BT-Drucksache 18/553

Die strategische Rasterfahndung des Bundenachrichtendienstes im Zeitraum 2002-2012

Vom 14. Februar 2014


Deutscher Bundestag Drucksache 18/553
18. Wahlperiode 18.02.2014
Kleine Anfrage
der Abgeordneten Jan Korte, Halina Wawzyniak, Dr. André Hahn, Ulla Jelpke,
Petra Pau, Harald Petzold (Havelland), Martina Renner, Dr. Petra Sitte, Frank
Tempel und der Fraktion DIE LINKE.

Die strategische Rasterfahndung des Bundenachrichtendienstes im
Zeitraum 2002 bis 2012

Mit der Novellierung des G 10-Gesetzes vom 26. Juni 2001 – also noch vor den
für weitere Überwachungsausweitungen folgenreichen Ereignissen vom
11. September 2001 – wurden durch den Gesetzgeber einerseits Vorgaben aus
der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 14. Juli 1999 (1 BvR
2226/94, 1 BvR 2420/95, 1 BvR 2437/95) umgesetzt, andererseits Erweiterun-
gen hinzugefügt, die über den Regelungsauftrag des Gerichts hinausgingen.
Hierzu zählte die Ausweitung der Überwachungsverfügbarkeit für die von und
nach Deutschland geführte internationale Telekommunikation auf 20 Prozent
der zur Verfügung stehenden Übertragungskapazität.
Zwar hieß es in der Begründung zur Neufassung des G 10-Gesetzes seinerzeit,
es sei „nicht beabsichtigt, den Umfang der bisherigen Kontrolldichte zu erwei-
tern“ (Bundestagsdrucksache 14/5655, S. 17). Doch geböte es – wie dort im wei-
teren erläutert wird – die neuartige Technologie der Paketvermittlung (Packet
Switching) zugleich, die Obergrenze in der Erfassungskapazität auf 20 Prozent
heraufzusetzen. Als Beleg dazu diente das Beispiel eines Telefaxes, dessen An-
fang über einen Lichtwellenleiter, dessen Mittelteil über Satellit und dessen
Ende über Koaxialkabel geroutet werde. Da die Pakete erst kurz vor ihrem Ziel
– „etwa an der letzten Vermittlungsstelle vor dem Empfänger“ – wieder zusam-
mengesetzt würden, wäre die strategische Fernmeldekontrolle ohne das Aufspü-
ren der einzelnen Pakete auf den unterschiedlichen Übertragungswegen „sinnlos
und unverwertbar“ (ebd.).
Mit dieser Darstellung war nicht nur ein Bild der Leitwegebestimmung und
Paketvermittlung gezeichnet, das der bestehenden physikalischen Netzwerk-
architektur nicht entsprach. Hinter dem Kabelverzweiger oder dem Hauptvertei-
ler der Vermittlungsstelle begann und beginnt kein dezentralisiertes Kommuni-
kationsnetz ohne Hierarchien, in dem die Leitwegeberechnung vollständig un-
gebündelt, hierarchisch unstrukturiert und technisch wie ökonomisch ineffizient
erfolgt (Rainer Fischbach „Internet: Zensur, technische Kontrolle, Verwertungs-
interessen“ in Bisky/Kriese/Scheele (Hrsg.) „Medien – Macht – Demokratie“,
Berlin 2009, S. 116f). Auch wurde unterschlagen, dass ein Abgreifen aller
Pakete an der richtigen Stelle, etwa dem Kern- oder Backbonenetz bzw. den In-
ternetaustauschknoten (CIX), möglich ist. Ferner wurden nach Auffassung der
Fragesteller den 10 Prozent aus der geheimdienstlichen Praxis in der Über-
wachung der zuvor allein nicht leitungsgebundenen Kommunikation (Richtfunk
und Satellit) weitere 10 Prozent – sozusagen additiv für die leitungsgebundene

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Kommunikation (Glasfaser- und Koaxialkabel) – aufgeschlagen und rechtlich
auf 20 Prozent der gesamten elektronischen Kommunikation ausgedehnt.
Neben dieser, den Bedingungen des G 10-Gesetzes unterworfenen, strategischen
Rasterfahndung der Telekommunikation betreibt der Bundesnachrichtendienst
(BND) auch eine Überwachung jenes Teils der Telekommunikation, die im
sogenannten offenen Himmel stattfindet (Dr. Bertold Huber „Die strategische
Rasterfahndung des Bundesnachrichtendienstes – Eingriffsbefugnisse und
Regelungsdefizite“, NJW 2013, S. 2573). Hierbei handelt es sich um Telekom-
munikationsverkehre, die ihren Ausgangs- und Zielpunkt in zwei ausländischen
Staaten oder innerhalb eines ausländischen Staates haben. Eine effektive Kon-
trolle dieser, sich auf das BND-Gesetz berufenden, strategischen Rasterfahndung
findet, wie sich zuletzt im Falle von 500 Millionen Metadaten zeigte, die laut
Presseberichten allein im Dezember 2012 an die National Security Agency
(NSA) weitergegeben wurden und nach der Erklärung des früheren Chefs des
Bundeskanzleramtes und Bundesministers für besondere Aufgaben, Ronald
Pofalla, vom 19. August 2013 der Auslandsaufklärung des BND in Bad Aibling
und in Afghanistan entstammen sollen, nicht statt.
Zudem steht seit den Snowden-Enthüllungen der Verdacht im Raum, dass die
westlichen Geheimdienste untereinander einen Tauschring betreiben. Der aktive
Zugriff auf Informationen aus Inlandskommunikation ist ihnen gewöhnlich
durch die bestehenden Rechtsgrundlagen versperrt. Will ein Dienst, aus welchen
Gründen auch immer, dennoch Zugriff auf solche Informationen, muss er im Ge-
genzug Informationen aus Auslandskommunikation zum Tausch anbieten. Eine
Art des Ringtauschs versorgt dann jeden Dienst mit den benötigten Inlandsinfor-
mationen, die er eigenständig nicht gewinnen darf.

Wir fragen die Bundesregierung:
1. Wie viele Telekommunikationsverkehre fallen nach Kenntnis der Bundes-

regierung gegenwärtig weltweit an, wie viele davon werden von und nach
Deutschland geführt, und wie viele sind rein innerdeutsche Verkehre?

2. Welcher Anteil der von und nach Deutschland geführten internationalen
Telekommunikationsverkehre wird nach Kenntnis der Bundesregierung
heute leitungsgebunden (Glasfaser- und Koaxialkabel) und welcher nicht
leitungsgebunden (Richtfunk und Satellit) übertragen?

3. Welcher Anteil am gesamten in Deutschland anfallenden Netzwerkverkehr
entfällt nach Kenntnis der Bundesregierung aktuell jeweils auf die Protokolle
und Protokollklassen E-Mail (SMTP, IMAP, POP3), Voice over IP (VoIP)
und Instant Messaging (IM)?

4. Aus welchem Grund hat die Bundesregierung die Zahl der Telekommunika-
tionsverkehre, die tatsächlich in die Umwandlungsgeräte bzw. Empfangsan-
lagen – im Folgenden einheitlich: Erfassungssysteme – des BND gelangen,
im Jahr 1999 gegenüber dem Bundesverfassungsgericht (1 BvR 2226/94,
1 BvR 2420/95, 1 BvR 2437/95, Rn. 89, 230) und im Jahr 2001 gegenüber
dem Deutschen Bundestag (Bundestagsdrucksache 14/5655, S. 18) öffentlich
gemacht, stuft jüngere, ähnlich lautende parlamentarische Auskünfte (Bun-
destagsdrucksache 17/9640, S. 5) darüber aber als „VS – Geheim“ ein und
verweist diese in die Geheimschutzstelle des Deutschen Bundestages?

5. Wie viele Telekommunikationsverkehre gelangten im Zeitraum von 2002 bis
2012 täglich in die Erfassungssysteme des BND, und wie viele davon wurden
auf der Grundlage der Rechtsansicht, Artikel 10 des Grundgesetzes (GG) und
das G 10-Gesetz griffen nicht, der Aufgabenzuweisung des § 1 des BND-Ge-
setzes (BNDG) zugeordnet (bitte nach Jahr und jeweiliger Anzahl aufschlüs-
seln)?

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6. Wie oft und in welchem Umfang hat der BND Daten aus Beschränkungen
in Einzelfällen (§ 3 G 10-Gesetz) im Zeitraum von 2002 bis 2012 an mit
nachrichtendienstlichen Aufgaben betraute ausländische öffentliche Stellen
übermittelt (bitte nach Jahr, Anzahl der Übermittlungen und Anzahl der
übermittelten Datensätze aufschlüsseln)?

7. Wie oft und in welchem Umfang hat der BND Daten aus strategischen Be-
schränkungen (§ 5 G 10-Gesetz) im Zeitraum 2002 bis 2012 an mit nach-
richtendienstlichen Aufgaben betraute ausländische öffentliche Stellen
übermittelt (bitte nach Jahr, Anzahl der Übermittlungen und Anzahl der
übermittelten Datensätze aufschlüsseln)?

8. Wie oft und in welchem Umfang hat der BND Daten aus der Überwachung
von Kommunikationen, die ihren Anfangs- und Endpunkt im Ausland haben,
im Zeitraum von 2002 bis 2012 an mit nachrichtendienstlichen Aufgaben be-
traute ausländische öffentliche Stellen übermittelt (bitte nach Jahr, Anzahl der
Übermittlungen und Anzahl der übermittelten Datensätze aufschlüsseln)?

9. Wie oft und in welchem Umfang haben mit nachrichtendienstlichen Aufga-
ben betraute ausländische öffentliche Stellen Daten aus der Überwachung
von Kommunikationen mit Deutschlandbezug, darunter auch innerdeutsche
Verkehre, im Zeitraum von 2002 bis 2012 an den BND übermittelt (bitte
nach Jahr, Anzahl der erhaltenen Übermittlungen und Anzahl der übermit-
telten Datensätze aufschlüsseln)?

10. Hält es die Bundesregierung weiterhin für zeitgemäß, dass die G 10-Kom-
mission lediglich über Übermittlungen an ausländische öffentliche Stellen
aus Beschränkungen nach § 5 G des 10-Gesetzes zu unterrichten ist, nicht
aber über solche aus § 3 des G 10-Gesetzes und ebenso wenig über Über-
mittlungen aus der Überwachung von Kommunikationen mit Deutschland-
bezug, darunter auch innerdeutsche Verkehre, die der BND von ausländi-
schen öffentlichen Stellen erhält?
Wenn ja, warum?

11. Hält die Bundesregierung die von ihr vor dem Bundesverfassungsgericht
vertretene Rechtsansicht, Artikel 10 GG und das G 10-Gesetz griffen nicht
bei der Überwachung der Telekommunikation im sogenannten offenen
Himmel weiterhin für zeitgemäß vor dem Hintergrund, dass heute – so nach
Auskunft der Bundesregierung selbst – „an beliebigen Orten der Welt Kom-
munikationen mit Deutschlandbezug, darunter auch innerdeutsche Ver-
kehre, auftreten“ (Bundestagsdrucksache 17/14739, S. 14) können?

12. In wie vielen Fällen und in welcher Größenordnung wurden im Zeitraum
von 2002 bis 2012 Beschränkungsmaßnahmen des BND nach § 5 des G 10-
Gesetzes vor der Unterrichtung der G 10-Kommission wegen Gefahr im
Verzug angeordnet (bitte nach Jahr, Anzahl und Prozentsatz an der Gesamt-
heit der Beantragungen aufschlüsseln)?

13. In wie vielen Fällen und in welcher Größenordnung wurden im Zeitraum
von 2002 bis 2012 Anordnungen auf Beschränkungsmaßnahmen des BND
nach § 5 G 10-Gesetz von der G 10-Kommission für unzulässig oder nicht
notwendig erklärt (bitte nach Jahr, Anzahl und Prozentsatz an der Gesamt-
heit der Beantragungen aufschlüsseln)?

14. Welche genauen Umstände sind maßgebend dafür, dass die Bundesregierung
der G 10-Kommission Anträge zu Beschränkungsmaßnahmen in Form von
Tischvorlagen vorlegt, wie der vormalige Vorsitzende der G 10-Kommission
Dr. Hans de With (taz.de, 2. August 2013, www.taz.de/!121082/) berichtet?

15. Nach welchen Kriterien bestimmt die Bundesregierung, in welchen zeit-
lichen Abständen, durch wen und in welcher Form die Mitglieder der G 10-

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Kommission über die technische Seite der nachrichtendienstlichen Erfas-
sungssysteme und ihre Entwicklung in Kenntnis gesetzt werden?

16. Wie wird von unabhängiger Seite sichergestellt, dass die Integrität der infor-
mationstechnischen Erfassungssysteme des BND jederzeit gegeben ist und
beispielsweise von außen nicht auf die Protokolldatei zugegriffen werden
kann, das Nachladen von Programmcodes zum Ausführen nicht genehmig-
ter Funktionen ausgeschlossen bleibt und auch keine „Hintertüren“ zu ei-
nem Zugriff auf die Erfassungssysteme bestehen?

17. Hat die Bundesregierung im Zeitraum von 2002 bis 2012 unabhängige tech-
nische Überprüfungen der Erfassungssysteme des BND veranlasst, und
wenn ja, welche Mittel wurden dafür verwendet (bitte nach Jahr, Betrag und
jeweiligem Haushaltstitel, aus dem die Mittel zur Verfügung gestellt wer-
den, aufschlüsseln)?

18. Wurden im Rahmen dieser oder anderer Überprüfungen auch Einsichtnah-
men in den Quellcode der Erfassungssysteme gewährt?
Wenn ja, wann?
Wenn nein, warum nicht?

19. In welcher Form wird eine physikalische oder logische Trennung zwischen
jenen Erfassungssystemen gewährleistet, die bezogen auf eine Kapazitäts-
schranke nach den Deliktbereichen aus § 5 des G 10-Gesetzes operieren,
und solchen, die prozentual unbeschränkt zugreifen können – etwa in der
Überwachung der internationalen Telekommunikation, die ihren Ausgangs-
und Endpunkt im Ausland hat – oder auch in Beschränkungsmaßnahmen
nach § 8 des G 10-Gesetzes (Gefahr für Leib oder Leben einer Person in
Ausland)?

20. Hält die Bundesregierung die Kapazitätsgrenze in Höhe von 20 Prozent
weiterhin für zeitgemäß vor dem Hintergrund, dass heute sämtliche netz-
werkbezogene Kommunikation digital erfolgt, mit ihr potentiell an sechs
von 30 Tagen eines Monats eine vollständige Überwachung der elektroni-
schen Kommunikation möglich ist und somit – entgegen der Erwartung des
Bundesverfassungsgerichts (1 BvR 2226/94, 1 BvR 2420/95, 1 BvR 2437/
95, Rz. 223) aus dem Jahr 1999 – eine flächendeckende Erfassung jedenfalls
des internationalen Fernmeldeverkehrs zu besorgen ist?
Wenn ja, warum?

21. Gilt die Aussage der Bundesregierung (Bundestagsdrucksache 17/14560,
S. 23), dass ein „Full take“ und eine Nutzung von XKeyscore „im Rahmen
und in den Grenzen des Artikel 10-Gesetzes zulässig“ sei, auch vor dem
Hintergrund, dass nach den technischen Darlegungen aus dem PRISM-Be-
richt Caspar Bowdens für das Europäische Parlament (The US surveillance
programmes and their impact on EU citizensʼ fundamental rights, S. 13/14)
XKeyscore die Daten drei Tage lang in einem Zwischenspeicher vorhält?

22. Wird das Überwachungssystem XKeyscore, das nach Angaben der Bundes-
regierung (Bundestagsdrucksache 17/14560, S. 21) seit dem Jahr 2007 in
Bad Aibling im Einsatz ist und seit dem Jahr 2013 in zwei weiteren Außen-
stellen des BND getestet wird, auch im Rahmen des G 10-Gesetzes einge-
setzt oder dazu erprobt?

Berlin, den 13. Februar 2014

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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