BT-Drucksache 18/4450

Unabhängige Polizeibeschwerdestelle auf Bundesebene einrichten

Vom 25. März 2015


Deutscher Bundestag Drucksache 18/4450
18. Wahlperiode 25.03.2015
Antrag
der Abgeordneten Petra Pau, Jan Korte, Martina Renner, Dr. André Hahn, Ulla
Jelpke, Katrin Kunert, Harald Petzold (Havelland), Kersten Steinke, Frank Tempel,
Halina Wawzyniak und der Fraktion DIE LINKE.

Unabhängige Polizeibeschwerdestelle auf Bundesebene einrichten

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Die polizeilichen Ermittlungen zu den Straftaten, die dem Nationalsozialistischen
Untergrund (NSU) vorgeworfen werden, wurden von den Angehörigen der Mord-
opfer und von den Opfern der Sprengstoffanschläge häufig als diskriminierend wahr-
genommen. Von Anfang an und in den meisten Fällen ohne Änderung standen die
Familien der Opfer bzw. die Opfer im Fokus der Ermittlungen, richteten sich die
polizeilichen Nachforschungen gegen sie, wurden die Opfer der schweren Straftaten
selbst in das Zwielicht krimineller Machenschaften gerückt. Ein unabhängiger, mit
weitreichenden Kompetenzen ausgestatteter Beschwerdemechanismus zur Polizei-
arbeit in den Ländern und im Bund hätte den aus heutiger Sicht völlig berechtigten
Beschwerden der Angehörigen und Opfer zumindest Gehör verschafft, zur Überprü-
fung der Polizeiarbeit führen und so möglicherweise Abhilfe schaffen können.

Der Deutsche Bundestag teilt die von der Ombudsfrau für die Hinterbliebenen der
NSU-Taten, Barbara John, geäußerte Sorge, dass viele Polizisten und Polizistinnen
„Einwanderer nur als Tatverdächtige“ kennen und bei den Morden des NSU zu lange
einseitig in Richtung „Ausländerkriminalität“ ermittelt wurde
(www.taz.de/!88223/). Vorhandene Hinweise auf einen neonazistisch-rassistischen
Hintergrund der Taten wurden von der Polizei ignoriert bzw. es wurde ihnen nicht
ernsthaft nachgegangen. Zur Erklärung dieser an allen Tatorten gleichförmigen Er-
mittlungsrichtung, die die Opfer kriminalisierte und nicht unerheblich zum Überse-
hen der realen Tatmotive führte, liegt es nahe, von einem strukturellen bzw. institu-
tionellen Rassismus auszugehen, der jenseits individueller Einstellungen der einzel-
nen Ermittler und Ermittlerinnen ein strukturelles Merkmal der Polizeiarbeit in die-
sem Fall zu sein scheint.

Unter strukturellem Rassismus wird eine Form des Rassismus verstanden, die von
den Institutionen der Gesellschaft, ihren Verfahren, Normen und rechtlichen Grund-
lagen ausgeht und zunächst unabhängig von der Motivation der darin handelnden
Individuen ist. Ausgrenzung, Benachteiligung und Diskriminierung werden in und
durch verschiedene wichtige gesellschaftliche Einrichtungen erfahren und finden
sich im Bildungsbereich, bei der politischen Beteiligung, auf dem Arbeits- und Woh-
nungsmarkt oder eben im Rahmen der Polizeiarbeit.

Drucksache 18/4450 – 2 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode
Die Zeugenvernehmungen der Ermittlerinnen und Ermittler an den Tatorten der
NSU-Mordserie haben verdeutlicht, dass die Ermittlungen mit Vorannahmen, Zu-
schreibungen und Stereotypisierungen geführt wurden, die gerade nicht einem indi-
viduellen Rassismus der Ermittlerinnen und Ermittler entsprangen, sondern dem
oben beschriebenen Formen eines strukturellen Rassismus zuzurechnen sind. Es
handelt sich hierbei um ein gesamtgesellschaftliches Problem, das jedoch im Zusam-
menhang von Polizei- und Ermittlungsarbeit von besonderer Bedeutung ist und ge-
eigneter Gegenmaßnahmen bedarf.

Diskriminierende Ermittlungen der Polizei, wozu auch unterlassene Ermittlungen
und Handlungen gehören können, sind nach Überzeugung des Deutschen Bundesta-
ges jedoch nicht nur im NSU-Fall vorgekommen. Mit Sorge nimmt der Bundestag
zur Kenntnis, dass Menschen mit Migrationshintergrund überproportional häufig
von solchen diskriminierenden Ermittlungen betroffen sind. Internationale Gremien
wie der UN-Menschenrechtsausschuss, der Europäische Gerichtshof für Menschen-
rechte und die Agentur der Europäischen Union für Grundrechte haben wiederholt
darauf hingewiesen, dass Personenkontrollen und Identitätsfeststellungen, die allein
aufgrund der zugeschriebenen „ethnischen Zugehörigkeit“ oder „Hautfarbe“ einer
Person basieren, gegen das Verbot rassistischer Diskriminierung verstoßen. In die-
sem Zusammenhang kritisiert der Bundestag die Praxis des „racial profiling“, die
diskriminierendes bzw. rassistisches Verhalten zumindest begünstigt.

Den Opfern strukturell rassistischer oder anderweitig diskriminierender Ermittlun-
gen der Polizei muss nach Überzeugung des Bundestages die Möglichkeit einer
wirksamen Beschwerdemöglichkeit eingeräumt werden. Dies gilt auch für Polizis-
tinnen und Polizisten, die mit der Art von Ermittlungen, dem Umgang mit Zeugen
und/oder Beschuldigten oder anderen Verhaltensweisen im Rahmen der Polizeiar-
beit nicht einverstanden sind, die sich jedoch aufgrund eines Corpsgeistes und einer
bestehenden Polizeikultur (Cop Culture) nicht an ihre Vorgesetzten wenden. Auch
für solche Beschwerden innerhalb des Polizeiapparates bedarf es eines unabhängi-
gen Beschwerdemechanismus außerhalb der Institution der Polizei.

Der Deutsche Bundestag sieht es als eine wichtige Konsequenz aus den Fehlern der
polizeilichen Arbeit im Zusammenhang mit den Ermittlungen zu den dem NSU zu-
geschriebenen Taten an, auf Bundesebene eine Polizeibeschwerdestelle einzurich-
ten, deren Arbeit folgenden Grundsätzen folgen soll:
1. Unabhängigkeit: Die Polizeibeschwerdestelle muss unabhängig ermitteln kön-

nen, d.h. sie muss räumlich von den Polizeidienststellen getrennt arbeiten und
die Mitarbeiter dürfen in keinem institutionellen oder hierarchischen Verhältnis
zu den von der Beschwerde betroffenen Polizeibeamten stehen.

2. Angemessenheit: Die Polizeibeschwerdestelle muss alle für die Überprüfung
der Beschwerde notwendigen Befugnisse haben, was insbesondere Aktenein-
sichtsrechte, die Möglichkeit eigener Beweiserhebung, die Befragung von Zeu-
gen umfasst.

3. Öffentlichkeit: Die Arbeit der Polizeibeschwerdestelle ist grundsätzlich in ge-
eigneter Weise, z. B. durch einen jährlich dem Parlament vorzulegenden Be-
richt, öffentlich zu machen.

4. Einbeziehung der Betroffenen: Die Beschwerdeführer sollen in das Beschwer-
deverfahren einbezogen werden, um ihre Interessen im Prozess der Ermittlung
zu berücksichtigen. Die Beschwerdestelle soll auch unter Umgehung des Dienst-
weges informiert werden können.

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 3 – Drucksache 18/4450
II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

a) auf Bundesebene eine unabhängige Polizeibeschwerdestelle für die Polizeien
des Bundes einzurichten, die den Grundsätzen der Unabhängigkeit, Angemes-
senheit, Öffentlichkeit und Einbeziehung der Betroffenen folgt, und dem Bun-
destag hierzu einen Gesetzentwurf vorzulegen, der die Kompetenzen und Pflich-
ten der Polizeibeschwerdestelle festlegt;

b) den Gesetzentwurf für eine Polizeibeschwerdestelle des Bundes mit den Län-
dern abzustimmen, verbunden mit dem Ziel, ähnlich ausgerichtete Polizeibe-
schwerdestellen auch in den Ländern einzurichten.

Berlin, den 25.März 201522. April 2015

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

Begründung

Die Aufdeckung der NSU-Taten hat zu einer manifesten Vertrauenskrise gegenüber den Sicherheitsorganen
der Bundesrepublik Deutschland geführt. Während die Verfassungsschutzämter ihre vorgegebene Funktion als
Frühwarnsystem in keiner Weise gerecht wurden, hat die Polizeiarbeit zu den NSU-Taten eine Form des insti-
tutionellen Rassismus offenbart, die sich nicht nur im Rahmen der Polizei zeigt aber hier zu besonders drama-
tischen Konsequenzen für die Angehörigen der Mordopfer bzw. die Opfer der Anschläge führte.

Von Angehörigen und Opfern der NSU-Taten ist immer wieder zu hören, dass eine der schlimmsten Erfahrun-
gen für sie der Vertrauensverlust in die deutschen Sicherheitsbehörden ist. Dieser Vertrauensverlust kann nur
durch reale Erfahrungen und konkrete Veränderungen nach und nach behoben werden. Ein wichtiger Schritt
hierzu sind ernsthafte Folgerungen aus den falschen Ermittlungen, die den Betroffenen solcher vorurteilsbela-
dener Ermittlungen zukünftig die Möglichkeit geben, sich darüber bei einer unabhängigen und mit Kompeten-
zen ausgestatteten Stelle zu beschweren.

Auch über den NSU-Komplex hinaus ist eine unabhängige Polizeibeschwerdestelle des Bundes dringend nötig,
gibt es doch zahlreiche Fälle von diskriminierenden Ermittlungen der Polizei, die von den davon betroffenen
nur schwer zur Sprache gebracht werden können und nach allen bisherigen Erfahrungen ohne Folgen bleiben
oder gar zum Nachteil der Beschwerdeführer reichen.

Schließlich gibt es auch innerhalb der Polizei große Schwierigkeiten, Fehlverhalten von Vorgesetzten und Kol-
legen angstfrei und ohne Sorge um negative Konsequenzen innerhalb der Dienststelle anzeigen zu können.
Eine unabhängige Polizeibeschwerdestelle wäre auch für die Polizei selbst ein Instrument, eine andere Kultur
im Umgang mit Fehlverhalten zu entwickeln und darüber verlorengegangenes Vertrauen zurückzugewinnen.

In Deutschland sind in den letzten Jahren eine Reihe von konkreten Vorschlägen zur Ausgestaltung einer Po-
lizeibeschwerdestelle gemacht worden an die bei der Entwicklung eines Konzepts seitens der Bundesregierung
anzuknüpfen ist. So haben Amnesty International (www.amnestypolizei.de/sites/default/files/imce/pfds/Poli-
zeibericht-internet.pdf), die Humanistische Union (www.humanistische-union.de/wiki/_media/hu/projekte/ge-
polizeibeauftragter_20080921.pdf) und zuletzt das Deutsche Institut für Menschenrechte (www.institut-fuer-
menschenrechte.de/uploads/tx_commerce/Unabhaengige_Polizei_Beschwerdestellen.pdf) zum Teil detail-
lierte Vorschläge zur Einrichtung einer solchen Stelle vorgelegt. Erfahrungen mit Polizeibeschwerdestellen
liegen ebenfalls in zahlreichen europäischen Nachbarländern vor.
anzeiger Verlag GmbH, Postfach 10 05 34, 50445 Köln, Telefon (02 21) 97 66 83 40, Fax (02 21) 97 66 83 44, www.betrifft-gesetze.de

x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.