BT-Drucksache 18/5103

Kinder- und Jugendhilfe - Beteiligungsrechte stärken, Beschwerden erleichtern und Ombudschaften einführen

Vom 10. Juni 2015


Deutscher Bundestag Drucksache 18/5103
18. Wahlperiode 10.06.2015
Antrag
der Abgeordneten Beate Walter-Rosenheimer, Dr. Franziska Brantner, Katja
Dörner, Ulle Schauws, Doris Wagner, Kai Gehring, Maria Klein-Schmeink, Tabea
Rößner, Elisabeth Scharfenberg, Kordula Schulz-Asche, Dr. Harald Terpe, Irene
Mihalic, Özcan Mutlu, Matthias Gastel, Corinna Rüffer und
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Kinder- und Jugendhilfe – Beteiligungsrechte stärken, Beschwerden erleichtern
und Ombudschaften einführen

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Die Kinder- und Jugendhilfe unterstützt Kinder, Jugendliche und ihre Familien auf
dem Weg ins Erwachsenenleben. Ob Kindertagesbetreuung, Jugendarbeit, die Hort-
betreuung oder Hilfen zur Erziehung: fast alle Kinder und Jugendlichen kommen im
Laufe ihres Lebens damit in Berührung. Jeder junge Mensch hat ein Recht auf För-
derung seiner Entwicklung und auf Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und
gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit. Junge Menschen sind also nicht nur Empfän-
ger von Leistungen, sondern haben eigene Rechte. Diese leiten sich vor allem aus
der UN-Kinderrechtskonvention ab; die meisten Kinderrechte sind im Achten Buch
Sozialgesetzbuch (SGB VIII) formuliert. So sind Kinder und Jugendliche auch „an
allen sie betreffenden Entscheidungen der öffentlichen Jugendhilfe zu beteiligen“
(§ 8). Allerdings haben Minderjährige bislang kein eigenständiges Antragsrecht auf
Leistungen des SGB VIII beispielsweise im Bereich der Hilfen zur Erziehung (§ 27
SGB VIII) und bei dem Recht auf Beratung (§ 8 Absatz 3 SBG VIII). Auch haben
Kinder, Jugendliche und ihre Eltern kaum Möglichkeiten, per Beschwerde gegen
Verletzungen ihrer Rechte vorzugehen.

Bislang gibt es bei öffentlichen Trägern der Kinder- und Jugendhilfe – kommunale
Jugendämter und Landesjugendämter – keinen strukturierten Umgang mit Be-
schwerden oder Kritik. Zwar sind Beschwerdemöglichkeiten im Rahmen von Ver-
waltungsverfahren möglich, doch diese Wege sind relativ schwierig, sie werden
nicht bekannt gemacht oder offensiv angeboten, es gibt keine transparenten und ein-
heitlichen Verfahren und es fehlt an systematischer Auswertung. Klare Prozesse und
festgelegte Zuständigkeiten im Umgang mit Beschwerden oder Verbesserungsvor-
schlägen kann die Qualität der Arbeit der Jugendämter weiter verbessern. Damit ein
solches Beschwerdesystem erfolgreich ist, müssen auch Kinder und Jugendliche
wissen, wann, wie und wo sie sich an jemanden wenden können. Ist das Beschwer-
deverfahren erst einmal etabliert, wird dadurch das Vertrauen in Jugendämter ge-
stärkt und die Zusammenarbeit mit den Hilfesuchenden besser.

Kinder und Jugendliche, die in Heimen oder Wohngruppen leben, brauchen mehr als
ein funktionierendes Beschwerdemanagement im Jugendamt. Sie brauchen einen be-
sonderen Schutz, da sie in einer besonderen Abhängigkeit von ihren Betreuungsper-

Drucksache 18/5103 – 2 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode
sonen leben. Wenn sie in ihren Rechten verletzt werden, müssen sie sich an unab-
hängige Ansprechpersonen und Anlaufstellen wenden können. Häufig haben sie nur
begrenzte Einwirkungsmöglichkeiten auf den Alltag und die Vorgänge in Einrich-
tungen. Daher sehen sich viele Kinder und Jugendliche oft nicht in der Lage, über
bestimmte Missstände und Grenzverletzungen zu sprechen. Zwar sind unter dem
Druck der öffentlichen Debatte über die Misshandlung von Heimkindern in den
50er- und 60er-Jahren und von Fällen sexualisierter Gewalt in Einrichtungen der
Kinder- und Jugendhilfe in den letzten Jahren in vielen Heimen und Wohngruppen
Beteiligungs- und Beschwerdeverfahren eingerichtet worden, diese Verfahren beru-
hen jedoch oftmals auf freiwilligen Entscheidungen der Einrichtungen und Träger.
Um die in der UN-Kinderrechtskonvention verbrieften und im SGB VIII formulier-
ten Beteiligungsrechte umzusetzen, muss eine beteiligungsorientierte und beschwer-
deoffene Einrichtungskultur entwickelt und gefördert werden.

Mit dem Bundeskinderschutzgesetz ist dieser Weg bereits eingeschlagen: Die Ertei-
lung einer Betriebserlaubnis ist seit Beginn des Jahres 2012 davon abhängig, dass es
in der Einrichtung geeignete Verfahren zur Beteiligung und Beschwerde gibt. Doch
bislang gilt diese Regelung nur für neu eröffnete Einrichtungen. Um allen Kindern
und Jugendlichen in ihren Rechten gleichermaßen gerecht zu werden, muss diese
Regelung auch für bestehende Einrichtungen erweitert werden.

Die Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland ist ein hochentwickeltes professionelles
Feld und verfügt über eine gute bundeseinheitliche Gesetzgebung mit flächende-
ckenden Angeboten und individuellen Rechtsansprüchen auf Hilfe und Unterstüt-
zung. Die Erfahrung im Alltag der Jugendhilfe zeigt jedoch, dass Rechte und An-
sprüche von jungen Menschen und ihren Familien nicht immer erfüllt werden. Das
Verhältnis zwischen Jugendamt und den Kindern, Jugendlichen und Familien, die
die Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe nutzen, ist strukturell durch ein Macht-
ungleichgewicht geprägt: Jugendämter beraten und entscheiden zugleich. Mitarbei-
terInnen des Jugendamts sind meist nicht nur fachlich überlegen, sie bestimmen auch
über die Interpretation vieler unbestimmter Rechtsbegriffe und haben Spielraum in
ihrem individuellen Ermessen. Das System der Jugendhilfe arbeitet für die Interes-
sen von Kindern und Jugendlichen und nicht gegen sie. Dennoch kommt es immer
wieder zu Konflikten: Es gibt Auseinandersetzungen um konkrete Leistungserbrin-
gung, es gibt Kinder und Familien, deren individuelle Rechtsansprüche nicht erfüllt
werden und es gibt fachliche Verfehlungen in der Erbringung von Leistungen bis hin
zu Verstößen gegen die Würde der Betroffenen sowohl von Seiten öffentlicher als
auch freier Träger. Zwar bestehen rechtliche Mittel des Widerspruchs oder der
Klage, doch oft sind hilfebedürftige Personen, die mit Entscheidung der Jugendäm-
ter nicht einverstanden sind, nicht in der Lage, diesen Rechtsweg zu gehen. Mitunter
kennen sie ihre Rechte nicht, können fachliche Entscheidungen nicht beurteilen, sind
emotional nicht in der Lage, Konflikte auszutragen oder können sich schlicht keine
Anwältin leisten.

Das heißt, Kinder, Jugendliche und hilfebedürftige Familien können ihre Rechte oft
gar nicht erst in Anspruch nehmen, weil sie sie nicht kennen oder weil ihnen die
Mittel dafür fehlen. An dieser Stelle können Ombudschaften unterstützen: Ombud-
schaften klären unabhängig über rechtliche Sachlagen, Einzelansprüche und Optio-
nen auf und können gegenüber dem Jugendamt bzw. Jugendhilfeträger vermitteln.
Im Einzelfall können sie organisatorisch bei der Kontaktaufnahme zu einem Rechts-
beistand behilflich sein und die Betroffenen in einem eventuellen Gerichtsverfahren
unterstützen. Ombudschaften helfen, strukturelle Machthierarchien und -asymmet-
rien auszugleichen und eine gerechte Einigung bei Streitfragen zu erreichen.

2002 gründeten engagierte Privatpersonen, Fachkräfte und freie Träger der Jugend-
hilfe den Berliner Rechtshilfefonds Jugendhilfe e. V. (BRJ) als gemeinnützigen Ver-
ein und erweckten damit die erste Ombudsstelle in der Jugendhilfe in Deutschland

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 3 – Drucksache 18/5103
zum Leben. Aufbauend auf dieser Pionierarbeit haben sich in mehreren Bundeslän-
dern Initiativen gegründet, um Familien und junge Volljährige bei der Durchsetzung
ihrer Rechtsansprüche gegenüber dem Jugendamt zu beraten und zu unterstützen.
An diese Erfahrungen muss angeknüpft und die Erprobung von Ombudschaften in
der Kinder- und Jugendhilfe bundesweit gefördert werden.

Da Ombudschaften im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe aufgrund ihres spezifi-
schen Charakters nicht in der Lage sind, das breite Feld möglicher Beschwerden aus
anderen (Rechts-)Bereichen bzw. Lebenswelten der Kinder und Jugendlichen abzu-
decken – zum Beispiel Beschwerden über den Zustand von Schultoiletten oder ka-
putte Spielplätze –, sollte ein umfassendes Beschwerdemanagementsystem bei-
spielsweise unabhängige Kinderrechtsbeauftragte auf Bundes-, Landes- und kom-
munaler Ebene umfassen. Sie können Kindern und Jugendlichen als Ansprechpart-
ner und Beschwerdestelle dienen. Eine unabhängige Monitoringstelle, wie sie für die
meisten völkerrechtlichen Abkommen bereits üblich sind, sollte künftig zudem die
Umsetzung der UN-Kinderrechte überwachen und konstruktiv-kritisch kommentie-
ren.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. ein Konzept für ein umfassendes funktionsfähiges Beschwerdemanagementsys-
tem für Kinder, Jugendliche und Eltern im Rahmen eines Modellprojektes zu
entwickeln, dass evaluiert werden soll. Dieses beinhaltet:
Aufbauend auf den Erfahrungen mehrerer Bundesländer mit Hilfe eines

Bundesprogramms bundesweit Vorhaben zur Schaffung von bedarfsgerech-
ten Ombudschaften in der Kinder- und Jugendhilfe zu fördern und ein Be-
schwerdemanagementsystems bei den Trägern bzw. Einrichtungen der öf-
fentlichen (und den öffentlich geförderten freien Trägern der) Kinder- und
Jugendhilfe zu entwickeln.

Parallel dazu eine/einen Kinderrechtsbeauftragte/-beauftragten auf Bundes-
ebene zu installieren und mit formellen Rechten auszustatten, sowie bei
Ländern und Kommunen dafür zu werben, Kinderbeauftragte einzusetzen
und somit eine Verknüpfung zwischen den verschiedenen föderalen Ebenen
zu erreichen. Die Aufgabe der/des nationalen Kinderbeauftragten sollte
auch die Vernetzung und der Erfahrungsaustausch innerhalb der verschie-
denen föderalen Ebenen und der Ombudschaften sein.

Eine unabhängige Monitoringstelle zur Umsetzung der UN-Kinderrechts-
konvention einzurichten, die die Umsetzung der UN-Kinderrechtskonven-
tion überwacht und von der Zivilgesellschaft begleitet wird. Sie soll in en-
gem Kontakt mit der nationalen Beschwerdestelle stehen. Über das Modell-
projekt ist dem Deutschen Bundestag jährlich zu berichten. Dazu muss die
Datenbasis für eine kinderrechtsbasierte Berichterstattung sichergestellt
werden;

2. Beteiligungs- und Beschwerdeverfahren in allen Einrichtungen der Kinder- und
Jugendhilfe als Teil der gesetzlich geforderten Qualitätsentwicklung verpflich-
tend zu machen und die Umsetzung der Verfahren überprüfen zu lassen;

3. einen Gesetzentwurf vorzulegen, der Kinder und Jugendliche in Ergänzung zu
den Personensorgeberechtigten, zu eigenständigen Leistungsberechtigten im
SGB VIII macht. Dies ist insbesondere für Leistungen im Bereich der Hilfen zur
Erziehung (§ 27 SGB VIII) und bei dem Recht auf Beratung ohne Kenntnis der
Personensorgeberechtigten (§ 8 Absatz 3 SBG VIII) relevant.

Berlin, den 9. Juni 2015

Katrin Göring-Eckardt, Dr. Anton Hofreiter und Fraktion
anzeiger Verlag GmbH, Postfach 10 05 34, 50445 Köln, Telefon (02 21) 97 66 83 40, Fax (02 21) 97 66 83 44, www.betrifft-gesetze.de

x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.