BT-Drucksache 18/4838

Das Mittelmeer darf nicht zum Massengrab werden - Für eine Umkehr in der EU-Asylpolitik

Vom 6. Mai 2015


Deutscher Bundestag Drucksache 18/4838
18. Wahlperiode 06.05.2015
Antrag
der Abgeordneten Ulla Jelpke, Jan Korte, Wolfgang Gehrcke, Jan van Aken,
Christine Buchholz, Sevim Da delen, Dr. Diether Dehm, Annette Groth, Dr. André
Hahn, Heike Hänsel, Inge Höger, Andrej Hunko, Katrin Kunert, Stefan Liebich,
Cornelia Möhring, Niema Movassat, Dr. Alexander S. Neu, Petra Pau, Martina
Renner, Dr. Petra Sitte, Azize Tank, Frank Tempel, Alexander Ulrich, Kathrin
Vogler, Halina Wawzyniak und der Fraktion DIE LINKE.

Das Mittelmeer darf nicht zum Massengrab werden – Für eine Umkehr in der
EU-Asylpolitik

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

1. Der Bundestag drückt sein Entsetzen darüber aus, dass die Regierenden der
EU-Mitgliedstaaten auf ihrem Sondergipfel vom 23. April 2015 selbst nach dem bis-
lang größten Schiffsunglück im Mittelmeer mit mindestens 800 toten Flüchtlingen
keine Umkehr in der EU-Asylpolitik beschlossen haben. Alle diesbezüglichen Ap-
pelle von Flüchtlingsverbänden, Menschenrechtsorganisationen, Kirchen, UN-Ver-
antwortlichen und aus der Politik blieben ungehört. Die erschreckende Zahl von bis-
lang mehr als 25.000 Ertrunkenen im Mittelmeer wird deshalb weiter ansteigen. Pro
Asyl sprach zu Recht von einem „Gipfel der Schande“, die Politik der Abwehr und
Abschreckung von Flüchtlingen werde fortgesetzt.
2. Obwohl es in der Erklärung des Europäischen Rates vom 23.4.2015 heißt,
dass die EU „alles in ihrer Macht Stehende unternehmen [werde], um den Verlust
weiterer Menschenleben auf See zu verhindern“, geschieht genau dies nicht. Be-
schlossen wurde lediglich eine Verdreifachung der Mittel für die Frontex-Missionen
im Mittelmeer. Doch weder wurde deren Mandat geändert, das keine Seenotrettung,
sondern den Schutz der EU-Außengrenzen vorsieht, noch wurde ihr Aktionsradius
auf den entscheidenden Bereich vor der libyschen Küste erweitert. Der Bundestag
ist beschämt darüber, dass dies absehbar zu weiteren, vermeidbaren Toten auf dem
Mittelmeer führen wird.
3. Nicht beschlossen wurde, was in erster Linie erforderlich wäre: die Schaf-
fung legaler und sicherer Einreisewege für Schutzsuchende. Dadurch werden Flücht-
linge weiterhin in die Hände der Schlepper getrieben, die die EU, in Verkehrung von
Ursache und Wirkung, als Hauptschuldige des Massensterbens auf dem Mittelmeer
ausgemacht hat. Der Bundestag verurteilt das oftmals kriminelle und unverantwort-
liche Vorgehen organisierter Schleusernetzwerke. Doch solange es keine legalen
Fluchtwege in die EU gibt, sind Flüchtlinge auf deren Hilfe notgedrungen angewie-
sen. Wer Schleuser effektiv bekämpfen will, muss legale und sichere Fluchtwege in
die EU schaffen. Stattdessen soll nach dem Willen der EU künftig auch militärisch

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gegen Schlepper vorgegangen und potentielle Flüchtlingsboote sollen zerstört wer-
den – im Ergebnis kommt das einem Krieg gegen Flüchtlinge gleich. Weitere Maß-
nahmen der EU zielen darauf ab, Flüchtlinge weit im Vorfeld des eigenen Territori-
ums zu stoppen, sie sollen das Mittelmeer erst gar nicht erreichen. Bedenklich ist
auch der Ansatz, die Seenotrettungskapazitäten der nordafrikanischen Länder stär-
ken zu wollen mit dem Ziel, die Geretteten zur Abschreckung wieder zurück auf den
afrikanischen Kontinent zu bringen. Die meisten Punkte der Erklärung des Rates
stehen unter der Überschrift „Verhinderung irregulärer Migrationsströme“; bei den
derart illegalisierten Flüchtlingen handelt es sich überwiegend um offenkundig
schutzbedürftige Menschen, z. B. aus Syrien, Eritrea oder Afghanistan.
4. Zwar heißt es in der Erklärung des Rates, dass „die eigentlichen Ursachen“
von Flucht bekämpft werden sollen, doch konkrete Vorschläge hierzu gibt es nicht.
Es bleibt bei der vagen Ankündigung, „noch größere Anstrengungen“ zu unterneh-
men, „um Konflikten und Instabilität … zu begegnen“, etwa in Libyen oder Syrien.
Kein Wort findet sich dazu, dass die EU-Staaten Frankreich und Großbritannien
maßgeblich mit daran beteiligt waren, Libyen im Jahre 2011 mit monatelangen Luft-
angriffen zur Unterstützung oppositioneller Kräfte, darunter radikal-dschihadisti-
sche Milizen, zu destabilisieren. Kein Wort dazu, wie der komplexe Konflikt in Sy-
rien befriedet werden soll. Weiter heißt es, dass die „politische Zusammenarbeit mit
den afrikanischen Partnern“ „auf allen Ebenen“ intensiviert werden soll, um „die
Ursachen der illegalen Migration anzugehen“, doch die Zerstörung heimischer
Märkte in Afrika durch den Export subventionierter Nahrungsmittel aus der EU, un-
gerechte Wirtschafts- und Handelsbeziehungen, das Leerfischen der Meere vor

Afrika durch europäische Fangflotten, Waffenexporte usw. werden nicht einmal the-
matisiert. Die Rede von der Bekämpfung von Fluchtursachen darf keine Phrase und
keine Entschuldigung für eine Politik der Flüchtlingsabwehr sein.
5. Trotz hoher Asylantragszahlen in Deutschland spricht sich nach wie vor eine
Mehrheit der Bevölkerung in repräsentativen Befragungen für die Aufnahme von
mehr Flüchtlingen aus. Diese Aufnahmebereitschaft und die vielen engagierten bür-
gerschaftlichen Initiativen vor Ort dürfen nicht dadurch gefährdet werden, dass
Schutzsuchende als Bedrohung, Illegale oder als sogenannte Asylbetrüger darge-
stellt werden oder dass versucht wird, mit dem Thema rechtspopulistisch zu punkten.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

auf nationaler und EU-Ebene alles zu unternehmen, um das Massensterben von
Flüchtlingen auf dem Mittelmeer zu beenden und sich für eine grundlegende Neu-
ausrichtung der EU-Asylpolitik einzusetzen, mit dem Ziel einer offenen, gerechten
und solidarischen Politik im Sinne eines effektiven Flüchtlingsschutzes, was insbe-
sondere beinhaltet:
1. die Schaffung eines von allen EU-Mitgliedstaaten getragenen und ausreichend
ausgestatteten Seenotrettungsdienstes, der die Seenotrettung von Flüchtlingen pro-
aktiv und insbesondere auch vor der libyschen Küste betreibt; zugleich muss sicher-
gestellt werden, dass private Handelsflotten ihrer internationalen Verpflichtung zur
Seenotrettung uneingeschränkt nachkommen;
2. Frontex soll als Agentur, die das Ziel einer möglichst effektiven Abschottung und
Vorverlagerung der Grenzabwehr verfolgt, abgeschafft werden; die bisher für
Frontex und für Abschottungsmaßnahmen (Grenzzäune, Überwachungssysteme,
Auffanglager usw.) vorgesehenen Mittel werden für den Seenotrettungsdienst und
für den Ausbau der Asylsysteme in überforderten EU-Mitgliedstaaten verwandt;
3. es müssen legale und sichere Einreisewege für Schutzsuchende geschaffen wer-
den, indem Asylsuchenden eine visumfreie Einreise ermöglicht wird oder ihnen hu-
manitäre Visa erteilt werden; bestehende rechtliche Möglichkeiten zur legalen Ein-
reise müssen ausgeschöpft werden, etwa beim Nachzug zu Familienangehörigen, die

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nicht zur Kernfamilie gehören; die Aufnahme von Flüchtlingen aus Drittländern im
Resettlement-Verfahren muss EU-weit und in Deutschland deutlich ausgeweitet
werden;
4. die Dublin III-Verordnung muss aufgehoben bzw. dahingehend geändert werden,
dass Schutzsuchende ihr Zufluchtsland selbst bestimmen können, entsprechend be-
stehender familiärer Kontakte oder vorhandener Sprachkenntnisse („free choice“);
Ungleichverteilungen in der EU sollen vor allem auf finanzieller Ebene ausgeglichen
werden, weniger in Anspruch genommene Länder sollen beim Aufbau eines attrak-
tiven Asylsystems besonders unterstützt werden; anerkannte Flüchtlinge sollen zu-
dem ein Freizügigkeitsrecht innerhalb der EU erhalten;
5. die Verfahrensstandards und Lebensbedingungen für Asylsuchende müssen ins-
besondere in den Erstaufnahmeländern der EU spürbar verbessert werden; eine An-
hebung der rechtlichen Mindeststandards in den EU-Asylrichtlinien ist erforderlich,
etwa um Inhaftierungen von Schutzsuchenden in geschlossenen Aufnahmeeinrich-
tungen auszuschließen.

Berlin, den 6. Mai 2015

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

Begründung

Nach dem Tod von etwa 400 Bootsflüchtlingen vor Lampedusa am 3. Oktober 2013 gab es viele Erklärungen
von politisch Verantwortlichen, wonach sich ein solches Unglück nicht wiederholen dürfe. Von einer Schande
für Europa war oftmals die Rede. Doch nur acht Tage später wiederholte sich das Massensterben auf dem
Mittelmeer, etwa 250 Menschen ertranken, weil Rettungsmaßnahmen infolge umstrittener Zuständigkeiten zu
spät eingeleitet worden waren. Die in Reaktion auf die Katastrophe vor Lampedusa von der EU ergriffenen
Maßnahmen waren im Kern eine Fortsetzung der seit Jahrzehnten betriebenen Politik der Flüchtlingsabwehr:
Der Kampf gegen Schleuser wurde beschworen, der EU-Außengrenzschutz sollte verstärkt und die Zusam-
menarbeit mit Transit- und Herkunftsstaaten verbessert werden.

Italien hat daraufhin im Rahmen der Rettungsaktion Mare Nostrum im Jahr 2014 etwa 170.000 Flüchtlinge aus
Seenot gerettet, dennoch kamen etwa 3.500 Menschen auf dem gefährlichen Seeweg in die EU ums Leben.
Das Rettungsprogramm wurde Ende 2014 eingestellt, weil es von anderen Mitgliedstaaten abgelehnt wurde
und Italien sich vergeblich um eine Kostenbeteiligung der EU bemüht hatte. Bundesinnenminister Dr. Thomas
de Maizière erklärte am 9. September 2014 im Deutschen Bundestag, Mare Nostrum sei „als Nothilfe gedacht“
gewesen und habe „sich als Brücke nach Europa herausgestellt. Das kann nicht auf Dauer so sein“. Später
bezeichnete er die Rettungsaktion sogar als „Beihilfe zum Schlepperwesen“ (Süddeutsche Zeitung vom
8. Januar 2015). Stattdessen wurde die Frontex -Mission Triton eingerichtet, mit einem Drittel des Budgets von
Mare Nostrum und einem sehr eingeschränkten Mandat: Frontex ist nicht für die Seenotrettung, sondern für
den Grenzschutz zuständig, und das Einsatzgebiet von Triton ist auf die Küstenregion Italiens beschränkt (30
Meilen-Zone). Dass es zu mehr Todesfällen kommen würde, war damit vorhersehbar. Bis Mitte April 2015 gab
es nach Angaben der Internationalen Organisation für Migration (IOM) bereits knapp 1.800 Tote auf dem Mit-
telmeer – und damit 30 Mal so viele wie im Vergleichszeitraum des Vorjahres.

Ein zentraler Schritt zur Umkehr in der EU-Asylpolitik muss eine radikale Änderung des Dublin-Systems sein.
Die derzeitige Zuständigkeitsregelung, wonach im Regelfall dasjenige EU-Land für ein Asylverfahren zustän-
dig ist, über das Asylsuchende in die EU eingereist sind, sorgt strukturell für eine Überforderung der Mitglied-
staaten mit EU-Außengrenzen entlang der wichtigen Migrationsrouten. Die aktuell diskutierte und nach jahre-
langem Widerstand nun auch von der Bundesregierung aus taktischen Gründen unterstützte Alternative einer
anzeiger Verlag GmbH, Postfach 10 05 34, 50445 Köln, Telefon (02 21) 97 66 83 40, Fax (02 21) 97 66 83 44, www.betrifft-gesetze.de

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Verteilung nach Quote birgt erhebliche Probleme (unabhängig von der Frage der konkreten Berechnung einer
solchen Quote): Zum einen können verwandtschaftliche Kontakte und Anlaufadressen sowie vorhandene
Sprachkenntnisse der Schutzsuchenden in einem solchen Modell nicht genutzt werden. Zum anderen müsste
einer Verteilungsregelung die wirksame Angleichung der Aufnahmebedingungen, der Verfahrensstandards
und der Anerkennungschancen für Asylsuchende vorausgehen – hiervon ist die EU in der Praxis weit entfernt.
Schließlich müssten Verteilungsentscheidungen im Zweifelsfall auch gegen den Willen der Betroffenen durch
Abschiebungen innerhalb der EU durchgesetzt werden. Die derzeitige Überstellungspraxis zeigt jedoch, wie
ineffektiv ein solches, auf Zwang setzendes System ist: Weniger als 14 Prozent der von Deutschland angestreb-
ten Überstellungen in andere EU-Mitgliedstaaten sind im Jahr 2014 letztlich gelungen, die Zahl der Asylsu-
chenden in Deutschland hat sich dadurch im Ergebnis um gerade einmal 1 Prozent reduziert. Der menschen-
rechtliche Preis hierfür ist hoch: Viele Schutzsuchende werden zur Durchsetzung der Dublin-Entscheidung
inhaftiert, andere tauchen unter und können damit nirgendwo in der EU ihre Rechte als Flüchtlinge geltend
machen. Schutzsuchende sollten sich deshalb ihr konkretes Zufluchtsland in der EU selbst aussuchen können,
für dieses Modell („free choice“) werben auch viele Verbände in einem „Memorandum“
(www.proasyl.de/de/news/detail/news/memorandum_freie_wahl_fuer_fluechtlinge-1/).

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