BT-Drucksache 18/5568

Brandschutz beim Bahnhofsprojekt Stuttgart 21

Vom 8. Juli 2015


Deutscher Bundestag Drucksache 18/5568
18. Wahlperiode 08.07.2015

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Sabine Leidig, Caren Lay, Herbert Behrens, Karin Binder,
Annette Groth, Heike Hänsel, Thomas Lutze, Dr. Kirsten Tackmann und der
Fraktion DIE LINKE.

Brandschutz beim Bahnhofsprojekt Stuttgart 21

In dem gemeinsamen Antrag der Fraktionen DIE LINKE. und BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN (Bundestagsdrucksache 18/3647) war für die im Bau befind-
liche Bahnsteighalle von Stuttgart 21 das fehlende Brandschutzkonzept moniert
worden (S. 7). Bezweifelt wurde dabei insbesondere, ob die Zahl der zu evaku-
ierenden Personen die geplanten Betriebsprogramme widerspiegelt, nach denen
pro Bahnsteig entsprechend dem „EBA-Formalismus mehr als 6 000 Personen“
(EBA – Eisenbahn-Bundesamt) zu evakuieren wären.
In der Anhörung zu diesem Antrag im Ausschuss für Verkehr und digitale Infra-
struktur des Deutschen Bundestages am 6. Mai 2015 wurde dieser Sachverhalt
auch in den Stellungnahmen der Experten angesprochen (Ausschussdrucksa-
chen 18(15)225-A, S. 2 und 6 „Auswirkungen der […] Brandschutzanforderun-
gen auf die Betriebsabwicklung“, 18(15)225-B, S. 19 „auf doppelbelegten Glei-
sen“ … gut 6.000 Reisende). In der mündlichen Anhörung verwies hingegen
Projektchef Manfred Leger auf insgesamt 16 164 Personen laut der „EBA-For-
mel“ (Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur, Protokoll 18/41, S. 5).
Dies entspräche 4 041 Personen auf jedem der vier Bahnsteige. Diese Zahl ist
auch die Basis der Genehmigung des Brandschutzkonzepts durch das EBA
(„EBA-Bescheid“ vom 23. April 2015, Planfeststellungsabschnitt – PFA 1.1,
6. Planänderung, S. 20; „EBA-Akte“, PFA 1.1, 6. Planänderung, S. 425, 173R).
Den Fragestellern ist für Stuttgart 21 kein Betriebsprogramm mit praxisnahen
Haltezeiten bekannt, das die für den Bahnhofsneubau geforderte Zugleistung er-
bringen könnte, ohne dabei Doppelbelegungen (Halt zweier Züge hintereinan-
der an einer Bahnsteigkante) umfassend zu nutzen. In der Anhörung vom 6. Mai
2015 führte der Technikvorstand der Deutschen Bahn AG, Dr. Volker Kefer, den
sogenannten Stresstest als auditierten Kapazitätsnachweis für Stuttgart 21 an
(Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur, Protokoll 18/41, S. 4). Dem
Betriebsprogramm zufolge, das diesem sogenannten Stresstest zugrunde liegt,
hält jeder zweite Zug in einer solchen Doppelbelegung. Mit diesen Doppelbele-
gungen werden jedoch sehr viele Reisende in kurzer Zeit auf einen Bahnsteig
gebracht. Diese Menschen müssen im Katastrophenfall über die Fluchttreppen
auch rechtzeitig evakuiert werden können.
Für die dem Brandschutzkonzept von Stuttgart 21 zugrunde liegenden Berech-
nungen wurde je ein Regionalzug mit sieben Doppelstockwaggons an jeder der
zwei Kanten eines Bahnsteigs angesetzt (Angabe nach Klaus-Jürgen Bieger,
Brandschutzbeauftragter der Deutschen Bahn AG, am 22. Oktober 2013 in der
Sitzung des Ausschusses für Umwelt und Technik des Stuttgarter Gemeinderats,

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Protokoll vom 22. Oktober 2013, S. 19). Hierfür ergeben sich laut der „EBA-
Formel“ (EBA-Leitfaden für den Brandschutz, S. 10 und 11) tatsächlich
4 041 Personen pro Bahnsteig oder 16 164 Personen auf allen vier Bahnsteigen
zusammen. Klaus-Jürgen Bieger hatte vor dem Stuttgarter Gemeinderat aber
auch klargestellt, dass die für das Brandschutzkonzept zugrunde gelegten Züge
den Fildertunnel gar nicht befahren können. Ursache ist die im Tunnel vorlie-
gende Steigung von 25 Promille, die auch in gleicher Höhe in allen anderen Zu-
lauftunneln vorliegt (PFA 1.2, 1.5, 1.6a, jeweils Erläuterungsbericht, Teil III).
Das bedeutet im Klartext, dass solche Züge, die Grundlage des Brandschutzkon-
zepts sind, den Bahnhof Stuttgart 21 grundsätzlich nicht anfahren können.
Zwar verweist die Bundesregierung beim Projekt Stuttgart 21 immer wieder
grundsätzlich darauf, dass es sich hierbei um ein eigenwirtschaftliches Projekt
der Deutschen Bahn AG handele und nicht um eines des Bundes. Dennoch er-
gibt sich ihre Beteiligung nach Auffassung der Fragesteller an der Realisierung
dieses Projektes daraus, dass sie erstens eine grundsätzliche und auch grundge-
setzlich verankerte Verantwortung für den Erhalt der Leistungsfähigkeit der
Schieneninfrastruktur hat, dass zweitens das EBA als Genehmigungsbehörde
eine Bundesbehörde ist, die dem Bundesministerium für Verkehr und digitale In-
frastruktur (BMVI) untersteht (welches auch schon Entscheidungen des EBA
korrigierte in Form der Ausnahmegenehmigung für die S-Bahn-Tunnel-Mit-
benutzung auf den Fildern vom 18. Juni 2010), sowie dass sie drittens Vertrete-
rin des Bundes ist, dem Eigner der Deutschen Bahn AG. Die Bundesregierung
entsendet überdies mehrere Staatssekretäre in den Aufsichtsrat der Deutschen
Bahn AG. In dieser Funktion haben sie die Verpflichtung, Schaden vom Unter-
nehmen, den Kunden und dem Eigner fernzuhalten. Zudem hatte Bundes-
kanzlerin Dr. Angela Merkel im Jahr 2010 das Projekt Stuttgart 21 zum Maßstab
für die „Zukunftsfähigkeit Deutschlands“ erklärt (Rede von Bundeskanzlerin
Dr. Angela Merkel im Deutschen Bundestag vom 15. September 2010, Plenar-
protokoll 17/58, S. 6045).
Das EBA ließ bisher in Bezug auf Doppelbelegungen und ihre Auswirkungen
auf den Brandschutz verlautbaren, dass „erst zur Inbetriebnahme“ über „betrieb-
liche und technische Regelungen“ entschieden werden müsse (Stuttgarter Nach-
richten vom 20. März 2015: „Fluchtwege im Bahnhof nur 30 Minuten sicher“).
Dies entspricht im Kern auch der Position des EBA zu der sechsfach über dem
Sollwert der Eisenbahnbau- und Betriebsordnung liegenden Gleisneigung im
Tiefbahnhof: Auch hier sei über „betriebliche Maßnahmen“, um die „Sicherheit
des Betriebes zu gewährleisten“, zur „Inbetriebnahme“ zu entscheiden (Brief
des EBA vom 4. Mai 2015 an Jobst Knoblauch; Brief des EBA vom 11. August
2014 an den Landesverband des Verkehrsclubs Deutschland e. V. Baden-Würt-
temberg, in Sven Andersen, „Gutachten über die Beurteilung der überhöhten
Gleisneigung beim Bahnhofsprojekt Stuttgart 21 unter Berücksichtigung der
Anforderungen aus der EBO und dem bisherigen Verfahrensablauf“ vom 4. Ok-
tober 2014, S. 47).
Ähnlich fiel auch die Antwort des BMVI vom 6. Dezember 2011 auf die
Schriftlichen Fragen der Abgeordneten Sabine Leidig aus, nach der die Frage,
ob Stuttgart 21 zu klein sei, sinngemäß erst kurz vor Fertigstellung des Projektes
geklärt zu werden brauche (Bundestagdrucksache 17/8206, S. 83, Antwort zu
den Fragen 70 und 71).

Wir fragen die Bundesregierung:
1. Welche Schlussfolgerungen und Konsequenzen zieht die Bundesregierung

daraus, dass das Brandschutzkonzept des größten deutschen Bauprojekts
möglicherweise auf der Annahme von Zügen basiert, die diesen Bahnhof
technisch gar nicht befahren können (siehe Vorbemerkung der Fragesteller)?

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2. Kann die Bundesregierung ausschließen, dass sich ausgehend von dieser
möglichen Fehlannahme im Brandschutz Probleme ergeben, die eine Inbe-
triebnahme ähnlich wie beim Flughafen Berlin-Brandenburg BER gefähr-
den könnten oder den zur Rechtfertigung des Baus angeführten Kapazitäts-
zuwachs infrage stellen (bitte begründen)?

3. Kann nach Einschätzung der Bundesregierung alleine die Verwendung der
so genannten EBA-Formel ausreichen, oder müssen nicht auch die einge-
setzten Größen (in diesem Fall die angenommene Art der Züge) geprüft
werden, um sicherzustellen, dass das Brandschutzkonzept auf realistischen
Annahmen beruht (bitte begründen)?

4. Müssten nicht realistische Annahmen für die bei Stuttgart 21 anzutreffende
Maximalbelastung eines Bahnsteigs mit Zügen zur Grundlage des Brand-
schutzes gemacht werden (bitte begründen)?
Welche Annahmen zur Maximalbelastung hält die Bundesregierung für
realistisch?

5. Welche Schlussfolgerungen und Konsequenzen zieht die Bundesregierung
daraus, dass die Doppelbelegung von Gleisen nach Auffassung der Frage-
steller für das Brandschutzkonzept nicht berücksichtigt wurde?

6. Müsste nicht die bei Doppelbelegungen tatsächlich zu erwartende Maximal-
belegung der Bahnsteige mit bis zu vier Zügen für die Evakuierung ange-
setzt werden?
Wenn nein, warum nicht?
Wenn ja, wie wird dies gewährleistet?

7. Stimmt die Bundesregierung der Einschätzung zu, dass im Falle der
Doppelbelegungen mit den tatsächlich für Stuttgart 21 geplanten kürzeren
Regionalverkehrszügen mit je fünf Doppelstockwaggons statt der bisher
angesetzten 4 014 vielmehr rund 6 000 Reisende pro Bahnsteig zu
evakuieren wären (www.wikireal.org/wiki/Stuttgart_21/Personenzugänge/
Entfluchtung), sich damit also eine anderthalb mal längere Entfluchtungs-
zeit ergäbe (bitte mit Begründung)?

8. Inwiefern wurde der Bundesregierung nachvollziehbar die ausreichende
und regelkonforme Dimensionierung der Bahnsteige unter Berücksichti-
gung der Engpässe neben den neu eingeführten Fluchttreppenräumen für die
geplanten Betriebsprogramme belegt?
Wenn ja, wie wurde dies belegt, welche Studie liegt dem zugrunde, wo kann
diese nach Kenntnis der Bundesregierung eingesehen werden, und werden
in dieser Untersuchung Doppelbelegungen berücksichtigt?

9. Falls eine solche Studie nicht vorliegt, wie konnte dann das Brandschutz-
konzept (6. Planänderung zu PFA 1.1) ohne einen Nachweis der Tauglich-
keit für den täglichen Betrieb vom EBA genehmigt werden?

10. Ist der Bundesregierung die technische Lösung für die Zufuhr von Luft für
die Entrauchung (EBA-Bescheid, S. 21) mit je 1,2 Mio. m3/h aus beiden
Tunnelröhren (EBA-Akte, S. 496, 371R) bekannt?
Wie ist diese Luftzufuhr technisch möglich, wenn die Lüfter nach Informa-
tion der Fragesteller etwa im Norden kilometerweit von der Bahnhofshalle
entfernt sind und deren Luftstrom in die Tunnelröhren sowie im Schwall-
bauwerk Nord entweicht?
Genügt es für die Genehmigung des Brandschutzes, diese Zuluft ohne nach-
gewiesene technische Lösung, quasi „virtuell“ in die Simulationen einzuset-
zen (bitte begründen)?

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11. Lag für den Nachweis der Rauchfreihaltung des Straßburger Platzes (auf
den der Rauch aus der Bahnsteighalle entweicht und auf den die Flüchten-
den über die Fluchttreppen gelangen), wie von den Trägern öffentlicher
Belange gefordert, eine aerodynamische Simulation vor (bitte veröffentli-
chen), oder war die Grundlage der Genehmigung die formelmäßige Berech-
nung nach der „Freistrahltheorie“ (EBA-Akte, S. 577, 573, 565, 476 ff.)?

12. Ist die Berechnung nach der Freistrahltheorie nach Kenntnis der Bundes-
regierung ein anerkannter Ersatz für eine Verrauchungssimulation unter
Berücksichtigung ungünstiger Witterungsbedingungen und Topographie
(Lichtaugen, Nachbargebäude; bitte begründen)?
Ist diese Berechnung von der Prüfung durch den unabhängigen Brand-
schutzgutachter umfasst (bitte begründen)?

13. Welche Personenstromanalyse ist die Grundlage der Aussage des EBA, das
neue Brandschutzkonzept sei mit der „vorgelegten Personenstromanalyse
und der Evakuierungsberechnung konform“ (EBA-Bescheid, S. 18)?
a) Umfasst diese Personenstromanalyse bereits die neuen möglichen Eng-

pässe auf den Bahnsteigen mit der Minimalbreite von 2,05 Metern neben
den Fluchttreppenräumen?

b) Welcher Nachweis liegt vor, dass diese möglichen Engpässe keine unzu-
mutbare Behinderung im täglichen Betrieb bewirken, insbesondere wäh-
rend der geplanten Doppelbelegungen?

14. Welche Schlussfolgerungen und Konsequenzen zieht die Bundesregierung
daraus, wenn die Träger öffentlicher Belange ihre Zustimmung unter den
Vorbehalt stellen, an den zugrunde liegenden Beratungen nicht beteiligt ge-
wesen zu sein und die „angeführten Gutachten und Stellungnahmen“ nicht
zu kennen (EBA-Akte, S. 573; bitte begründen)?
Reicht eine solche Zustimmung ihrer Auffassung nach aus (bitte begrün-
den)?

15. Aufgrund welcher Bestimmungen war es zulässig, dass bei der aktuellen
Genehmigung des geänderten Brandschutzkonzepts der Gutachter durch die
Deutsche Bahn AG bezahlt wurde (EBA-Bescheid, S. 20, EBA-Akte,
S. 151, 209), während der Brandschutz von Stuttgart 21 zuvor im Auftrag
des EBA begutachtet wurde?

16. Genügt nach Einschätzung der Bundesregierung die Prüfung durch einen
von der Deutschen Bahn AG beauftragten Gutachter dem Anspruch einer
„unabhängigen“ Prüfung des Brandschutzkonzepts (bitte begründen)?

17. Inwiefern sieht die Bundesregierung für die von ihr entsandten Mitglieder
im Aufsichtsrat der Deutschen Bahn AG Klärungs- bzw. Handlungsbedarf
hinsichtlich der Fragen 1 bis 15?
Wenn sie einen solchen nicht sieht, mit welcher Begründung können die
Aufsichtsräte die angeführten möglichen Mängel am Brandschutz von Stutt-
gart 21 ausschließen?

18. Sieht die Bundesregierung Korrekturbedarf an den Entscheidungen des ihr
unterstellten EBA hinsichtlich der Genehmigung des Brandschutzes für
Stuttgart 21?
Wenn ja, welchen?
Wenn nein, warum nicht?

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19. Sieht die Bundesregierung bzw. das EBA wegen der möglichen Probleme
bei der Entfluchtung im Katastrophenfall (Fragen 5 bis 7) die Notwendig-
keit, für Stuttgart 21 Doppelbelegungen von Bahnsteigen zu untersagen?
Wenn nein, warum nicht?
Wenn ja, welche Maßnahmen leitet die Bundesregierung in dieser Sache
bzw. in Richtung des EBA ein?

20. Was würde ein mögliches Verbot der Doppelbelegung von Bahnsteigen
nach Einschätzung der Bundesregierung für die verkehrliche Kapazität des
Bahnhofsneubaus bedeuten?
Ist ihrer Auffassung nach dann das geplante Verkehrswachstum tatsächlich
noch realisierbar oder auch nur der heutige Verkehrsbedarf erfüllbar (bitte
begründen)?

21. Sofern entsprechend den Antworten der Bundesregierung auf die vorausge-
henden Fragen wesentliche Punkte in diesem Zusammenhang erst zur Inbe-
triebnahme geklärt werden sollen (siehe Vorbemerkung der Fragesteller),
inwieweit kann es nach Einschätzung der Bundesregierung der Maßstab
für die „Zukunftsfähigkeit Deutschlands“ (Zitat der Bundeskanzlerin Dr.
Angela Merkel, Rede im Deutschen Bundestag vom 15. September 2010)
sein, wenn für den Brandschutz des größten Bauprojektes des Landes zwar
die richtigen Formeln angesetzt werden, aber möglicherweise unzutreffende
Eingangsgrößen verwendet werden?

22. Ist es nach Ansicht der Bundesregierung sachgerecht, die Frage, ob diesem
Projekt möglicherweise entweder der regelkonforme Brandschutz oder aber
die nötige Leistungsfähigkeit fehlt, erst nach dem Bau zu bearbeiten (bitte
begründen)?

Berlin, den 7. Juli 2015

Dr. Gregor Gysi und Fraktion
anzeiger Verlag GmbH, Postfach 10 05 34, 50445 Köln, Telefon (02 21) 97 66 83 40, Fax (02 21) 97 66 83 44, www.betrifft-gesetze.de

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