BT-Drucksache 18/4779

Beobachtung von Bürgerinnen und Bürgern sowie Massenorganisationen der Bundesrepublik Deutschland aufgrund von Kontakten in die DDR

Vom 28. April 2015


Deutscher Bundestag Drucksache 18/4779
18. Wahlperiode 28.04.2015
Kleine Anfrage
der Abgeordneten Jan Korte, Ulla Jelpke, Katrin Kunert, Petra Pau,
Harald Petzold (Havelland), Kersten Steinke, Halina Wawzyniak, Jörn Wunderlich
und der Fraktion DIE LINKE.

Beobachtung von Bürgerinnen und Bürgern sowie Massenorganisationen
der Bundesrepublik Deutschland aufgrund von Kontakten in die DDR

In der Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage „Beobachtung von
Funktionsträgern und sonstigen Bürgern der DDR durch westdeutsche Nach-
richtendienste“ (18/3773) wurde die relativ hohe Zahl der von solchen Beobach-
tungen betroffenen Personen deutlich. So wurden Informationen zu ca. 26 000
Personen als Funktions- und Mandatsträger des Staats- und Parteiapparates der
sowjetischen Besatzungszone bzw. der DDR erhoben, ca. 18 500 Angehörige
der Nationalen Volksarmee waren von diesen Maßnahmen betroffen, sowie
ca. 27 000 Personen als Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS)
der DDR. Das Ausmaß der gegenseitigen Beobachtung der beiden deutschen
Staaten ist Ausdruck der Konfrontation und des Misstrauens, wie es über lange
Jahre den Kalten Krieg bestimmte. Während sich die Maßnahmen des MfS in
unverhältnismäßiger Weise gegen die eigene Bevölkerung richteten und dies
inzwischen auch ausführlich wissenschaftlich dokumentiert ist, ist über die Be-
obachtung von Bürgerinnen und Bürgern sowie Massenorganisationen der Bun-
desrepublik Deutschland aufgrund von Kontakten in die DDR sehr viel weniger
bekannt.
So gab es von 1951 bis 1968 rund 200 000 staatsanwaltschaftliche Ermittlungs-
verfahren, die sich fast ausschließlich gegen Personen richteten, die gewaltfreie
linksoppositionelle Arbeit leisteten. Grundlage der sogenannten Kontaktschuld-
verfahren waren in der Regel Hinweise der Verfassungsschutzämter von Bund
und Ländern über Kontakte zur DDR, z. B. die Teilnahme an Sportwettkämpfen,
sowie die Mitarbeit bei Ersatzorganisationen der 1956 verbotenen KPD, wie
etwa das Friedenskomitee oder die „Aktion Frohe Ferien für alle Kinder“. Allein
nach dem KPD-Verbot sind jährlich bis zu 14 000 staatsanwaltschaftliche Er-
mittlungsverfahren anhängig gewesen in denen bis zu 500 Kommunistinnen und
Kommunisten und Sympathisantinnen und Sympathisanten verurteilt wurden.
Letztendlich führte etwa jede 20. Ermittlung zu einer Verurteilung, sodass ca.
7 000 bis 10 000 Verurteilungen zu verzeichnen waren, die zum Teil mehrjäh-
rige Gefängnis- und Zuchthausstrafen und hohe Geldstrafen zur Folge hatten.
Darüber hinaus brachten die Verfahren für viele Menschen existentielle Pro-
bleme, wie Rentenverlust, Passentzug, Untersuchungshaft sowie den Verlust des
Arbeitsplatzes und Berufsverbote mit sich. Von der im Zuge der Illegalisierung
der KPD erfolgten Kriminalisierungswelle waren auch viele Gewerkschafter
und Mitglieder der Sozialdemokratischen Partei (SPD) betroffen.

Drucksache 18/4779 – 2 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode
Wir fragen die Bundesregierung:
1. Wurden von Seiten westdeutscher Nachrichtendienste und Sicherheitsorgane

zwischen 1946 und dem 3. Oktober 1990 Bürgerinnen und Bürger der Bun-
desrepublik Deutschland aufgrund von Kontakten in die DDR überwacht,
bzw. gab es eine Beobachtung und/oder Informationserhebung zu ihnen, nach
welchen Kriterien erfolgte diese Beobachtung bzw. Informationserhebung
gegebenenfalls, und wie hoch ist die Zahl der von solchen Überwachungen
betroffenen Personen (bitte, soweit möglich, entsprechend nach Jahr, Sicher-
heitsbehörde und Anzahl der überwachten Personen aufführen)?

2. Welche Abteilungen im Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) mit jeweils
wie vielen damit betrauten Personen waren zu welchem Zeitpunkt mit der
Beobachtung und Überwachung befasst?

3. Wurden V-Leute (Vertrauensleute) des Bundesnachrichtendienstes (BND),
des BfV – oder nach Kenntnis der Bundesregierung eines Landesamtes für
Verfassungsschutz – bei der Beobachtung von Bürgerinnen und Bürgern so-
wie Massenorganisationen der Bundesrepublik Deutschland eingesetzt, und
wenn ja, in welchem Umfang geschah dies, und welche Rolle spielten sie bei
der Überwachung im Einzelnen (bitte, wenn möglich, für Dekade, Nachrich-
tendienst und Anzahl der eingesetzten V-Personen angeben)?

4. Wurden von Seiten westdeutscher Nachrichtendienste zwischen 1946 und
dem 3. Oktober 1990 Mitglieder von Massenorganisationen (Gewerkschaf-
ten, Kirchen etc.) der Bundesrepublik Deutschland aufgrund von Kontakten
dieser Organisationen in die DDR überwacht, bzw. gab es eine Beobachtung
und/oder Informationserhebung zu ihnen, nach welchen Kriterien erfolgte
diese Beobachtung bzw. Informationserhebung gegebenenfalls, welche Mas-
senorganisationen waren hiervon betroffen, und wie hoch ist die Zahl der von
solchen Überwachungen betroffenen Personen?

5. Wurden von Seiten westdeutscher Nachrichtendienste zwischen 1946 und
dem 3. Oktober 1990 Mitglieder von Parteien der Bundesrepublik Deutsch-
land aufgrund von Kontakten dieser Parteien in die DDR überwacht, bzw.
gab es eine Beobachtung und/oder Informationserhebung zu ihnen, nach wel-
chen Kriterien erfolgte diese Beobachtung bzw. Informationserhebung gege-
benenfalls, welche Parteien waren davon betroffen, und wie hoch ist die Zahl
der von solchen Überwachungen betroffenen Personen?

6. Wurden die im Rahmen der „Ostpolitik“ der sozialliberalen Regierung
Brandt geführten Gespräche von Mitgliedern und Funktionären der SPD mit
SED-Politikern von westdeutschen Nachrichtendiensten überwacht bzw. gab
es Beobachtung und/oder Informationserhebungen solcher Gespräche, und
fanden diese nachrichtendienstlichen Tätigkeiten im Wissen und mit Ein-
verständnis der davon gegebenenfalls betroffenen Personen aus der Bundes-
republik Deutschland statt?

7. Wurden Kontakte der SPD zur SED bzw. zur Staatsführung der DDR über-
wacht, wann und in welchem Zusammenhang wurden solche Kontakte über-
wacht, und wie viele Personen waren davon betroffen?

8. Was waren gegebenenfalls die Gründe für die Überwachung westdeutscher
Bürger, Massenorganisationen, Parteien bei Kontakten in die DDR, und auf
welcher Rechtsgrundlage fanden diese jeweils statt?

Welche besondere Gefährdung führte nach damaliger Einschätzung zu dieser
Form der nachrichtendienstlichen Tätigkeit?

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 3 – Drucksache 18/4779
9. Inwieweit wurde die 1955 in Düsseldorf gegründete und mit Landes-
ausschüssen in fast allen Bundesländern vertretene „Zentrale Arbeits-
gemeinschaft (ZAG) – Frohe Ferien für alle Kinder“, die Zehntausenden
westdeutschen Kindern und Jugendlichen Plätze in Ferienlagern in der DDR
bot, von westdeutschen Nachrichtendiensten und Sicherheitsbehörden über-
wacht, und wie viele Personen waren davon aus welchen Gründen zwischen
1954 und 1961 betroffen?

10. In wie vielen Fällen führte die Mitarbeit bei den Ferienaktionen der ZAG zu
Ermittlungsverfahren und Verurteilungen?

11. Inwieweit spielten, nach Inkrafttreten des sogenannten Radikalenerlasses
durch die Ministerpräsidentenkonferenz unter Vorsitz von Bundeskanzler
Willy Brandt (SPD) vom 28. Januar 1972, DDR-Kontakte in der Regel-
anfrage bei Anwärtern für den Öffentlichen Dienst, die vom Verfassungs-
schutz auf ihre politische Zuverlässigkeit überprüft wurden, eine Rolle, und
wie vielen Personen wurde aufgrund ihrer DDR-Kontakte eine Anstellung
im Öffentlichen Dienst verwehrt?

12. Wie viele der 11 000 offiziellen Berufsverbote auf Grundlage des sogenann-
ten Radikalenerlasses gingen ursächlich oder teilweise auf DDR-Kontakte
der jeweils betroffenen Personen zurück?

13. Wie viele der 2 200 Disziplinarverfahren auf Grundlage des sogenannten
Radikalenerlasses gingen ursächlich oder teilweise auf DDR-Kontakte der
jeweils betroffenen Personen zurück?

14. Wie viele der 1 250 Ablehnungen von Bewerbungen und 265 Entlassungen
aus dem Öffentlichen Dienst auf Grundlage des sogenannten Radikalen-
erlasses gingen ursächlich oder teilweise auf DDR-Kontakte der jeweils be-
troffenen Personen zurück?

15. Welche Ursachen führten nach Auffassung der Bundesregierung zur Ent-
stehung der umfassenden Kriminalisierung gegen Kommunistinnen und
Kommunisten und andere Linke in der Bundesrepublik Deutschland, und
welche Schlussfolgerungen und Konsequenzen zieht sie daraus aus heutiger
Sicht?

16. Gegen welche kommunistischen Organisationen und linken Bündnis-
gruppen, die nicht dem Parteienprivileg nach Artikel 21 des Grundgesetzes
unterlagen, ergingen zwischen 1951 und 1958 Verbote (bitte entsprechend
chronologisch aufführen)?

17. Welche Bedeutung in der deutsch-deutschen Auseinandersetzung während
des Kalten Krieges hatten nach Auffassung der Bundesregierung die Re-
nazifizierung des westdeutschen Staatsapparates u. a. auf Grundlage des
„131er-Gesetzes“ von 1951, das die Pflicht zur Wiedereinstellung von NS-
Belasteten (NS – Nationalsozialismus) zum Ziel hatte, und der „Adenauer-
erlaß“ von 1950, der die Verwaltung von Kommunistinnen und Kommunis-
ten säubern sollte?

18. Wurden von Seiten westdeutscher Nachrichtendienste zwischen 1946 und
dem 3. Oktober 1990 Mitglieder von Massenorganisationen (Gewerkschaf-
ten, Kirchen, Jugendverbände etc.) der DDR überwacht bzw. gab es eine
Beobachtung und/oder Informationserhebung zu ihnen, nach welchen Kri-
terien erfolgte diese Beobachtung bzw. Informationserhebung gegebenen-
falls, welche Massenorganisationen waren hiervon betroffen, und wie hoch
ist die Zahl der von solchen Überwachungen betroffenen Personen?

19. Wird die Bundesregierung Forschungen zur Geschichte des Kalten Krieges
und zu Aktivitäten westdeutscher Nachrichtendienste anstoßen, und wie be-
gründet sie ihre Haltung in dieser Frage?

Drucksache 18/4779 – 4 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode
20. Inwieweit wurde oder wird das Thema dieser Kleinen Anfrage, also die Be-
obachtung von Bürgerinnen und Bürgern sowie Massenorganisationen der
Bundesrepublik Deutschland durch westdeutsche Nachrichtendienste auf-
grund von Kontakten in die DDR, in den Forschungsprojekten der Histori-
kerkommissionen von BND und BfV bearbeitet, und welche Ergebnisse gibt
es diesbezüglich?

21. Welchen Umfang in laufenden Metern haben die Aktenbestände westdeut-
scher Nachrichtendienste und Sicherheitsbehörden über die Beobachtung
von Bürgerinnen und Bürgern sowie Massenorganisationen der Bundes-
republik Deutschland aufgrund von Kontakten in die DDR (bitte für die ent-
sprechenden Sicherheitsbehörden aufschlüsseln)?

22. Inwieweit wurden die Kontakte von DDR-Bürgerinnen und -Bürgern ins
nichtsozialistische Ausland durch westdeutsche Nachrichtendienste beob-
achtet?
In welcher Form wurden dabei z. B. Reisen sowie telefonische Kontakte
und Briefkontakte überwacht, wer führte die Maßnahmen im Ausland durch,
und wer war davon betroffen?

23. Aus welchem Grund wurden seitens westdeutscher Nachrichtendienste
Informationen über die Auslandskontakte von Dr. Hans Modrow erhoben
(vgl. Bundestagsdrucksache 18/3773, Antwort der Bundesregierung auf die
Kleine Anfrage zu Frage 1)?

24. In welchem Zeitraum wurden diese Auslandskontakte von Dr. Hans Modrow
überwacht?

25. Welche Auslandskontakte von Dr. Hans Modrow waren von dieser Über-
wachung bzw. Informationserhebung betroffen?

26. Welche Begründungen über den Vorwurf des Hochverrats gegen Dr. Hans
Modrow, von dem westdeutsche Nachrichtendienste während dessen Amts-
zeit als Vorsitzender des Ministerrates aus einer sensitiven Information
Kenntnis erhalten hatten (vgl. Antwort der Bundesregierung auf Bundes-
tagsdrucksache 18/3773), liegen der Bundesregierung vor?

27. Ergeben sich die Hochverratsvorwürfe gegen Dr. Hans Modrow nach
Kenntnis der Bundesregierung aus der Reise von Dr. Hans Modrow noch
im September 1989 nach Stuttgart mit Kontakten im Land Baden-Württem-
berg, aus allgemeinen Auslandskontakten oder gänzlich anderen Gründen?

Berlin, den 28. April 2015

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

anzeiger Verlag GmbH, Postfach 10 05 34, 50445 Köln, Telefon (02 21) 97 66 83 40, Fax (02 21) 97 66 83 44, www.betrifft-gesetze.de

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