BT-Drucksache 18/4335

100. Jahresgedenken des Völkermords an den Armenierinnen und Armeniern 1915/1916 - Deutschland muss zur Aufarbeitung und Versöhnung beitragen

Vom 18. März 2015


Deutscher Bundestag Drucksache 18/4335
18. Wahlperiode 18.03.2015
Antrag
der Abgeordneten Ulla Jelpke, Katrin Kunert, Wolfgang Gehrcke, Jan van Aken,

hristine Buchhol , evi Da delen, Dr. Diether Deh , Annette Groth, eike
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ovassat, Dr. Ale ander S. eu, Ale ander Ulrich, Kathrin ogler und
der raktion D K .

1 . Jahresgedenken des lker ords an den Ar enierinnen und Ar eniern
1915/1916 – Deutschland uss ur Aufarbeitung und ers hnung beitragen

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

1. Der Deutsche Bundestag gedenkt der Opfer der Deportationen und Massaker im
Osmanischen Reich während des Ersten Weltkriegs, die zur fast vollständigen
Vernichtung der armenischen Bevölkerung in Anatolien geführt haben. Nach
wissenschaftlichen Schätzungen fielen den Verbrechen bis zu 1,5 Millionen
Menschen zum Opfer.

2. Der Deutsche Bundestag bewertet die von der jungtürkischen Regierung des Os-
manischen Reichs systematisch geplante und organisierte Vernichtung der ar-
menischen Bevölkerung als Völkermord nach der UN-Konvention über die Be-
strafung und Verhütung des Völkermords von 1948. Nach dem Forschungsstand
in der Wissenschaft stellt die aramäisch-assyrische Bevölkerung eine weitere
Opfergruppe in dem Völkermordverbrechen dar.

3. Der Deutsche Bundestag bedauert die historische Mitverantwortung des Deut-
schen Reichs bei der Vernichtung der Armenierinnen und Armenier. Geschützt
durch das Kriegsbündnis mit dem Deutschen Reich setzte die jungtürkische Re-
gierung ihre Homogenisierungspolitik mit aller Gewalt um. Als Schutzmacht
intervenierte Deutschland trotz vielfältiger Informationen nicht mit Nachdruck
bei seinem osmanischen Verbündeten, um die Gräueltaten zu stoppen. Nach
dem Ende des Ersten Weltkriegs wurde führenden Verantwortlichen der ent-
machteten jungtürkischen Regierung Asyl und Schutz vor internationaler Straf-
verfolgung in Deutschland gewährt. Das Deutsche Reich muss sich auch das
Verhalten seines im Osmanischen Reich stationierten Militärs zurechnen lassen,
das fallweise die Deportationsbefehle der osmanischen Zentralregierung mit un-
terzeichnete und in einigen Fällen aktiv an der militärischen Niederschlagung
von armenischen Selbstverteidigungsaufständen mitwirkte. Der Deutsche Bun-
destag bittet die Armenierinnen und Armenier für die Beihilfe des Deutschen
Reichs zum Völkermord um Entschuldigung.

4. Der Deutsche Bundestag bekräftigt die Notwendigkeit, aktiv zur Aufklärung
über die politischen Hintergründe des Völkermordverbrechens und die damalige

Drucksache 18/4335 – 2 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode

Rolle des Deutschen Reichs beizutragen. Dies erfordert insbesondere die voll-
ständige Umsetzung des Bundestagsantrags aus der 15. Wahlperiode „Erinne-
rung und Gedenken an die Vertreibungen und Massaker an den Armeniern 1915
– Deutschland muss zur Versöhnung zwischen Türken und Armeniern beitra-
gen“ (Bundestagsdrucksache 15/5689). Darin wird der staatlichen Bildungspo-
litik der Auftrag zugewiesen, „dazu beizutragen, dass die Aufarbeitung der Ver-
treibung und Vernichtung der Armenier als Teil der Aufarbeitung der Ge-
schichte ethnischer Konflikte im 20. Jahrhundert auch in Deutschland erfolgt“.
Mit Ausnahme des Bundeslandes Brandenburg ist der Völkermord an den Ar-
meniern bislang in keinem Bundesland in den Curricula des Schulunterrichts
verankert.

5. Der Deutsche Bundestag ehrt mit diesem Gedenken die Bemühungen all der
Deutschen und Türken, die sich unter schwierigen Umständen und gegen den
Widerstand ihrer jeweiligen Regierung in Wort und Tat für das Existenzrecht
der Armenier und die Rettung von Frauen, Männern und Kindern eingesetzt ha-
ben. Trotz zahlreicher Aufklärungsschriften und dringender Eingaben vieler
deutscher Persönlichkeiten, darunter Politiker wie Karl Liebknecht, Eduard
Bernstein, Georg Ledebour, Georg Gradnauer, Philipp Scheidemann und
Matthias Erzberger sowie bedeutender Persönlichkeiten aus der evangelischen
und katholischen Kirche wie Johannes Lepsius, Adolf von Harnack und Lorenz
Werthmann, unterließ es die deutsche Reichsregierung, auf ihren osmanischen
Verbündeten wirksamen Druck auszuüben. Von herausragender Bedeutung für
die demokratische Erinnerungskultur ist der Beitrag des Schriftstellers und Pa-
zifisten Armin T. Wegner, der als Sanitätsoffizier während des Ersten Welt-
kriegs Augenzeuge des Völkermords wurde und unter großen persönlichen Ri-
siken das grausame Geschehen fotografisch festhielt. Ranghohe osmanische
Staatsbeamte, darunter Gouverneure und Landräte wie zum Beispiel Fâik Âli

die
sich den Deportationsbefehlen der Zentralregierung widersetzen, wurden ihres
Amtes enthoben, ermordet oder hingerichtet. Diese bis heute oft verschwiege-
nen Helden können als Vorbilder bei der Aufarbeitung der jüngeren Geschichte
der Türkei dienen.

6. Der Deutsche Bundestag begrüßt die in den letzten Jahren zunehmend offener
geführte Diskussion in der Zivilgesellschaft der Türkei, bekräftigt aber die Not-
wendigkeit von gesetzlich gewährleisteter Meinungsfreiheit. Trotz der Locke-
rung des türkischen Strafrechts geraten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaft-
ler, Journalistinnen und Journalisten, Künstlerinnen und Künstler sowie Film-
schaffende noch immer unter Druck, wenn sie sich mit dem Völkermordverbre-
chen öffentlichkeitswirksam beschäftigen.

7. Der Deutsche Bundestag ermutigt alle Bestrebungen in der Türkei, die sich für
die weitere Aufarbeitung des Völkermords und die Aussöhnung zwischen Tür-
ken und Armeniern einsetzen.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. sich vorbehaltlos zur historischen Mitverantwortung des Deutschen Reichs am
Völkermord zu bekennen,

2. den Bundestagsantrag aus der 15. Wahlperiode „Erinnerung und Gedenken an
die Vertreibungen und Massaker an den Armeniern 1915 – Deutschland muss
zur Versöhnung zwischen Türken und Armeniern beitragen“ (Bundestagsdruck-
sache 15/5689) vollständig umzusetzen und sich im Rahmen der Ständigen Kon-
ferenz der Kultusminister der Bundesländer für die Aufnahme des Völkermord-
themas in die Curricula des Schulunterrichts einzusetzen,

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 3 – Drucksache 18/4335
3. im Rahmen demokratischer Erinnerungspolitik dafür zu sorgen, dass alle histo-

rischen deutschen Persönlichkeiten, die sich für das Existenzrecht der armeni-
schen Bevölkerung eingesetzt haben, in der Öffentlichkeit und bei offiziellen
Anlässen ausgewogen gewürdigt werden,

4. der Regierung der Republik Armenien die Einrichtung einer deutsch-armeni-
schen Schulbuchkommission nach dem Vorbild der deutsch-polnischen Schul-
buchkommission anzubieten, um in diesem Rahmen Schulbücher über die ge-
meinsame Geschichte durch Historikerinnen und Historiker beider Länder erar-
beiten zu lassen,

5. dabei mitzuhelfen, dass zwischen Türkinnen und Türken sowie Armenierinnen
und Armeniern ein Ausgleich durch Aufarbeitung, Versöhnen und Verzeihen
historischer Schuld erreicht wird und der türkischen Regierung hierfür geeignete
Maßnahmen vorzuschlagen sowie finanziell zu unterstützen, um in der Türkei
Orte des öffentlichen Gedenkens und der gemeinsamen Begegnung zu schaffen,
wie zum Beispiel die Gründung einer türkisch-armenischen Versöhnungsstif-
tung,

6. sich gegenüber der türkischen Regierung und der Großen Türkischen National-
versammlung für die Herstellung vollständiger Meinungsfreiheit in der Türkei,
insbesondere auch bezüglich des Schicksals der Armenierinnen und Armenier,
einzusetzen und die Abschaffung aller gegenwärtig noch zuwiderlaufenden
Bestimmungen im türkischen Strafgesetzbuch einzufordern,

7. gegenüber der türkischen Regierung die Notwendigkeit zu betonen, die öffent-
liche und kritische Aufarbeitung der Geschichte des Landes aktiv zu unterstüt-
zen und sich dafür einzusetzen, dass nicht nur die Akten des Osmanischen Rei-
ches zu dieser Frage allgemein öffentlich zugänglich gemacht werden, sondern
auch die von Deutschland der Türkei übergebenen Kopien aus dem Archiv des
Auswärtigen Amts,

8. dabei mitzuhelfen, dass die Türkei und Armenien ihre früheren Bemühungen
zur Normalisierung der zwischenstaatlichen Beziehungen wieder aufnehmen.

Berlin, den 17. März 2015

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

Begründung

Vor 100 Jahren, am 24. April 1915, wurde auf Befehl der alleinherrschenden jungtürkischen Regierungspartei,
des „Komitees für Einheit und Fortschritt“ (türkisch „Ittihad ve Terakki Cemiyeti“), die armenische politische
und kulturelle Elite Istanbuls verhaftet, verschleppt und zum großen Teil ermordet. Die Verhaftungen bildeten
den Auftakt der staatlich geplanten und organisierten Massenvernichtung der armenischen Bevölkerung, aber
auch von anderen Bevölkerungsgruppen wie der aramäisch-assyrischen und chaldäischen Christen. Seitdem
gilt der 24. April als Gedenktag der Armenierinnen und Armenier in aller Welt an diesen Völkermord.

Die in der osmanischen Armee dienenden armenischen Soldaten wurden bei Kriegseintritt des Osmanischen
Reichs auf Seiten der Mittelmächte (Deutschland, Österreich-Ungarn) in Arbeitsbataillonen zusammengefasst
und wie die übrige männliche Bevölkerung im wehrfähigen Alter mehrheitlich ermordet. Armenische Frauen,
Kinder und Alte wurden ab Frühjahr 1915 nicht nur aus den frontnahen Gebieten im Osten, sondern aus Ge-
samtanatolien deportiert und auf Todesmärsche durch die syrische Wüste geschickt. Die Flüchtlingstrecks wa-
ren häufig das Ziel von vorab informierten Banden, die die Deportierten zum Teil unter Beteiligung der sie
anzeiger Verlag GmbH, Postfach 10 05 34, 50445 Köln, Telefon (02 21) 97 66 83 40, Fax (02 21) 97 66 83 44, www.betrifft-gesetze.de

Drucksache 18/4335 – 4 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode
begleitenden Wachmannschaften ausplünderten und niedermetzelten. Minderjährige Mädchen und Jungen
wurden hierbei oft entführt und versklavt. Sofern die Deportierten die vorgesehenen Verbannungsorte in der
syrischen Wüste überhaupt erreichten, waren dort keinerlei Vorkehrungen für ihre Ansiedlung getroffen wor-
den. Die entkräfteten und von Krankheiten gezeichneten Menschen wurden in verlassenen Karawansereien und
primitiven Zeltlagern konzentriert und ohne ausreichende Nahrung und sauberes Trinkwasser sich selbst über-
lassen. In der Schlussphase des Völkermords fanden in den Lagern systematische Massentötungen durch eigens
dafür aufgestellte Spezialeinheiten statt, die meist aus zuvor amnestierten Gewaltverbrechern und Angehörigen
von bestimmten Bevölkerungsgruppen (vor allem Kurden, Tschetschenen und Tscherkessen) rekrutiert worden
waren. Viele Gebiete, aus denen die armenische Bevölkerung vertrieben worden war, wurden mit bislang no-
madisch lebenden Kurden und muslimischen Flüchtlingen der Balkankriege besiedelt, die in großer Zahl in das
Osmanische Reich strömten.

Das Deutsche Reich war als militärische Schutzmacht und Hauptverbündeter des Osmanischen Reichs tief in
die Verbrechen involviert. Trotz frühzeitiger und lückenloser Informationen der politischen und militärischen
Führung über das Massensterben der Deportierten intervenierte die deutsche Reichsregierung nicht mit Nach-
druck bei ihrem osmanischen Verbündeten, um die Vernichtung der armenischen Bevölkerung abzuwenden.
Fallweise wurden Deportationsbefehle der jungtürkischen Regierung auch durch im Osmanischen Reich stati-
oniertes deutsches Militär mit unterzeichnet und lokale armenische Aufstandsversuche gegen die Deportatio-
nen mit deutscher Hilfe militärisch niedergeschlagen. Deutsche Unternehmen wie die Philipp Holzmann AG
setzten beim Bau der Bagdad-Bahn zehntausende armenische Zwangsarbeiter ein, die sie sich kostenlos von
der osmanischen Armee „ausliehen“ und anschließend in den sicheren Tod schickten. Die Deutsche Bank AG
und die Victoria Versicherungs-AG profitierten von den Vermögenseinlagen und Versicherungspolicen der
armenischen Bevölkerung. Darüber hinaus gewährte Berlin nach Kriegsende trotz mehrmaliger Auslieferungs-
ersuchen der Türkei führenden Verantwortlichen des Völkermords, darunter der frühere osmanische Innenmi-
nister und Großwesir (Ministerpräsident), Talaat Pascha, politisches Asyl und Schutz vor internationaler Straf-
verfolgung.

Den Deportationen und Massenmorden fielen nach unabhängigen Berechnungen bis zu 1,5 Millionen Armeni-
erinnen und Armenier zum Opfer. Die Rechtsnachfolgerin des Osmanischen Reichs, die Republik Türkei,
räumt zwar ein, dass die Deportation eine große menschliche Tragödie bedeutete, bestreitet jedoch bis heute
entgegen der Faktenlage, dass das Massensterben und die Massaker von der osmanischen Regierung geplant
gewesen wären. Die zugegebene Härte gegen die armenische Bevölkerung wurde stets damit gerechtfertigt,
dass viele Armenier im Ersten Weltkrieg auf Seiten Russlands gegen das Osmanische Reich gekämpft haben.

Vor diesem Hintergrund sprach der damalige Ministerpräsident und amtierende Staatspräsident der Türkei
2014 zwar am Vortag des Gedenkens den Hinterbliebenen der Opfer sein Mitgefühl aus und bezeichnete die
Maßnahmen gegen die Armenierinnen und Armenier als „unmenschlich“. Er bestritt jedoch bislang stets den
Völkermordcharakter der Verbrechen. Auf zivilgesellschaftlicher Ebene, in der Wissenschaft und in den Me-
dien sind seit einigen Jahren hingegen deutliche Fortschritte bezüglich einer kritischeren Geschichtsbetrach-
tung festzustellen. Auch die unzureichende juristische und politische Aufarbeitung des Mordes an dem tür-
kisch-armenischen Journalisten und Schriftsteller Hrant Dink hat dazu beigetragen, die türkische Zivilgesell-
schaft zu einer Debatte über das Schicksal der Armenierinnen und Armenier aufzurütteln. Die vollständige
Gewährung der Presse- und Meinungsfreiheit, insbesondere auch für die Kritikerinnen und Kritiker der staat-
lichen Geschichtsdoktrin, bleibt deshalb ein Prüfstein für die Fortführung des Demokratisierungsprozesses in
der Türkei und für die EU-Beitrittsreife des Landes.

Der Deutsche Bundestag hat sich 2005 zum 90. Jahresgedenken in einem Antrag dafür ausgesprochen, über
die Verbrechen aufzuklären und zur Versöhnung zwischen Türken und Armeniern beizutragen. Dieser Auftrag,
zum Beispiel im Rahmen des staatlichen Bildungssystems allen Schülerinnen und Schülern Kennnisse über die
historischen Tatsachen und ihre politischen Hintergründe zu vermitteln, blieb bis heute unerfüllt. Damit wird
dieses Kapitel der Geschichte auch in Deutschland nicht angemessen aufgearbeitet.

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