BT-Drucksache 18/5802

Eingriffe in nationale Tarifsysteme - Haltung der Bundesregierung

Vom 18. August 2015


Deutscher Bundestag Drucksache 18/5802
18. Wahlperiode 18.08.2015
Kleine Anfrage
der Abgeordneten Beate Müller-Gemmeke, Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn,
Brigitte Pothmer, Markus Kurth, Corinna Rüffer, Annalena Baerbock,
Dr. Thomas Gambke und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Eingriffe in nationale Tarifsysteme – Haltung der Bundesregierung

Die Organe der Europäischen Union (EU) haben in den Bereichen Arbeitsent-
gelt, Koalitionsrecht, Streik- und Aussperrungsrecht keinerlei Kompetenzen.
Das ist eindeutig in Artikel 153 Absatz 5 des Vertrages über die Arbeitsweise der
Europäischen Union (AEUV) geregelt. Dennoch nehmen die Eingriffe in diese
nationalen Politikbereiche zu, die einen bedeutenden Einfluss auf die Lebens-
und Arbeitsbedingungen der Menschen in den betroffenen Ländern haben.
Die tarifpolitischen Eingriffe unterscheiden sich jedoch erheblich in ihrem Ver-
bindlichkeitsgrad. Das erste Instrument mit dem die Europäische Kommission
Einfluss nimmt, sind länderspezifische Empfehlungen im Rahmen des Euro-
päischen Semesters. Den Mitgliedstaaten werden arbeitsmarktpolitische Hand-
lungsempfehlungen gegeben, die allerdings rechtlich nicht bindend sind. Des-
wegen war die Einflussnahme auf die Lohnfindungssysteme im Rahmen des
Europäischen Semesters bislang begrenzt. So wurden z. B. Bulgarien, Finnland,
Italien und Slowenien im Jahr 2012 eine moderate Entwicklung der Löhne emp-
fohlen. Von Schweden verlangte die Europäische Kommission eine Ausweitung
des Niedriglohnsektors und der Lohnspreizung am unteren Ende. Deutschland
hingegen wurde aufgefordert, die Lohnentwicklung mit dem Produktivitäts-
wachstum in Einklang zu bringen, was als Empfehlung für höhere Löhne inter-
pretiert werden kann.
Hinsichtlich der Reform der Tarifvertragssysteme gab die Europäische Kom-
mission detailliertere Empfehlungen: Belgien, Italien und Spanien wurden auf-
gefordert, ihre Tarifverhandlungssysteme zu dezentralisieren und dafür zu sor-
gen, dass Unternehmen leichter von Flächentarifverträgen abweichen können.
Belgien, Luxemburg, Malta und Zypern wurden empfohlen, ihre nationalen
Lohnindexierungssysteme zu lockern und weniger verbindlich auszugestalten.
Die weitere Möglichkeit, Einfluss auf Lohnfindungssysteme zu nehmen, ist ver-
bindlicher und spielt in den Programmländern eine erhebliche Rolle, denn die
Umsetzung politischer Reformen ist die Bedingung für die Vergabe von Kredi-
ten. In vielen Rettungsprogrammen waren sowohl die Lohnentwicklung als auch
die Struktur der Tarifverhandlungssysteme Teil der Reformvereinbarungen. In
Griechenland und Irland wurde beispielsweise eine Kürzung des gesetzlichen
Mindestlohns durchgesetzt und in Portugal und Rumänien wurde die Höhe des
gesetzlichen Mindestlohns zeitweise eingefroren.
In Portugal, Rumänien, Griechenland und auch in Spanien wurden grundle-
gende Änderungen der nationalen Lohnfindungssysteme durchgeführt. Sie ziel-
ten auf eine Dezentralisierung von Tarifverhandlungen und eine Abschwächung

Drucksache 18/5802 – 2 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode
der Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen. Eine Folge ist, dass sich
Unternehmen nun leichter aus der Tarifbindung verabschieden können.
Das Europäische Parlament ist darüber besorgt, dass, obwohl die Festlegung von
Löhnen nicht in den Aufgabenbereich der EU fällt, die Anpassungsprogramme
dennoch einen Einfluss auf die Löhne hatten. Auch EU-Kommissionspräsident
Jean-Claude Juncker zog vor dem Wirtschafts- und Währungsausschuss des
Europäischen Parlaments eine kritische Bilanz über die Arbeit der Troika in
Griechenland.
Der Europäische (ETUC) und der Internationale Gewerkschaftsbund (ITUC)
sowie andere zivilgesellschaftlichen Organisationen haben die Konditionen und
Maßnahmen des Internationalen Währungsfonds (IWF) kritisiert, da sie die
Arbeitslosigkeit und Unterbeschäftigung steigen lassen, die sozialen Kosten in
die Höhe treiben, die Produktion öffentlicher Güter empfindlich einschränken
sowie in die Souveränität der Staaten eingreifen.
Bislang ist noch nicht absehbar, wie sich die Maßnahmen der Europäischen
Kommission zum Bürokratieabbau (Regulatory Fitness and Performance Pro-
gramme – REFIT) auf die Rechte der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
auswirken werden. Der Deutsche Gewerkschaftsbund befürchtet einen Abbau
sinnvoller Regulierungen, unter dem Deckmantel des Bürokratieabbaus (Presse-
mitteilung 184 vom 25. Oktober 2013). Der Europäische Gewerkschaftsbund
befürchtet, dass die Interessen der Unternehmen beim Bürokratieabbau über die
der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gestellt werden (ETUC Executive
Committee on 17–18 June 2015).

Wir fragen die Bundesregierung:
1. Wie beurteilt die Bundesregierung Eingriffe in die nationalen Tarifvertrags-

systeme durch europäische Institutionen über
a) die länderspezifischen Empfehlungen und
b) über Vereinbarungen zwischen Gläubiger- und Schuldnerstaaten?

2. Sind Eingriffe in die nationalen Tarifsysteme und Einflussnahme auf Min-
destlöhne nach Ansicht der Bundesregierung Eingriffe in die Souveränität
der Nationalstaaten?
Wenn ja, warum?
Wenn nein, warum nicht?

3. Für welche Länder teilt die Bundesregierung die von der Europäischen
Kommission verfolgte Dezentralisierung der Tarifsysteme bzw. Einfluss-
nahme auf Mindestlöhne, und welche Entwicklungen bzw. Vorteile erwartet
die Bundesregierung davon?

4. In welchen Programmländern wurden nach Einschätzung der Bundesregie-
rung die angestrebten wirtschaftspolitischen Ziele durch eine Dezentralisie-
rung der Lohnfindungssysteme bzw. durch Einflussnahme auf Mindestlöhne
bisher
a) durch welche Eingriffe in Tarifvertragssysteme,
b) durch welche gesetzliche Regelungen,
c) mit welchen wirtschaftlichen Erfolgen erreicht, und
d) welche Folgen hatte dies für die Arbeits- und Lebensbedingungen der

Menschen in den jeweiligen Ländern?

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 3 – Drucksache 18/5802
5. Wird die Bundesregierung bei der Aushandlung von weiteren Griechen-
landhilfen Eingriffe in das Lohnfindungssystem unterstützen, und wenn ja,
in welcher Form und mit welcher Zielsetzung?

6. Wie haben sich nach Kenntnis der Bundesregierung in den letzten Jahren
a) der Organisationsgrad der Sozialpartner,
b) die Zahl der Flächentarifverträge,
c) die Tarifbindung,
d) die Streikhäufigkeit,
e) die Höhe der Löhne in den entsprechenden EU-Mitgliedstaaten ent-

wickelt, und
f) welchen Zusammenhang gibt es zwischen diesen Entwicklungen und

den Empfehlungen der EU-Institutionen zu den Lohnfindungssystemen
bzw. entsprechenden Reformverpflichtungen der Programmländer?

7. Welche Risiken ergeben sich aus dezentralisierten Tarifsystemen in Bezug
auf
a) die gesamtwirtschaftliche Verantwortung der Sozialpartner hinsichtlich

des gemeinsamen Stabilitätsziels,
b) auf die Streikhäufigkeit sowie
c) die mangelnde Koordinierbarkeit, wenn beispielsweise die Wachstums-

raten zunehmen und Gewerkschaften unkoordiniert auf betrieblicher
Ebene streiken?

8. Welche Maßnahmen hat die Bundesregierung aufgrund von länderspezifi-
schen Empfehlungen im Rahmen des Europäischen Semesters zwischen
den Jahren 2009 bis heute umgesetzt?

9. Hält es die Bundesregierung für erstrebenswert, die Verbindlichkeit der län-
derspezifischen Empfehlungen zu steigern und somit lohn- sowie tarifpoli-
tische Kompetenzen an die europäische Ebene abzutreten, auch wenn damit
höhere Löhne in der Bundesrepublik Deutschland gefordert werden?
Wenn ja, warum?
Wenn nein, warum nicht?

10. Wie steht die Bundesregierung zu dem von den „Fünf Präsidenten“ erhobe-
nen Vorschlag, in allen Ländern des Eurogebietes nationale Stellen einzu-
richten, die „zur Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit den Auftrag erhalten,
zu beurteilen, ob die Löhne sich entsprechend der Produktivität entwickeln,
und Vergleiche mit den Entwicklungen in anderen Ländern des Eurowäh-
rungsgebiets und in den wichtigsten vergleichbaren Handelspartnerländern
anzustellen“ (Die Wirtschafts- und Währungsunion Europas vollenden,
Jean-Claude Juncker, 22. Juni 2015)?

11. Welche Position hatte die Bundesregierung von 2009 bis 2013 im Euro-
päischen Rat in Bezug auf die Dezentralisierung der Tarifsysteme einge-
nommen, und inwieweit hat sich diese Position seit der Übernahme der
Amtsgeschäfte durch die große Koalition im Jahr 2013 verändert?

Drucksache 18/5802 – 4 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode
12. Setzt sich die Bundesregierung dafür ein, dass in Zukunft der Artikel 153
Absatz 5 AEUV respektiert wird, der den EU-Organen keinerlei Kompeten-
zen in den Bereichen Arbeitsentgelt, Koalitionsfreiheit, Streik- und Aus-
sperrungsrecht zubilligt?
Wenn nein, warum nicht?
Wenn ja, wie wird sich die Bundesregierung im Europäischen Rat für den
Schutz dieser Rechte einsetzen?

13. Was erwartet die Bundesregierung von der „Evaluierung der Arbeitsschutz-
vorschriften […] [mit der die Kommission] […] die zu behebenden Mängel
identifizieren und gezielte Maßnahmen ausarbeiten [möchte], mit denen die
Belastungen für die KMU gesenkt und diese dabei unterstützt werden, den
EU-Anforderungen nachzukommen“ (COM(2015) 215 final), und wird die
Bundesregierung sich für die Beibehaltung des derzeit bestehenden Schutz-
niveaus im Arbeitsschutz einsetzen?

14. Kann der REFIT-Prozess (REFIT: Regulatory Fitness and Performance Pro-
gramme) aus Sicht der Bundesregierung dazu führen, dass dringende Regu-
lierungen im Arbeits- und Gesundheitsschutz nicht in Angriff genommen
werden, weil keine weiteren Regulierungen erwünscht sind, die kleine und
mittlere Unternehmen betreffen, wie dies bereits im „EU Strategic Frame-
work on Health and Safety at Work 2014–2020: Adapting to new challenges –
Council conclusions“ (7013/15 SOC 165 EMPL 85) angedeutet wird?
Wenn nein, wie wird dies verlässlich ausgeschlossen?

15. Wie beurteilt die Bundesregierung, dass die Europäische Kommission auch
fertig ausgehandelte Sozialpartnervereinbarungen nach Artikel 155 AEUV
zukünftig, insbesondere wenn diese zur Weiterleitung an den Rat bestimmt
sind, einer nicht klar definierten Folgenabschätzung (sog. impact assess-
ment) unterzogen werden, und wird sich die Bundesregierung dafür einset-
zen, dass Sozialpartnervereinbarungen von der Folgeabschätzung ausge-
nommen werden?

16. Wird die Bundesregierung sich im Europäischen Rat dafür einsetzen, dass
a) soziale und ökologische Aspekte in den Folgeabschätzungen der Kom-

mission angemessen berücksichtigt werden,
b) auch eine Kostenanalyse im Falle einer Nichtregelung durchgeführt

wird, und
c) die Sozialpartner die Möglichkeit erhalten, ihre Expertise in die Folgen-

abschätzung einzubringen?
Wenn ja, warum?
Wenn nein, warum nicht (bitte jeweils für 16a bis 16c)?

Berlin, den 17. August 2015

Katrin Göring-Eckardt, Dr. Anton Hofreiter und Fraktion

anzeiger Verlag GmbH, Postfach 10 05 34, 50445 Köln, Telefon (02 21) 97 66 83 40, Fax (02 21) 97 66 83 44, www.betrifft-gesetze.de

x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.