BT-Drucksache 18/4327

Gesundheit für alle ermöglichen - Gerechtigkeit und Teilhabe durch ein modernes Gesundheitsförderungsgesetz

Vom 18. März 2015


Deutscher Bundestag Drucksache 18/4327
18. Wahlperiode 18.03.2015
Antrag
der Abgeordneten Kordula Schulz-Asche, Maria Klein-Schmeink, Dr. Harald
Terpe, Elisabeth Scharfenberg, Dr. Franziska Brantner, Katja Dörner, Kai
Gehring, Ulle Schauws, Tabea Rößner, Doris Wagner, Beate Walter-Rosenheimer,
Dr. Thomas Gambke, Markus Kurth, Beate Müller-Gemmeke, Brigitte Pothmer,
Corinna Rüffer, Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Gesundheit für alle ermöglichen – Gerechtigkeit und Teilhabe
durch ein modernes Gesundheitsförderungsgesetz

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Ein gesundes und langes Leben wünschen wir uns alle. Wir wissen, dass gesunde
Ernährung, mehr Bewegung und eine gute Stressbewältigung dazu beitragen, lange
gesund zu bleiben und bis ins hohe Alter mobil zu sein. Doch was sich so einfach
anhört, ist im Alltag mit Zeitdruck und Hektik in der Schule, am Arbeitsplatz, bei
der Kindererziehung oder dem intensiven Pflegen von Angehörigen oft schwer um-
setzbar.

Zudem beeinflusst die soziale Lage unser Wohlergehen. Geringe Bildung sowie ge-
ringes Einkommen, schlechte Wohnverhältnisse und fehlende soziale Teilhabe wir-
ken sich negativ auf unsere Gesundheit aus. Wer weniger hat, stirbt früher: In
Deutschland sterben ärmere Männer 10,8 Jahre früher als Wohlhabende; bei Frauen
beträgt der Unterschied 8,4 Jahre. Um der bestehenden sozialen Ungleichheit von
Gesundheitschancen entschieden entgegenzuwirken, kommt guter Gesundheitsför-
derung eine besondere Bedeutung zu.

Gesundheitsförderung setzt darauf, die Kompetenzen, das Selbstwertgefühl und die
Selbstachtsamkeit der Menschen zu steigern und die aktive Teilhabe und Teilnahme
an der Gestaltung der eigenen Umwelt zu ermöglichen. Gesundheitsförderung um-
fasst somit die nichtmedizinische, ganzheitliche individuelle und soziale Primärprä-
vention und stößt Veränderungsprozesse mit allen Beteiligten dort an, wo sie leben,
lernen und arbeiten. Das Ziel ist, das Wohlbefinden zu steigern, Gesundheitsrisiken
zu reduzieren und damit letztendlich Krankheiten zu vermeiden.

Der Bundesregierung gelingt es im Gesetzentwurf nicht, die Weichen für diesen
grundlegenden Ansatz zu stellen. Mit der beliebigen Verwendung der unterschiedli-
chen Präventionsarten und der Vermengung der Begrifflichkeiten trägt sie zur Ver-
wirrung bei. Bei Gesundheitsförderung geht es – im Gegensatz zum medizinischen
Präventionsbegriff – um viel mehr als nur um einzelne Krankheiten, deren Verhin-

Drucksache 18/4327 – 2 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode
derung, deren Früherkennung oder deren Behandlung. Diese medizinischen, kurati-
ven, rehabilitativen bzw. pflegerischen Ansätze sind bereits Teil des Leistungsange-
bots der Sozialversicherungen und bedürfen keiner weiteren Regelung.

Obwohl Gesundheitsförderung ein zentrales Handlungsfeld der Gesundheitspolitik
darstellen müsste, hatte sie in den letzten Jahren nicht den Stellenwert, den sie ver-
dient. Nach mehr als zehn Jahren und drei gescheiterten Gesetzesanläufen legt die
Bundesregierung nun ein Präventionsgesetz vor. Dieses wird jedoch kaum wirken.
Der Gesetzentwurf versäumt es, Gesundheitsförderung als gesamtgesellschaftliche
Aufgabe zu verstehen, zu organisieren und in den Alltagswelten der Bürgerinnen
und Bürgern dauerhaft zu verankern. Die Bundesregierung wird weder den Be-
schlüssen des Bundesrates (Drucksache 753/12, 217/13 (B), 17/14791, 640/14) noch
den gesundheitspolitischen Möglichkeiten und Erfordernissen, die u. a. der Sachver-
ständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen in seinen Gut-
achten (SVR 2007: Kooperation und Verantwortung – Voraussetzung einer zielori-
entierten Gesundheitsversorgung, SVR 2005: Koordination und Qualität im Gesund-
heitswesen) verdeutlicht hat, gerecht. Dazu gehört u. a. die Einbeziehung der Ge-
samtgesellschaft und aller Sozialversicherungsträger.

Im Gegensatz zur Bundesregierung setzen wir bei der Ausrichtung der Gesundheits-
förderungspolitik auf Chancengerechtigkeit, Alltagsweltbezug, Partizipation, Lang-
fristigkeit sowie die Einbeziehung der wesentlichen Akteure, einschließlich der Bür-
gerinnen und Bürger selbst. Wir wollen allen Menschen ermöglichen, das Wissen,
die Kompetenz und die Gelegenheit zu haben, ein gesundes Leben zu führen.

Unsere Umwelt ist unserer Gesundheit Schmied. Deshalb sind individuelle, zeitlich
begrenzte Kursangebote allein nicht zielführend. Was wir brauchen, sind langfristige
Maßnahmen, die zur Verbesserung der Alltagswelten wie Kita, Schule, Unterneh-
men, Senioreneinrichtung oder Stadtteil beitragen, die gemeinsam mit den Bürge-
rinnen und Bürgern erarbeitet und realisiert werden. Durch eine langfristige Integra-
tion der Programme und der Finanzierung der Gesundheitsförderung in den Alltags-
welten wollen wir der bisherigen oft nur Marketing-gesteuerten Projektitis von Kran-
kenkassen ein Ende setzen.

Wir wollen, dass dort, wo die Menschen zusammen kommen und die meiste Zeit
ihres Lebens verbringen, gesundheitsförderliche Angebote gebündelt bzw. opti-
miert, die Zusammenarbeit der Akteure (Leistungserbringer, Kostenträger, Kommu-
nen und Landkreise, Kammern, Jobcenter, Patientenvertretungen, Bürgerinnen und
Bürger etc.) ermöglicht und nachhaltige Strukturen gerade auch auf kommunaler
Ebene geschaffen werden. Dabei ist an Vorhandenes anzuknüpfen, wie beispiels-
weise eine stärkere Kooperation mit der Schulsozialarbeit bzw. der Kinder- und Ju-
gendhilfe oder Programme wie die „Soziale Stadt“. Dabei wollen wir die Kommu-
nen und Kreise in ihren Kompetenzen und ihrer Verantwortung aufwerten.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

einen Gesetzentwurf vorzulegen, der

1. das Ziel hat, die Gesundheit aller zu fördern, und einen tatsächlichen Beitrag
zum Abbau der sozialbedingten ungleichen Gesundheitschancen leistet;

2. Gesundheitsförderung als Entwicklungsprozess versteht, der alle einbezieht und
an der Gestaltung der Alltagswelten beteiligt. In den Alltagswelten sollen mehr
als bisher sozial Benachteiligte, Arbeitslose, Menschen mit Migrationshinter-
grund sowie Menschen mit Beeinträchtigungen beteiligt werden (z. B. in be-
nachteiligten Stadtteilen). Auch Frauen und Männer müssen entsprechend ihrer
unterschiedlichen Lebensphasen angesprochen werden;

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 3 – Drucksache 18/4327
3. darauf hinwirkt, Gesundheitsbelastungen (z. B. Stress, Lärm oder Unfallgefah-

ren) in den Alltagswelten zu senken und gesundheitsfördernde Ressourcen (z. B.
soziale Netzwerke, Bildung, Ernährung und Bewegung) zu stärken;

4. die betriebliche Gesundheitsförderung besonders in kleinen und mittleren Be-
trieben verbessert und somit auch die Angebote der betrieblichen Gesundheits-
förderung für ältere und weibliche Beschäftigte ausweitet;

5. die Entwicklung nationaler Gesundheitsförderungsziele gemeinsam von Bund,
Ländern und den Sozialversicherungen vorsieht. Auf dieser Basis werden ge-
sundheitsförderliche Maßnahmen in ihrer Wirksamkeit, Erreichbarkeit und
Qualität vergleich- und evaluierbar;

6. zur besseren Steuerung, Koordination und Umsetzung von Gesundheitsförde-
rung im Bund und in den Ländern und Kommunen beiträgt. Dabei soll sicher-
gestellt werden, dass an bereits etablierte und bewährte Koordinierungsstruktu-
ren für Gesundheitsförderung angeknüpft wird;

7. ein Konzept für eine regional gesteuerte und partizipative Mittelvergabe vorlegt;
8. die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung zu einem nationalen Kom-

petenzzentrum für Qualität und Qualitätssicherung für die Gesundheitsförde-
rung ausbaut;

9. die Gesundheitsberichterstattung des Bundes, der Länder und der Kommunen
kontinuierlich zur Planung und Bewertung von Instrumenten und Maßnahmen
nutzbar macht;

10. die Forschung in den Alltagswelten ausbaut, um zu einer ständigen Verbesse-
rung der Qualität und Wirksamkeit von gesundheitsförderlichen Maßnahmen
beizutragen;

11. Gesundheitsförderung auf eine breite Finanzierungsbasis unter Einbeziehung al-
ler Sozialversicherungsträger, der privaten Kranken- und Pflegeversicherungen
sowie von Bund, Ländern und Kommunen stellt.

12. Das Finanzvolumen soll über die von der Bundesregierung geplante Erhöhung
bis 2020 um weitere 40 % (das bedeutet z. B. für die gesetzliche Krankenversi-
cherung einen Anstieg von 7 auf 10 Euro pro Versicherten und Jahr) anwachsen.
Diese Erhöhung soll ausschließlich zu Gunsten der Gesundheitsförderung in den
Alltagswelten erfolgen – und in dauerhafte Strukturen fließen.

Berlin, den 17. März 2015

Katrin Göring-Eckardt, Dr. Anton Hofreiter und Fraktion

Begründung

Gesundheitsförderung und Prävention in Deutschland – Istzustand

Das deutsche Gesundheitssystem hat gravierende Schwächen: Es ist ein riesiger Reparaturbetrieb zur Behand-
lung von Krankheiten, orientiert sich zu wenig an den tatsächlichen Bedürfnissen der Bürgerinnen und Bürger
und vernachlässigt eine nachhaltige, partizipative und inklusive Gesundheitsförderung. Das Verhältnis von
Gesundheit und Gesellschaft bedarf aus unserer Sicht einer Abkehr von der nur auf Krankheiten ausgerichteten
Gesundheitspolitik.
anzeiger Verlag GmbH, Postfach 10 05 34, 50445 Köln, Telefon (02 21) 97 66 83 40, Fax (02 21) 97 66 83 44, www.betrifft-gesetze.de

Drucksache 18/4327 – 4 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode
Die Gesundheitsförderung in Deutschland bleibt deutlich hinter den internationalen Standards zurück. Präven-
tionsbemühungen sind hauptsächlich an verhaltensbedingten Krankheitsrisiken wie Fehlernährung, Bewe-
gungsmangel oder Suchtmittelmissbrauch orientiert und versuchen, Verhaltensänderung mittels Informations-
vermittlung oder Bonusprogrammen zu erreichen. Der Fokus ist dabei auf das Verhalten der Einzelnen be-
schränkt. Prävention wird zudem fast ausschließlich den Krankenkassen überlassen, die Präventionspro-
gramme vor allem auch als Wettbewerbsinstrument nutzen. Der größte Anteil der Ausgaben der Krankenkas-
sen, ca. 164 Millionen Euro, entfällt auf Bonusprogramme für gesundheitsbewusstes Verhalten (individuelle
Präventionsangebote), nicht auf Angebote in Alltagswelten (ca. 28 Millionen Euro), die nachweislich erfolg-
versprechender sind.

Bedauerlicherweise ist das schwarz-rote Präventionsgesetz erneut von einem engen Verständnis von Präven-
tion geprägt, welches überwiegend auf individuelle Verhaltensänderungen und risikopräventive Leistungen
abzielt.

Gesundheitsförderung und Prävention in Deutschland – Was jetzt zu tun ist

Wir wollen die Gesundheit der Menschen und ihre (Gesundheits-)Kompetenzen stärker in den Fokus rücken.
Dabei setzen wir auf eine Gesundheitsförderungspolitik, die über den Gesundheitsbereich weit hinausgeht und
Sozial-, Arbeitsmarkt-, Bildungs-, Verbraucherschutz- und Umweltpolitik etc. miteinbezieht.

1986 hat die UN mit der Ottawa-Charta einen breiteren Ansatz der Gesundheitsförderung gefordert. Gesundheit
ist mehr als die Abwesenheit von Krankheit. Gesundheit umfasst sowohl „körperliches als auch geistig-seeli-
sches und soziales Wohlbefinden sowie die Fähigkeit zur aktiven Bewältigung der Anforderungen in den ver-
schiedenen Bereichen der Lebens- und Arbeitswelt, den eigenen Bedürfnissen und den gesellschaftlichen An-
sprüchen entsprechend.“

Dies sollte jedoch nicht als isolierte Aufgabe des Gesundheitssektors, sondern – wie es auch die Ottawa-Charta
fordert – als eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe verstanden werden und Maßnahmen in den alltäglichen
Lebenswelten der Menschen umgesetzt werden: in Kindergärten, in Schulen, am Arbeitsplatz, in Seniorenein-
richtungen oder auch im Stadtteil. Es ist leichter sich zu bewegen, wenn das Wohnumfeld bewegungsfreundli-
cher gestaltet ist, beispielsweise durch Fahrradwege oder Spielplätze. Das kann man in gemeinschaftlichen
Aktivitäten auf der kommunalen Ebene erreichen. Es ist leichter, dem Stress bei der Arbeit etwas entgegenzu-
setzen, wenn die Unternehmenskultur sowie Arbeitsabläufe gut organisiert sind, flexible Arbeitszeiten ermög-
lichen und kollegiale Hilfen verfügbar sind. Das erreicht man zusammen mit allen Beteiligten im Betrieb.

Während die Ottawa-Charta als Umsetzungsstrategie der Gesundheitsförderung vom Lebensweltenansatz
spricht, verwenden wir den Begriff Alltagswelten. Damit verbinden wir auch den Anspruch der direkten Mit-
gestaltung dieser Alltagswelten durch Bürgerinnen und Bürger. Mitgestaltung ist ein Schlüssel für eine gelin-
gende Gesundheitsförderung. Für uns ist ein selbstgestaltetes Programm, welches mit allen Akteuren vor Ort
mit Begeisterung gelebt wird, wichtiger als seine Perfektion.

Die Zukunft der Gesundheitsförderung wird mit den Bürgerinnen und Bürgern in den Kommunen gestaltet. In
den Kommunen laufen die Fäden zusammen. Vor Ort werden die Grundlagen für ein gesundes Aufwachsen
und ein selbstbestimmtes Leben bis ins hohe Alter gelegt. Statt wie die Große Koalition die Kommunen und
Kreise als selbstverwaltete Organe der Bürgerinnen und Bürger zu entmündigen, wollen wir Gesundheitsför-
derungsnetzwerke mit nachhaltigen Strukturen aufbauen bzw. vorhandene Strukturen (beispielsweise regionale
bzw. kommunale Gesundheitskonferenzen) stärken. Dabei sind die Kommunen und Kreise zuständig für die
Kinder- und Jugendhilfe, Sozialhilfe sowie Quartiersmanagement und für die Wirksamkeit des Öffentlichen
Gesundheitsdienstes. Vernetzen und Verbinden tragen zum Erfolg von Gesundheitsförderung vor Ort bei. Wir
wollen bestehende Netzwerke, Angebote sowie Akteure so zusammenzuführen, damit ein untereinander abge-
stimmtes Handeln im Rahmen einer integrierten kommunalen Gesamtstrategie möglich wird.

x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.