe auf Flüchtlinge und ihre Unterkünfte

Vom 11. September 2015


Deutscher Bundestag Drucksache 18/5997
18. Wahlperiode 11.09.2015

Kleine Anfrage

der Abgeordneten Ulla Jelpke, Sevim Dağdelen, Katrin Kunert, Petra Pau,
Harald Petzold (Havelland), Martina Renner, Dr. Petra Sitte, Kersten Steinke,

Frank Tempel, Halina Wawzyniak, Jörn Wunderlich und der Fraktion DIE LINKE.

Angriffe auf Flüchtlinge und ihre Unterkünfte

Laut dem Bundesminister des Innern, Dr. Thomas de Maizière, wurden bis Ende
August 2015 schon mehr als 340 Angriffe auf Flüchtlingsunterkünfte verübt. Da-
mit sind die Angriffe in den Monaten Juli und August 2015 noch einmal deutlich
angestiegen und übertreffen die ohnehin schon sehr hohen Zahlen der ersten bei-
den Quartale des Jahres 2015. Seit dem Jahr 2014 lässt sich ein starker Anstieg
dieser Angriffe beobachten, die in ihrer großen Mehrzahl von den Behörden der
politisch motivierten Kriminalität rechts (PMK-rechts) zugeordnet werden. Aus
den Antworten der Bundesregierung auf die Parlamentarischen Anfragen der
Fraktion DIE LINKE. zu den Angriffen in den ersten beiden Quartalen des Jahres
2015 (vgl. Bundestagsdrucksache 18/4858 und 18/5686) lässt sich ersehen, dass
die Angriffe brutaler werden und die Gefährdung von Leib und Leben der Flücht-
linge in Kauf genommen wird. So hat sich die Zahl der Angriffe mit Sprengstoff
oder Brandmitteln, Waffen und Körperverletzungen vom ersten zum zweiten
Quartal des Jahres 2015 von sieben auf 15 (letzteres ohne Berücksichtigung mög-
licher Nachmeldungen) erhöht. Nach den Berichten aus den letzten Wochen steht
zu vermuten, dass diese Angriffe auf Leib und Leben der Flüchtlinge noch weiter
zugenommen haben.

Im niedersächsischen Salzhemmendorf schleuderten Ende August 2015 drei Tä-
ter aus einem Auto ein Molotow-Cocktail in eine bewohnte Flüchtlingsunter-
kunft. Nur durch Glück konnte eine Katastrophe verhindert werden. Heidenau
und die gewalttätigen Ausschreitungen vor der dortigen Notunterkunft waren ta-
gelang Thema der überregionalen Presse. Im brandenburgischen Massow wurden
bei einem Angriff mit Reizgas am 1. September 2015 35 Flüchtlinge in einer Un-
terkunft verletzt.

In Freiberg (Sachsen) wurde in einem bewohnten Flüchtlingsheim eine Rohr-
bombe zur Explosion gebracht, im oberbayerischen Richtershofen eine geplante
Flüchtlingsunterkunft niedergebrannt. In Böhlen bei Leipzig wurden Schüsse auf
eine bewohnte Unterkunft abgegeben, in Brandenburg an der Havel zündeten Un-
bekannte vor der Eingangstür einer Flüchtlingsfamilie Brandbeschleuniger an, in
Dresden wurden Helfer des Roten Kreuzes beim Aufbau von Zelten für Flücht-
linge attackiert und in Rostock das Auto eines Stadtrats der Fraktion DIE LINKE.,
der sich für die Flüchtlinge einsetzt, in die Luft gejagt. Die Liste ließe sich lange
fortsetzen.

Für den Rechtsextremismusforscher Fabian Virchow steht fest: „Anders als durch
organisierte Strukturen lassen sich die Dauer und die Zahl der Übergriffe nicht
erklären“ (DER SPIEGEL Nr. 36/2015), und auch der Direktor des Instituts für
interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung der Uni Bielefeld, Prof. Dr.

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Andreas Zick, sieht die Ausschreitungen von Heidenau nicht als spontane Eska-
lation eines wütenden Mobs, sondern als geplante Aktion einer organisierten
Gruppe. Die Frage nach einer möglichen rechtsextremen Steuerung und/oder Or-
ganisierung solcher Anschläge und der sich daraus ableitenden verstärkten Ge-
waltbereitschaft der Neonaziszene, die auch neue Formen des Rechtsterrorismus
hervorbringen könnte, steht hinter dieser Debatte.

Neonaziparteien und -organisationen, wie die NPD, „Der III. Weg“ oder „Die
Rechte“, treten häufig als Anmelder von Demonstrationen gegen Flüchtlingsun-
terkünfte auf und sind Stichwortgeber der Täter. Laut Bundesinnenminister
Dr. Thomas de Maizière lässt sich bisher jedoch keine bundesweite Organisierung
der Anschläge nachweisen und nicht von Rechtsterrorismus sprechen (vgl.
ZEIT ONLINE, 2. September 2015). Letzteres will der Präsident des Bundesam-
tes für Verfassungsschutz, Hans-Georg Maaßen, jedoch für die Zukunft nicht aus-
schließen: „Wir können nicht ausschließen, dass sich im derzeitigen Klima Grup-
pen bilden, die dazu bereit sind, rechtsextremistische Anschläge zu verüben“
(vgl. www.stern.de/politik/deutschland/hans-georg-maassen-im-stern--neue-gefahren-
des-rechtsterrorismus-6429426.html). Jedoch müsste es bei dieser Analyse weniger
um die Frage einer bundesweiten Organisierung als vielmehr um Fragen von re-
gionalen Nazistrukturen, persönlichen Verbindungen, Diskussionsgruppen im
Netz usw. gehen. Der Fall in Salzhemmendorf zeigte, dass allein länderübergrei-
fende Verbindungen der Täter, die aus der rechten Szene stammen, die Ermittler
vor größere Probleme der Zuständigkeit bei den Ermittlungen stellt (vgl. FAZ
1. September 2015).

Vonseiten der Sicherheitsbehörden wurden die rechten Angriffe auf Flüchtlinge
und ihre Unterkünfte erst spät systematisch in den Blick genommen. Schon seit
dem Jahr 2014 zeigt sich ein rasanter Anstieg dieser Gewalt, doch erst angesichts
der aktuellen Eskalation wird das Thema systematisch angegangen. So verschickt
das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) jetzt einen Fragebogen an die Län-
der, um die Proteste und Angriffe vor und gegen Flüchtlingsheime genau zu ana-
lysieren (www.spiegel.de, 28. August 2015, „Gewalt gegen Flüchtlinge: Sicher-
heitsbehörden fürchten neuen Rechtsterrorismus“). Vonseiten des Generalbun-
desanwalts (GBA) wurde bis heute kein einziger Fall übernommen, weil die Vo-
raussetzungen nicht gegeben seien.

Wir fragen die Bundesregierung:

1. In wie vielen und welchen konkreten Fällen der Angriffe auf Flüchtlinge und
ihre Unterkünfte geht die Bundesregierung seit Jahresbeginn 2015 von einer
konkreten Bedrohung für Leib und Leben von Flüchtlingen aus?

2. Inwieweit teilt die Bundesregierung die Einschätzung einzelner Wissen-
schaftler, dass die verstärkte Gewaltbereitschaft bei Angriffen auf Flücht-
linge und ihre Unterkünfte einen höheren Grad an Organisation solcher An-
griffe voraussetzt, und wie begründet die Bundesregierung ihre Auffassung?

3. Wie viele bekannte Täterinnen und Täter von Angriffen auf Flüchtlinge und
ihre Unterkünfte seit dem Jahr 2014 haben nach Kenntnis der Bundesregie-
rung einen Bezug zur rechten Szene, und zu welchen Organisationen der
rechten Szene (Parteien, Kameradschaften etc.) lassen sich im einzelnen Be-
züge nachweisen?

4. Wie viele dieser Täterinnen und Täter waren nach Kenntnis der Bundesre-
gierung bereits vorher polizeibekannt, und aufgrund welcher Taten wurde
polizeilich gegen sie ermittelt?

5. Welche Kenntnisse hat die Bundesregierung über positive Bezüge rechter,
fremdenfeindlicher und rechtsextremer Organisationen auf Angriffe auf

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Flüchtlinge und ihre Unterkünfte (z. B. im Internet und in Sozialen Netzwer-
ken, in Publikationen, bei öffentlichen Auftritten etc.) seit dem Jahr 2014,
und um welche rechten Organisationen handelt es sich hierbei?

6. Wie stellt sich aus Sicht der Bundesregierung der vom Präsidenten des BfV,
Hans-Georg Maaßen, im Interview mit dem Magazin „STERN“ geäußerte
„Zusammenhang zwischen der Zahl der Angriffe auf Asylbewerberheime
und dem Organisationsgrad der NPD“ (vgl. www.stern.de/politik/deutsch-
land/hans-georg-maassen-im-stern--neue-gefahren-des-rechtsterrorismus-
6429426.html) dar?

7. Welche Erkenntnisse hat die Bundesregierung zu Spreng- und Brandmitteln,
die bei solchen Angriffen eingesetzt wurden? Woher stammen diese Tat-
werkzeuge, und welcher Form der Vorbereitung und welcher Kenntnisse be-
darf es für ihren Einsatz?

8. Welche Erkenntnisse hat die Bundesregierung über lokale Neonazistrukturen
an den Orten, an denen Angriffen auf Flüchtlinge und ihre Unterkünfte statt-
fanden, und inwiefern sieht sie einen Zusammenhang zwischen solchen
Strukturen und den Tatorten der Angriffe?

9. Hat das BfV seine V-Leute in der Neonaziszene zu den Angriffen auf Flücht-
linge und ihre Unterkünfte und zu möglichen rechtsextremen Hintergründen
befragt, und welche Berichte gehen beim BfV dazu ein?

10. In welchen Fällen haben sich nach Kenntnis der Bundesregierung welche
Gruppierungen oder Einzelpersonen über welche Medien und mit welchem
Inhalt zu einzelnen dieser Taten bekannt?

11. Welche Möglichkeiten sieht die Bundesregierung, den Druck auf Rechtsext-
reme und ihre Organisationen zu erhöhen, z. B. durch Gefährderansprachen?

12. Welche Fragen enthält der Fragenkatalog des BfV, der an alle Landesämter
für Verfassungsschutz verschickt wurde, und bis wann rechnet die Bundes-
regierung mit einem Rücklauf aus den Ländern?

13. Welche Abteilungen im BfV werden sich mit der Auswertung des Rücklaufs
befassen, und wird auch spezifisch die Frage möglicher rechtsterroristischer
Potenziale hier behandelt werden?

14. Warum gibt es erst jetzt eine konkrete Auswertung der Angriffe durch das
BfV, und warum wurde diese konkrete Analyse nicht mit Beginn des An-
stiegs der Angriffe im vierten Quartal 2014 begonnen?

15. Warum wurde die jetzt vom BfV initiierte Analyse unter Einbeziehung der
Länder nicht laufend im GAR (Gemeinsames Abwehrzentrum gegen Rechts-
extremismus) vorgenommen, bzw. wie unterscheidet sich die vom BfV ge-
plante Analyse von der Arbeit im GAR?

16. Wie unterscheidet sich die geplante Analyse des BfV von der Aufgabe der
Clearingstelle des BKA zum Thema „Straftaten gegen Asylunterkünfte“?

17. Befassen sich weitere Bund-Länder-Gremien (Arbeitskreise der Innenminis-
terkonferenz etc.) mit den aktuellen Angriffen auf Flüchtlinge und ihre Un-
terkünfte, bzw. wird die Bundesregierung hierzu initiativ werden?

18. Wie wird das alles koordiniert? Wird das Trennungsgebot gewahrt?

19. Welche Überlegungen zum besseren Schutz der Flüchtlinge und ihrer Ein-
richtungen gibt es seitens der Bundesregierung? Gibt es hier einen ständigen
Austausch mit den Ländern, und welche Möglichkeiten der Unterstützung
der Länder sieht die Bundesregierung?

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20. Werden die zunehmenden Angriffe auf Flüchtlinge und ihre Unterkünfte
Thema beim „Flüchtlingsgipfel“ am 21. September 2015 im Bundeskanzler-
amt sein? Wird es hier neben der repressiven Reaktion auf rassistische Ge-
walt auch um eine Stärkung zivilgesellschaftlicher Akteure in Willkommens-
initiativen gehen?

21. Bestehen Überlegungen, Willkommensinitiativen und antirassistisches En-
gagement im Rahmen der bestehenden Bundesprogramme für Vielfalt und
Toleranz stärker zu fördern und hierzu mehr Mittel bereitzustellen, als bis-
lang geplant? Gibt es hierzu Überlegungen seitens der Bundesregierung, und
wenn ja, welche?

Berlin, den 23. September 2015

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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