BT-Drucksache 18/4682

Wirksame Alternativen zum nachrichtendienstlich arbeitenden Verfassungsschutz schaffen

Vom 21. April 2015


Deutscher Bundestag Drucksache 18/4682
18. Wahlperiode 21.04.2015
Antrag
der Abgeordneten Petra Pau, Jan Korte, Dr. André Hahn, Ulla Jelpke, Katrin
Kunert, Harald Petzold, Martina Renner, Kersten Steinke, Azize Tank, Frank
Tempel, Halina Wawzyniak und der Fraktion DIE LINKE.

Wirksame Alternativen zum nachrichtendienstlich arbeitenden
Verfassungsschutz schaffen

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Angesichts der strukturellen Defizite und Rechtsverstöße, wie sie im Rahmen des
NSU-Untersuchungsausschusses bekannt wurden, ist die Auflösung des nachrich-
tendienstlich arbeitenden Verfassungsschutzverbundes in der Bundesrepublik
Deutschland sowohl politisch als auch rechtlich geboten. Die vom Bundesministe-
rium des Innern und der Länder bisher eingeleiteten und geplanten Maßnahmen tra-
gen diesem grundlegenden Veränderungsbedarf nach Überzeugung des Bundestages
nicht nur völlig unzureichend Rechnung, sondern sie verfestigen nach der schwers-
ten Krise dieser Sicherheitsbehörden genau deren wesentliche Bausteine. Aus die-
sem Grund schlägt der Bundestag einen radikal anderen Weg vor.

Nach Artikel 87 Absatz 1 Satz 2 des Grundgesetzes „können“ durch Bundesgesetz
„Zentralstellen (...) zur Sammlung von Unterlagen für Zwecke des Verfassungs-
schutzes“ errichtet werden. Eine verfassungsrechtliche Verpflichtung, eine Stelle
mit den Kompetenzen des existierenden Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV)
einzurichten, ergibt sich daraus indes nicht.

Der Bundestag schlägt vor, dass die organisatorische und kompetenzielle Ausgestal-
tung der in Artikel 87 GG genannten Zentralstelle sich künftig konsequent an dem
orientieren solle, was mit der durch Art. 73 Abs. 1 Nr. 10b GG und Art. 87 Abs. 1
Satz 2 GG eingeräumten Kompetenz ursprünglich gewollt und bezweckt war: Ge-
wollt war, dass der Bund eine ministerialfreie Koordinierungsstelle einrichten darf,
die lediglich über umstürzlerische Tätigkeiten für Zwecke des Verfassungsschutzes
Unterlagen sammelt, ohne eigene Exekutivbefugnisse – zumal solche zur geheimen
Informationsbeschaffung – oder Weisungsrechte gegenüber den Ländern zu haben.

Die durch Bundesgesetz nach dem Willen des Bundestages zu errichtende Koordi-
nierungsstelle soll nach einer Aufbauphase das aufzulösende „Bundesamt für Ver-
fassungsschutz“ als Zentralstelle des Bundes für Zwecke des Verfassungsschutzes
nach Art. 87 Abs. 1 Satz 2 GG ersetzen. Die Koordinierungsstelle ist eine ministeri-
alfreie Einrichtung des Bundes, d. h. sie untersteht lediglich der Rechts-, aber nicht
der Fachaufsicht eines Bundesministeriums. Ihrer verfassungsmäßigen Aufgabenbe-
grenzung auf die „Sammlung von Unterlagen“ (Art. 87 Abs. 1 Satz 2 GG) entspre-
chend sind ihre Befugnisse auf das koordinierende Entgegennehmen, die Weitergabe

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und die Vermittlung des Austauschs von Informationen und Erkenntnissen begrenzt,
welche ihr von Stellen der Länder und des Bundes sowie zwischenstaatlichen und
ausländischen Stellen übermittelt werden.

Zur eigenständigen Erhebung von Informationen ist sie nicht befugt – auch nicht aus
allgemein zugänglichen Quellen. Die Entgegennahme und Weiterleitung mit Metho-
den, Gegenständen und Instrumenten heimlicher Informationsbeschaffung im Sinne
des § 8 Abs. 2 BVerfSchG einschließlich der durch den Einsatz von Vertrauens- und
Gewährspersonen gewonnenen Informationen und Erkenntnisse sind ihr ebenso ge-
setzlich untersagt wie deren eigener Einsatz. Stammt die Information von Einrich-
tungen, die gesetzlich befugt sind, nachrichtendienstliche Mittel einzusetzen, hat sie
dies im jeweiligen Einzelfall zu prüfen. Verbleiben danach Zweifel, ob die Informa-
tion oder die Erkenntnis mithilfe nachrichtendienstlicher Mittel gewonnen wurde, so
haben eine weitere Verarbeitung und Weitergabe zu unterbleiben. Entsprechende
Daten sind zu löschen, Unterlagen zu vernichten.

Informationen und Erkenntnisse, die nicht mit nachrichtendienstlichen Methoden,
Gegenständen und Instrumenten gewonnen worden sind, darf die Koordinierungs-
stelle grundsätzlich nur an Einrichtungen weiterleiten, die solche Methoden, Gegen-
stände und Instrumente nicht einsetzen dürfen. Eine Weiterleitung an Einrichtungen,
die zum Einsatz nachrichtendienstlicher Mittel befugt sind, darf nur erfolgen, wenn
sie sich verpflichten, von der Koordinierungsstelle erhaltene Informationen oder Er-
kenntnisse nicht mit Erkenntnissen zusammenzuführen, die aus geheimer Informa-
tionsbeschaffung stammen.

Die Koordinierungsstelle hat laufend zu überprüfen, ob und inwieweit diese Ver-
pflichtung auch tatsächlich eingehalten wird. Ist die vollständige Einhaltung der Ver-
pflichtung bei der betreffenden Einrichtung nicht durchgängig gewährleistet, so hat
jeglicher Informationsaustausch mit ihr zu unterblieben, bis sie wirksame Vorkeh-
rungen für eine künftige Beachtung nachweist. Weisungsbefugnisse gegenüber den
Verfassungsschutzbehörden der Länder hat die Koordinierungsstelle nicht.

Die Koordinierungsstelle betreibt selbst keine inhaltliche Auswertung und Aufberei-
tung der entsprechend diesen Vorgaben entgegengenommenen Informationen und
Erkenntnisse. Dies obliegt einer neu zu errichtenden „Bundesstiftung zur Beobach-
tung, Erforschung und Aufklärung aller Erscheinungsformen gruppenbezogener
Menschenfeindlichkeit“ (kurz: Bundesstiftung zur Beobachtung und Erforschung
gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit).

Die Bundesstiftung soll eine bundesunmittelbare, rechtsfähige Stiftung des öffentli-
chen Rechts sein, die rechtlich, organisatorisch und personell unabhängig ist von der
Koordinierungsstelle. Ihr Zweck ist der Schutz der Menschenwürde sowie der
Grundrechte des Grundgesetzes durch wissenschaftliche Untersuchung, Informa-
tion, Dokumentation und Aufklärung über Ursachen und Erscheinungsformen grup-
penbezogener Menschenfeindlichkeit. Sie arbeitet gemäß dem gesetzlichen Leitbild:
„Der beste Schutz der Verfassung sind mündige Bürgerinnen und Bürger“ auf der
Grundlage des Prinzips „Verfassungsschutz durch Aufklärung“.

Gesetzliche Aufgabe der Stiftung ist es, antipluralistische, insbesondere neonazisti-
sche, rassistische und antisemitische Einstellungen, Verhaltensweisen und Bestre-
bungen, sowie sonstige Erscheinungsformen individueller und organisierter grup-
penbezogener Menschenfeindlichkeit zu beobachten, zu dokumentieren und ein-
schließlich ihrer individuellen und strukturellen Ursachen und Folgen zu erforschen.
Sie berät und unterstützt private und öffentliche Einrichtungen und gesellschaftliche
Initiativen dabei, einen pluralistischen Konsens sowie demokratische Teilhabe zu
fördern und zu festigen. Die Bundesstiftung erfüllt ihre gesetzliche Aufgabe durch:

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laufende Entgegennahme und Weitergabe von Informationen, insbesondere von

sach- und personenbezogenen Auskünften, Nachrichten und Unterlagen, sowie
von Erkenntnissen der Koordinierungsstelle Dokumentation gruppenbezogener
Menschenfeindlichkeit des Bundes;

Erhebung allgemein zugänglicher Informationen, ihre allgemein zugängliche
Dokumentation und wissenschaftliche Aufbereitung;

Errichtung und Unterhaltung eines Archivs nebst Dokumentationsstelle und
Bibliothek;

Beratung der Bundesregierung und des Bundestages im Sinne des Stiftungs-
zwecks;

Aufklärung über die individuellen und strukturellen Ursachen und Erschei-
nungsformen individueller und organisierter gruppenbezogener Menschenfeind-
lichkeit;

Entwicklung und Präsentation von Handlungsempfehlungen zur Bekämpfung
der Ursachen und Erscheinungsformen gruppenbezogener Menschenfeindlich-
keit;

fachliche Unterstützung von privaten und öffentlichen Einrichtungen im Sinne
des Stiftungszwecks;

finanzielle Förderung und fachliche Unterstützung gesellschaftlicher Initiativen,
insbesondere zur Beratung und Betreuung von Opfern gruppenbezogener Men-
schenfeindlichkeit;

internationale Zusammenarbeit im Sinne des Stiftungszwecks.

Der nachrichtendienstlich arbeitende Verfassungsschutz war Herz und Motor des si-
cherheitspolitischen Debakels im Zusammenhang des NSU. Als Konsequenz daraus
tritt der Bundestag für eine Auflösung des nachrichtendienstlichen Verfassungs-
schutzes ein. Künftige Strukturen und Kompetenzen müssen sich konsequent an den
verfassungsrechtlichen Vorgaben des Grundgesetzes orientieren.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

a. einen Gesetzentwurf vorzulegen, um das Bundesamt für Verfassungsschutz in
seiner jetzigen Form aufzulösen und in eine durch Bundesgesetz zu errichtende
„Koordinierungsstelle des Bundes zur Dokumentation neonazistischer, rassisti-
scher und antisemitischer Einstellungen und Bestrebungen sowie sonstiger Er-
scheinungsformen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit“ (kurz: „Koordi-
nierungsstelle zur Dokumentation gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit“)
umzuwandeln, sowie

b. einen Gesetzentwurf vorzulegen, um eine „Bundesstiftung zur Beobachtung, Er-
forschung und Aufklärung der Erscheinungsformen gruppenbezogener Men-
schenfeindlichkeit“ (kurz: „Bundesstiftung zur Beobachtung und Erforschung
gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit“) durch Bundesgesetz einzurichten.

Berlin, den 21. April 2015

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

anzeiger Verlag GmbH, Postfach 10 05 34, 50445 Köln, Telefon (02 21) 97 66 83 40, Fax (02 21) 97 66 83 44, www.betrifft-gesetze.de

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