BT-Drucksache 18/4842

Einrichtung einer Kommission beim Bundesministerium der Finanzen zur Evaluierung der Staatsleistungen seit 1803

Vom 6. Mai 2015


Deutscher Bundestag Drucksache 18/4842
18. Wahlperiode 06.05.2015
Antrag
der Abgeordneten Halina Wawzyniak, Sigrid Hupach, Christine Buchholz, Jan
Korte, Dr. André Hahn, Ulla Jelpke, Katrin Kunert, Petra Pau, Harald Petzold
(Havelland), Martina Renner, Kersten Steinke, Azize Tank, Frank Tempel und
der Fraktion DIE LINKE.

Einrichtung einer Kommission beim Bundesministerium der Finanzen zur
Evaluierung der Staatsleistungen seit 1803

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Staatsleistungen sind Zahlungsverpflichtungen des Staates an die Kirchen, welche
vornehmlich für enteignete kirchliche Besitztümer vor über 200 Jahren bis heute er-
bracht werden. Diese Zahlungen werden seit Jahren vielfach öffentlich diskutiert.
Dabei steht insbesondere die Frage im Mittelpunkt, ob und inwieweit diese Zah-
lungsverpflichtungen heute noch angemessen beziehungsweise zeitgemäß sind. Die-
ser Frage soll in naher Zukunft intensiver nachgegangen werden. Zudem gibt es seit
1919 einen Verfassungsauftrag, der die Ablösung der Staatsleistungen an die Kir-
chen vorsieht. Dieser Verfassungsauftrag zur Ablösung der Staatsleistungen an die
Kirchen, beruhend auf Artikel 140 des Grundgesetzes (GG) in Verbindung mit dem
Artikel 138 Absatz 1 der Weimarer Reichsverfassung (WRV) vom 11. August 1919,
ist bis heute nicht umgesetzt worden. Staatsleistungen nach Artikel 138 der Weima-
rer Reichsverfassung (WRV) sind Entschädigungszahlungen des Staates an die Kir-
chen, die zum Ausgleich für die Enteignung von kirchlichem Eigentum im Rahmen
der Säkularisation Anfang des 19. Jahrhunderts (hauptsächlich enteignete Kirchen-
güter während der staatlichen Säkularisation als Folge des Reichsdeputationshaupt-
schlusses von 1803) erbracht wurden und noch heute in allen Bundesländern, mit
Ausnahme von Hamburg und Bremen, an die beiden großen Amtskirchen (die ka-
tholische Kirche und die evangelischen Landeskirchen) erbracht werden. Nach ge-
genwärtigem Stand belaufen sich die Staatsleistungen im gesamten Bundesgebiet
jährlich auf rund 480 Millionen Euro.

Nach Artikel 138 Absatz 1 der Weimarer Reichsverfassung (WRV) ist der Bund
verpflichtet, ein Grundsätzegesetz zu schaffen, nach dessen Vorgaben die Länder
ihrerseits Gesetze zur Ablösung der Staatsleistungen an die Religionsgesellschaften
zu erlassen haben. In Verbindung mit Artikel 140 des Grundgesetzes besteht dieser
Auftrag weiterhin fort. Da die Bundesregierungen der letzten Jahre keinerlei An-
strengungen unternommen haben, dem Verfassungsauftrag nachzukommen, wurde
dem Bundestag in der letzten Legislaturperiode ein entsprechender Gesetzentwurf
(Entwurf eines Gesetzes über die Grundsätze zur Ablösung der Staatsleistungen an
Religionsgesellschaften, Bundestagsdrucksache 17/8791) vorgelegt. In der Debatte

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wurde der Verfassungsauftrag von der Mehrheit durchaus anerkannt, der vorgeleg-
ten Gesetzesinitiative jedoch nicht gefolgt.

Die Bundesregierung antwortete auf eine Mündliche Frage vom 16. Dezember 2009
(Plenarprotokoll 17/11, Anlage 74, S. 889B – 889D), dass die finanziellen und volk-
wirtschaftlichen Schwierigkeiten bei einer Ablösung nicht zu unterschätzen seien.
In der Fachliteratur gibt es jedoch Meinungen, dass die Verluste der Kirchen wäh-
rend der Säkularisierung zu Beginn des 19. Jahrhunderts bereits durch die Entschä-
digungszahlungen in Form von finanziellen Zuwendungen der Länder der letzten
Jahre abgegolten sind.

Da wie eingangs beschrieben die Zuständigkeit zur Festlegung von Grundsätzen für
die Ablösung der Staatsleistungen beim Bund liegt, ist dieser nun in der Verantwor-
tung, über den Umfang von enteignetem Kircheneigentum bzw. den Wert der Säku-
larisationsverluste einerseits und die bereits getätigten Entschädigungszahlungen
durch Bund und Länder anderseits Klarheit und zugleich eine Diskussionsgrundlage
für weitere Verhandlungen über den zukünftigen Umgang mit der Zahlung von
Staatsleistungen zu schaffen.

Die beiden großen Kirchen in Deutschland selbst haben mehrfach die Bereitschaft
geäußert, über die Ablösung der Staatsleistungen zu verhandeln. Auch aus den Län-
dern gibt es Forderungen nach einer Harmonisierung der gegenwärtigen Zuwendun-
gen. So forderte im Jahr 2011 der Landesrechnungshof Schleswig-Holstein in sei-
nem Jahresbericht eine Anpassung der Kirchenverträge an die geänderten Verhält-
nisse. Dazu bedarf es als erste Maßnahme einer bundesweiten Bestandsaufnahme
über den Wert des enteigneten Kircheneigentums und des Umfangs der bisher ge-
leisteten Entschädigungszahlungen durch den Staat. Andernfalls werden die Staats-
leistungen zu einer Ewigkeitsrente, was dem Verfassungsauftrag von 1919 eindeutig
entgegensteht.

Problematisch ist und bleibt die Bestimmung der Höhe des Wertes der Kirchenver-
luste während der Säkularisierung. Umfang und Struktur der Staatsleistungen besit-
zen eine hohe Komplexität. Die historische Komponente ist dabei nicht zu unter-
schätzen. Zudem ist der Bundesregierung laut einer Schriftlichen Frage vom 29. Juni
2010 (Bundestagsdrucksache 17/2372) und einer Antwort auf eine Kleine Anfrage
vom 13. November 2013 (Bundestagsdrucksache 18/45) der Umfang der gezahlten
Staatsleistungen seit Mitte der 1990iger Jahre nicht bekannt, da die Zahlung seitdem
ausschließlich im Verantwortungsbereich der Bundesländer liegt.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

eine Expertenkommission beim Bundesministerium der Finanzen einzurichten, die
den Umfang der enteigneten Kircheneigentümer und der bisher geleisteten Entschä-
digungszahlungen evaluiert und prüft. Diese soll aus Expertinnen und Experten wie
(Kirchen-)Historikerinnen und (Kirchen-)Historikern, Kirchen- und/oder Verfas-
sungsrechtlerinnen und -rechtlern, Ökonominnen und Ökonomen sowie Vertreterin-
nen und Vertretern der Bundesländer sowie der beiden großen Amtskirchen zusam-
mengesetzt sein. Die Expertenkommission hat die Aufgabe,
1. den Wert der Säkularisationsverluste von 1803 (enteignete Kirchengüter wäh-

rend der staatlichen Säkularisation als Folge des Reichsdeputationshauptschlus-
ses) der Kirchen zu ermitteln,

2. den Wert der seit Inkrafttreten des Verfassungsauftrages zur Ablösung von 1919
erfolgten Abgeltung dieses Verlustes in Form von staatlichen Entschädigungs-
zahlungen durch die Länder und den Bund zu ermitteln,

3. zu prüfen und zu bewerten, inwieweit die Säkularisierungsverluste von 1803
durch die seit 1919 geleisteten staatlichen Entschädigungsleistungen angemes-
sen ausgeglichen wurden und

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 3 – Drucksache 18/4842
4. Vorschläge zu unterbreiten, welche Konsequenzen der Gesetzgeber in Hinblick

auf den zukünftigen Umgang mit der Zahlung von Staatsleistungen aus der Eva-
luierung ziehen sollte.

Berlin, den 6. Mai 2015

Dr. Gregor Gysi und Fraktion
anzeiger Verlag GmbH, Postfach 10 05 34, 50445 Köln, Telefon (02 21) 97 66 83 40, Fax (02 21) 97 66 83 44, www.betrifft-gesetze.de

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