BT-Drucksache 18/4971

Auf Vorratsdatenspeicherung verzichten

Vom 20. Mai 2015


Deutscher Bundestag Drucksache 18/4971
18. Wahlperiode 20.05.2015
Antrag
der Abgeordneten Jan Korte, Dr. André Hahn, Ulla Jelpke, Katrin Kunert, Petra
Pau, Harald Petzold (Havelland), Martina Renner, Kersten Steinke, Frank Tempel,
Halina Wawzyniak und der Fraktion DIE LINKE.

Auf Vorratsdatenspeicherung verzichten

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Jede Speicherung und Verarbeitung von personenbezogenen und personenbeziehba-
ren Daten stellt einen Eingriff in das Grundrecht auf informationelle Selbstbestim-
mung dar. Es ist dabei unerheblich, ob die Speicherung bei staatlichen Stellen oder
durch gesetzliche Verpflichtung bei privaten Stellen stattfindet. Um das Grundrecht
auf informationelle Selbstbestimmung zu schützen, wurden im Datenschutzrecht
wesentliche Grundsätze am Maßstab der Verhältnismäßigkeit entwickelt: der Er-
laubnisvorbehalt für die Erhebung, Speicherung und Verarbeitung von Daten; Da-
tensparsamkeit und Datenvermeidbarkeit, Zweckbindung erhobener Daten; Erfor-
derlichkeit für den zu erreichenden Zweck; Transparenz darüber, wo welche Daten
gespeichert sind.

Durch eine Vorratsdatenspeicherung werden diese Grundsätze und damit das Recht
auf informationelle Selbstbestimmung verletzt. Daten werden ohne jeden konkreten
Anlass und in großen Massen gespeichert. Nur ein Bruchteil der gespeicherten Daten
wird für den Zweck der angestrebten Aufklärung schwerer und schwerster Straftaten
abgerufen.

Die Vorratsdatenspeicherung kann nicht allein aus der Perspektive des Bedarfs der
Sicherheitsbehörden an Daten zur Verbrechensaufklärung oder der Gefahrenabwehr
betrachtet werden. Der Gesetzgeber steht auch in der Pflicht, die grundrechtlichen
und gesellschaftspolitischen Folgen einer solchen Speicherpflicht in den Blick zu
nehmen. Verspüren die Bürgerinnen und Bürger angesichts immer neuer Speicher-
pflichten, erweiterter Zugriffsmöglichkeiten von Behörden auf vorhandene Daten,
das massenhafte Ausspähen von Daten durch eigene und fremde Nachrichtendienste,
Daten- und Identitätsdiebstahl im Internet eine zunehmende Verunsicherung, so liegt
darin auch eine Gefahr für die Demokratie.

Der Bundestag weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass eine Überprüfung
der seit dem Jahr 2001 erlassenen Gesetze zur Terrorismusbekämpfung in einer
grundrechtlichen und rechtspolitischen Perspektive bislang nur durch eine im Jahr
2012 eingesetzte Regierungskommission erfolgt ist, aus deren Bericht keine Konse-
quenzen gezogen wurden. Zur Heranziehung externen Sachverstands wurden durch
die Kommission ausschließlich Vertreter von Bundeskriminalamt, Bundesamt für
Verfassungsschutz und Generalbundesanwaltschaft angehört. Vertreter von Bürger-

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und Menschenrechtsgruppen waren weder in der Kommission vertreten noch wur-
den sie angehört. Eine umfassende bürgerrechtliche Bilanz der Terrorismusbekämp-
fung und der generell auch von der Regierungskommission konstatierten Tendenz,
„vorbeugende Eingriffsmöglichkeiten zu schaffen“ ist somit bis heute nicht geleistet
worden. Sie wäre die Voraussetzung für eine Abwägung über weitere schwerwie-
gende Eingriffe in die Rechte der Bürgerinnen und Bürger, wie sie mit einer Vor-
ratsdatenspeicherung ganz unzweifelhaft vorgenommen würden.

Der Bundestag sieht die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs zur Vorrats-
datenspeicherungsrichtlinie der EU als richtungweisend für die weitere Debatte.
Nimmt der Gesetzgeber die darin entwickelten Anforderungen an den Umgang mit
Kommunikationsdaten ernst, scheidet eine anlasslose und flächendeckende Speiche-
rung aller anfallenden Daten aus der elektronischen Kommunikation der Bürgerin-
nen und Bürger aus. Eine Speicherung wäre dann nur noch zulässig, wenn ein klarer
Bezug zu begangenen oder konkret drohenden schwersten Straftaten besteht.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. auf Pläne zur Einführung einer Vorratsdatenspeicherung endgültig zu verzich-
ten;

2. in einer Gesamtbilanz darzustellen, in welchem Umfang bereits jetzt Daten bei
Unternehmen gespeichert sind, die auf Verlangen von Behörden und Gerichten
herauszugeben sind und darzustellen, in welchem Umfang deutsche Behörden
einschließlich der Nachrichtendienste in anderer Weise auf Kommunikationsda-
ten zugreifen;

3. eine umfassende strafverfolgungspraktische, verfassungsrechtliche und rechts-
politische Bilanz der Gesetzgebung zur Bekämpfung von Terrorismus und Or-
ganisierter Kriminalität seit 2001 unter Einbeziehung von Wissenschaft und Zi-
vilgesellschaft vorzulegen; die Arbeitsweise und Besetzung eines Gremiums zur
Erarbeitung einer solchen Bilanz sind im Einvernehmen mit dem Bundestag
festzulegen.

Berlin, den 20. Mai 2015

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

Begründung

Gegen die Vorratsdatenspeicherung sind eine Reihe von Entscheidungen höchster Gerichte in Deutschland, der
Europäischen Union und einzelner EU-Staaten ergangen.

Die bundesgesetzliche Regelung zur Umsetzung der EU-Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung (2006/24/EG)
aus dem Jahre 2008 ist 2010 durch ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts für nichtig erklärt worden (1 BvR
256/08). Es handele sich bei der „Speicherung um einen besonders schweren Eingriff mit einer Streubreite, wie
sie die Rechtsordnung bisher nicht kennt“, so das Gericht. Aus den Daten ließen sich „bis in die Intimsphäre
hineinreichende Rückschlüsse ziehen“ und Bewegungs- und Persönlichkeitsprofile erstellen. Es steige das Ri-
siko, unschuldig weiteren Ermittlungen (und damit weiteren Grundrechtseingriffen) ausgesetzt zu sein. Da die
Speicherung und Verwendung nicht bemerkt würden, seien sie geeignet, „ein diffus bedrohliches Gefühl des
Beobachtetseins hervorzurufen, das eine unbefangene Wahrnehmung der Grundrechte in vielen Bereichen be-
einträchtigen“ könne. Das Bundesverfassungsgericht glaubte allerdings, diese Verletzung der Grundrechte

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durch zahlreiche Vorgaben zum Abruf und zur Verwendung der Daten (hohe tatbestandliche Voraussetzungen,
Anforderungen an die Sicherheit gespeicherter Daten, Unterrichtungspflichten, Richtervorbehalt) heilen zu
können.

Der Ansicht des Bundesverfassungsgerichts, die „Reichweite der Speicherungspflicht“ sei noch nicht „von
vornherein unverhältnismäßig“, widersprach in seinem Urteil der Europäische Gerichtshof (EuGH) im Jahr
2014 (verbundene Rechtssachen C-293/12 und C-594/12). Der EuGH stellte in seiner Entscheidung klar, dass
eine anlasslose Vorratsdatenspeicherung unvereinbar mit der Europäischen Grundrechtecharta ist. Der EuGH
stellt fest, dass sich die in der Richtlinie 2006/24/EG geregelte Vorratsdatenspeicherung generell auf alle Per-
sonen und sämtliche Verkehrsdaten erstreckt, „ohne irgendeine Differenzierung, Einschränkung oder Aus-
nahme anhand des Ziels der Bekämpfung schwerer Straftaten vorzusehen“ (Rn. 57). Es seien auch Personen
betroffen, die sich nicht „auch nur mittelbar in einer Lage befinden, die Anlass zur Strafverfolgung geben
könnte“ (Rn 58). Es sei kein Zusammenhang der Daten „und einer Bedrohung der öffentlichen Sicherheit“
vorgesehen. Insbesondere beschränke sie die Vorratsspeicherung weder auf die „Daten eines bestimmten Zeit-
raums und/oder eines bestimmten geografischen Gebiets und/oder eines bestimmten Personenkreises, der in
irgendeiner Weise in eine schwere Straftat verwickelt sein könnte, noch auf Personen, deren auf Vorrat gespei-
cherte Daten aus anderen Gründen zur Verhütung, Feststellung oder Verfolgung schwerer Straftaten beitragen
könnten“ (Rn. 59). Dieser Kritik des EuGH kann auch nicht dadurch entgegnet werden, dass die Datenspeiche-
rung auf einzelne Kommunikationsmittel oder auf kürzere Speicherfristen als die in der Richtlinie vorgesehe-
nen mindestens sechs Monate beschränkt wird oder ein Verwertungsverbot für die Daten von Geheimnisträgern
eingeführt wird; es kommt demnach auf den unmittelbaren Zusammenhang zu einer möglichen Straftat an, die
zugleich die öffentliche Sicherheit bedrohen muss.

Auch in anderen EU-Staaten sind die dortigen Regeln zur Vorratsdatenspeicherung durch die Verfassungsge-
richte gekippt worden. Entsprechende Urteile ergingen am 11. März 2015 in den Niederlanden und am folgen-
den Tag in Bulgarien. Das österreichische Verfassungsgericht hatte bereits im Juni 2014 geurteilt, die Vorrats-
datenspeicherung widerspreche dem Urteil des EuGH. Die Vorratsdatenspeicherung sei unverhältnismäßig,
weil sie die ganze Bevölkerung treffe, der mit der Vorratsdatenspeicherung verbundene Eingriff in die Pri-
vatsphäre schränke die freie Persönlichkeitsentfaltung ein. Der tschechische Verfassungsgerichtshof hat im
März 2011 die tschechische Vorratsdatenspeicherung für nichtig erklärt, da sie die „Anforderungen aus dem
Rechtsstaatsprinzip“ nicht erfülle und mit dem „Verhältnismäßigkeitsgebot“ kollidiere (Überblick hierzu unter
www.vorratsdatenspeicherung.de).

Zur klaren grundrechtlichen Kritik der Vorratsdatenspeicherung der zuständigen Gerichte kommen auch Zwei-
fel hinzu, inwieweit die Vorratsdatenspeicherung den versprochenen Nutzen hinsichtlich der Strafverfolgung
überhaupt erbringt und damit für die Bekämpfung von Kriminalität geeignet ist. Dazu hat das Max-Planck-
Institut für ausländisches und internationales Strafrecht 2011 eine einschlägige Studie vorgelegt. Die Untersu-
chung der deliktspezifischen Aufklärungsquoten für den Zeitraum 1987 bis 2010 zeige, „dass sich der Wegfall
der Vorratsdatenspeicherung nicht als Ursache für Bewegungen in der Aufklärungsquote abbilden lässt“. Ganz
ausdrücklich bezieht die Studie diesen Befund auch auf den Bereich der Internetkriminalität, der von Befür-
wortern der Vorratsdatenspeicherung immer wieder ins Feld geführt wird. Auch im Vergleich mit der Schweiz,
die zum Zeitpunkt der Untersuchung bereits seit 10 Jahren eine Vorratsdatenspeicherung eingeführt hatte, erga-
ben sich keine Hinweise auf eine verbesserte Aufklärungsquote. Auch ergäben sich keine sichtbaren Unter-
schiede in der Sicherheitslage. Eine verbesserte Aufklärungsquote beim „Enkeltrick“, der im Deliktfeld des
Betrugs ein Randphänomen darstelle, sei durch Anpassung der Ermittlungsstrategien erreicht worden. Bei Tö-
tungsdelikten habe sich kein Hinweis darauf ergeben, dass deren Aufklärung durch die Entscheidung des EuGH
überhaupt behindert worden wäre. Vernichtend fällt das Urteil hinsichtlich der Aufklärung von Kinderporno-
graphie aus. Hinsichtlich des Opferschutzes sei „die Aufklärung von Fällen sexuellen Missbrauchs (…) allen-
falls ein Zufallsprodukt“. Und weiter: „Angesichts der in die Auswertung von Datenträgern investierten Res-
sourcen und angesichts der besonderen Betonung der Bedeutung von Verfolgung der Kinderpornografie für
die Vorbeugung von sexuellem Missbrauch dürfte sich schließlich die Frage stellen, ob die hier verausgabten
Mittel nicht besser in anderen Maßnahmen zur Prävention und Repression des Kindesmissbrauchs platziert
worden wären.“ Im 2. Untersuchungsausschuss der 18. Wahlperiode („Edathy-Untersuchungsausschuss“)
zeigte sich, dass die extrem langen Bearbeitungszeiträume bei Massenverfahren zu Kinderpornographie auf
Grund von Personalengpässen und nicht wegen fehlenden Ermittlungsmöglichkeiten zustande kommen. Die
Vorratsdatenspeicherung ist bei dieser Art von Verfahren irrelevant, weil die Kundenlisten über die Beschlag-
name von Servern und nicht über IP-Zuordnungen erlangt werden. Die Studie des MPI verweist auch darauf,
anzeiger Verlag GmbH, Postfach 10 05 34, 50445 Köln, Telefon (02 21) 97 66 83 40, Fax (02 21) 97 66 83 44, www.betrifft-gesetze.de

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dass eine umfassende Bewertung der Wirksamkeit der Vorratsdatenspeicherung auch dadurch erschwert wird,
dass die Ermittlungsbehörden den Umfang der Abfragen gespeicherter Daten statistisch nicht erhoben haben.
Vor dem Hintergrund der Studie erscheint die Vorratsdatenspeicherung nicht nur unverhältnismäßig, sondern
auch ungeeignet, einen signifikanten Beitrag zur Aufklärung von Straftaten und zur Gefahrenabwehr zu leisten.

Zugleich führt die Einführung der Vorratsdatenspeicherung zu einem Ausweichverhalten krimineller Täter und
Tätergruppen: das Aufsuchen von Internetcafès und offenen Internetzugängen, Anonymisierungsdienste im
Netz, Benutzen unregistrierter Prepaidkarten, Rückgriff auf klassische Formen nicht-elektronischer Kommu-
nikation. Eine Aufrüstung des Sicherheitsapparats führt immer zu Reaktionen auf Seiten von Kriminellen, ge-
rade im Bereich der Organisierten Kriminalität. Auch wenn die Angaben der Polizeilichen Kriminalstatistik
immer nur Hinweise geben können, sei darauf hingewiesen, dass nach Einführung der Vorratsdatenspeicherung
in Deutschland 2008 die Aufklärungsquote bei Internetdelikten im Folgejahr von 79,8 Prozent auf 75,7 Prozent
zurückgegangen ist (PKS 2009, S. 243). Gerade also in dem Bereich, von dem sich Strafverfolgungsbehörden
den größten Effekt der Vorratsdatenspeicherung erhoffen, hat sie sich womöglich als kontraproduktiv erwiesen.
Getroffen wird am Ende also vor allem der rechtstreue Bürger bzw. die rechtstreue Bürgerin, der bzw. die sich
ohnehin um seine Daten und die Sicherheit seiner Kommunikation sorgt.

Diese Sorge rührt nicht nur aus der beständigen Ausweitung staatlicher Möglichkeiten, auf die wachsende Zahl
von bei Privatunternehmen gespeicherten Daten zuzugreifen. Hackerangriffe auf die Kundendatenbank von
ebay im März 2014, der mutmaßlich von NSA und GHCQ ausgehende Hackerangriff auf den Chip- und Mag-
netstreifenkartenhersteller Gemalto (Hersteller von u. a. SIM-Cards für Mobiltelefone, elektronische Gesund-
heitskarte), der massenhafte Abgriff von Netzdaten durch den BND am Frankfurter Internetknotenpunkt DE-
CIX und vieles andere mehr lassen es naheliegend erscheinen, dass auch auf Vorrat gespeicherte Verbindungs-
daten ins Visier von kriminellen bzw. staatlichen Hackern geraten. Daher ist nicht nur der Verzicht auf die
geplante Vorratsdatenspeicherung, sondern auch eine Überprüfung bereits bestehender Speicher- und Über-
mittlungspflichten und der Datenschutzstandards im gesamten Bereich der elektronischen Kommunikation an-
gezeigt.

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