BT-Drucksache 18/3292

Einbindung libyscher Militär- und Polizeibehörden in die Überwachungssysteme "Seepferdchen Mittelmeer" und EUROSUR

Vom 20. November 2014


Deutscher Bundestag Drucksache 18/3292
18. Wahlperiode 20.11.2014
Kleine Anfrage
der Abgeordneten Andrej Hunko, Wolfgang Gehrcke, Christine Buchholz,
Annette Groth, Ulla Jelpke, Kerstin Kassner, Dr. Alexander S. Neu, Kathrin Vogler,
Jörn Wunderlich und der Fraktion DIE LINKE.

Einbindung libyscher Militär- und Polizeibehörden in die Überwachungssysteme
„Seepferdchen Mittelmeer“ und EUROSUR

Nach fünfjähriger Vorbereitungszeit nahm die Europäische Union dieses Jahr ihr
Grenzüberwachungssystem EUROSUR in Betrieb. Zunächst werden „nationale
Kontrollzentren“ (NKZ) von 19 Mitgliedstaaten der Europäischen Union (EU)
untereinander vernetzt. Hierzu gehören unter anderem alle Mittelmeeranrainer
sowie jene Staaten mit einer östlichen Außengrenze plus Norwegen als im
Schengener Abkommen assoziiertes Land. Im Dezember 2014 sollen dann alle
übrigen EU-Mitglieder folgen, zuzüglich Island, der Schweiz und Liechtenstein.
Als Hauptquartier fungiert die Europäische Agentur für die operative Zusam-
menarbeit an den Außengrenzen der Mitgliedstaaten der EU FRONTEX mit Sitz
in Warschau, wo in einer neuen Kommandozentrale jeder Vorfall an einer
EU-Außengrenze grafisch angezeigt wird (www.youtube.com/watch?v=otm56
hNKOzA#t=51). Die Modernisierung der NKZ sowie die Einrichtung der Kom-
mandozentrale in Warschau wurden von der EU mit rund 244 Mio. Euro geför-
dert.
Um auch Länder des Arabischen Frühlings in die EU-Migrationsabwehr zu
integrieren, errichtet die Regierung Spaniens das grenzpolizeiliche Über-
wachungsnetzwerk „Seepferdchen Mittelmeer“ („Seahorse Mediterraneo“). Am
von der spanischen Guardia Civil geführten Projekt wollen die meisten Mit-
gliedstaaten der EU teilnehmen, die eine Außengrenze am Mittelmeer haben
(Frankreich, Italien, Malta, Griechenland und Zypern). Das Projekt folgt einem
bereits existierenden Netzwerk „Seepferdchen Atlantik“ („Seahorse Atlantic“),
das ebenfalls unter spanischer Leitung steht. Auch Mauretanien, Marokko, Se-
negal, Gambia, Guinea-Bissau und die Kapverden sind mit „Koordinierungs-
zentren“ angeschlossen (Schriftliche Anfrage an die Europäische Kommission,
Drucksache des Europäischen Parlaments E-000331/2014 vom 7. März 2014).
Die afrikanischen Länder erhielten hierfür 1 373 000 Euro aus EU-Mitteln
(80 Prozent) bzw. aus Spanien (20 Prozent). Das „regionale Koordinierungszen-
trum“ (RKZ) in Spanien kostet 1 838 000 Euro und wird ebenso zu 80 Prozent
von der EU gefördert.
In Italien und Malta sollen nach spanischem Vorschlag für „Seepferdchen Mit-
telmeer“ zwei RKZ eingerichtet werden, die an dort existierenden EUROSUR-
NKZ angebunden werden (Ratsdok. 15906/12). In der neueren Antwort der
Europäischen Kommission heißt es, lediglich in Italien würde ein RKZ einge-
richtet. „Seepferdchen Mittelmeer“ soll ab 2015 in Betrieb genommen werden,
die technische Ausstattung erfolgt nach einer öffentlichen Ausschreibung im
Jahr 2014 (Kommissionsdokument COM(2013) 869 final vom 4. Dezember

Drucksache 18/3292 – 2 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode
2013). Anschließend sollen alle teilnehmenden Staaten „direkte Informationen
über Zwischenfälle und Patrouillen per Satellitenkommunikation in Beinahe-
Echtzeit austauschen“.
In den Ausführungen des Europäischen Auswärtigen Dienstes (EAD) heißt es,
das „Seepferdchen“-Programm zur Grenzüberwachung des Mittelmeers sei ein-
gerichtet worden, um „die Kapazitäten von Behörden in Ländern Nordafrikas
zur Beantwortung irregulärer Migration zu stärken“ (www.ffm-online.org/wp-
content/uploads/2013/11/EUBAMRapport-2013-04.pdf). Vor zwei Jahren hat
Libyen eine Erklärung unterzeichnet, wonach das Land mit seiner Marine und
seiner Küstenwache an „Seepferdchen Mittelmeer“ mitarbeiten will und hierfür
NKZ in Benghasi und Tripolis einrichtet (Bundestagsdrucksachen 17/11986 und
18/1796). Beide Behörden unterstehen dem dortigen Verteidigungsministerium.
Alle zukünftig ebenfalls interessierten afrikanischen Länder sollen als Anreiz in
der Errichtung notwendiger technischer Systeme unterstützt werden. Weitere
Anstrengungen von „Seepferdchen Mittelmeer“ sollten laut dem Rat der Euro-
päischen Union darin münden, auch andere „relevante Staaten“ Nordafrikas zur
Teilnahme zu bewegen. Genannt werden Tunesien, Algerien und Ägypten. Laut
der Europäischen Kommission sei dies im Frühjahr 2014 aber noch nicht umge-
setzt worden. Entsprechende Anstrengungen werden auch vom EAD ange-
mahnt.
Das „Seepferdchen“-System ist laut der Bundesregierung mit dem EU-Über-
wachungsnetzwerk EUROSUR „kompatibel“ und kann dort „integriert werden“
(Bundestagsdrucksache 17/11986). Sowohl die Europäische Kommission als
auch die Bundesregierung haben aber stets bestritten, dass Libyen oder andere
nordafrikanischen Länder direkt oder indirekt über „Seepferdchen Mittelmeer“
an EUROSUR angeschlossen werden könnten. Zwischen dem Kontrollzentrum
in Benghasi und „Seepferdchen Mittelmeer“ gebe es keinen Informationsaus-
tausch. Aus dem Kommissionsdokument SWD(2014) 173 final zur Umsetzung
von Maßnahmen einer „Task Force Mittelmeer“ vom 22. Mai 2014 geht jedoch
hervor, dass Informationen aus den libyschen Kontrollzentren von „Seepferd-
chen Mittelmeer“ in Benghasi und Tripolis durchaus in EUROSUR einfließen
sollen. Als vermittelnde Stelle dienen die NKZ jener EU-Staaten, die an
„Seepferdchen Mittelmeer“ teilnehmen („[…] information transfer between
EUROSUR and SHM [(„Seahorse Mediterraneo“] via the EUROSUR national
coordination centres of the above mentioned Member States“). Mit dem liby-
schen Militär sei vereinbart worden, im April 2014 eine Ausschreibung für eine
„gemeinsame Infrastruktur“ zu veröffentlichen. Hierzu gehöre demnach sowohl
die Ausrüstung als auch die Beschaffung von Hard- und Software. Entspre-
chende Vorhaben würden in einem „Steering Committee“ behandelt, das sich im
April 2014 in Madrid getroffen habe. Aus dem von der britischen Bürgerrechts-
organisation Statewatch veröffentlichten Ratsdokument 13829/14 geht hervor,
dass auch die von der EU lancierte Mission EUBAM Libyen zur Ausbildung
libyscher Militär- und Polizeibehörden am Aufbau von „Seepferdchen Mittel-
meer“ mitgeholfen hat. Die EU-Grenzagentur FRONTEX war demnach eben-
falls daran beteiligt.
Laut dem Kommissionsdokument SWD(2014) 173 final soll auch Tunesien mit
„Schiffen, Fahrzeugen, technischer Ausrüstung und Trainings“ aus EU-Mitteln
unterstützt werden. Ein ähnliches Projekt sei für Ägypten „in der Pipeline“. Mit
anderen afrikanischen Ländern sei eine „Verbesserung des Austauschs von Auf-
klärungsdaten“ angestrebt.
Die Sicherheitslage in Libyen ist nicht erst seit der Intervention der NATO und
anderer Staaten im Jahr 2011 äußerst prekär. Nach neueren Kämpfen von Mili-
zen, die teilweise auch innerhalb von EUBAM Libyen ausgebildet wurden, sind
die Regierung und das Parlament handlungsunfähig. Die EU hat sich deshalb
entschlossen, alle Angehörigen von EUBAM nach Tunesien und Malta zu ver-

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 3 – Drucksache 18/3292
legen, die gesamte Maßnahme ist aber nicht beendet. Einige Aspekte der Teil-
nahme des Landes an „Seepferdchen Mittelmeer“ dürften deshalb ebenfalls auf
Eis gelegt worden sein. Die Fragesteller bitten darum, bei den Antworten auf
diese Kleine Anfrage zu berücksichtigen, wie die erfragten Maßnahmen ur-
sprünglich geplant waren und inwiefern deren Umsetzung durch die gegenwär-
tige Situation tangiert ist.

Wir fragen die Bundesregierung:
1. Inwiefern verfügt die Bundesregierung aus Ratsarbeitsgruppen, Mitteilungen

der Europäischen Kommission, dem Vorsitz im FRONTEX-Verwaltungsrat,
Medienberichten oder eigenen Erkenntnissen mittlerweile über neuere Infor-
mationen zu „Seepferdchen Mittelmeer“ (Bundestagsdrucksachen 17/11986
und 18/1796)?

2. Was ist der Bundesregierung über die Ergebnisse einer Ausschreibung zur
technischen Ausstattung von NKZ und RKZ für „Seepferdchen Mittelmeer“
bekannt?

3. Inwieweit ist nach Kenntnis der Bundesregierung in „Seepferdchen Mittel-
meer“ auch der polizeiliche Datentausch mit den Mitgliedstaaten der EU vor-
gesehen?

4. Was ist der Bundesregierung mittlerweile darüber bekannt, warum sich
Libyen zur Mitarbeit an „Seepferdchen Mittelmeer“ entschloss?

5. Was ist der Bundesregierung mittlerweile darüber bekannt, inwiefern Infor-
mationen aus den libyschen Kontrollzentren von „Seepferdchen Mittelmeer“
in Benghasi und Tripolis entgegen ihrer anderslautenden Mitteilungen durch-
aus in EUROSUR einfließen sollten bzw. sollen, indem als vermittelnde
Stelle NKZ jener EU-Staaten dienen, die an „Seepferdchen Mittelmeer“
teilnehmen („[…] information transfer between EUROSUR and SHM
[„Seahorse Mediterraneo“] via the EUROSUR national coordination centres
of the above mentioned Member States“)?

6. Auf welche Weise und mit welchem Personal wollte bzw. will Libyen nach
Kenntnis der Bundesregierung in „Seepferdchen Mittelmeer“ mitarbeiten?

7. Inwiefern war oder ist für „Drittstaaten“, wie Libyen, die Entsendung von
„Verbindungsbeamten“ in NKZ oder RKZ von „Seepferdchen Mittelmeer“
vorgesehen?

8. Wo sollten bzw. sollen für „Seepferdchen Mittelmeer“ sowohl innerhalb der
EU als auch in Libyen NKZ aufgebaut werden?
a) Welche vorhandenen Aufklärungskapazitäten der EU und ihrer Mitglied-

staaten sollen hierfür genutzt werden?
b) Welche Aufklärungskapazitäten Libyens sollen hierfür genutzt werden?

9. Inwiefern ist die Teilnahme Algeriens, Ägyptens und Tunesiens an „See-
pferdchen Mittelmeer“ nach Kenntnis der Bundesregierung weiterhin vorge-
sehen?
a) Was ist der Bundesregierung über Anstrengungen der Regierungen Spa-

niens, Italiens und Frankreichs hierzu bekannt?
b) Welche Gespräche haben hierzu stattgefunden, und wer war daran betei-

ligt?
c) Aus welchem Grund haben die Länder Algerien, Ägypten und Tunesien

nach Kenntnis der Bundesregierung die Zusammenarbeit in „Seepferd-
chen Mittelmeer“ verweigert?

Drucksache 18/3292 – 4 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode
d) Inwiefern hat sich auch die Bundesregierung mittlerweile gegenüber Tu-
nesien dafür eingesetzt, an „Seepferdchen Mittelmeer“ teilzunehmen?

10. Wie wurde bzw. wird Libyen nach Kenntnis der Bundesregierung in der Er-
richtung notwendiger technischer Systeme für „Seepferdchen Mittelmeer“
von der EU unterstützt?
a) Welche Fonds der EU werden hierfür genutzt?
b) Inwiefern trifft es zu, dass auch das für afrikanische Länder bestimmte

Programm „Europe Aid“, das eigentlich zur Armutsbekämpfung einge-
richtet wurde, für Kosten innerhalb von „Seepferdchen Mittelmeer“ ge-
nutzt werden kann?

11. Auf welche Weise bzw. mit welchem Inhalt ist „Seepferdchen Mittelmeer“
auf dem jüngsten G6-Treffen angesprochen worden (www.tinyurl.com/
mcm55xo)?

12. Was ist der Bundesregierung darüber bekannt, inwiefern die von der EU lan-
cierte Mission EUBAM Libyen zur Ausbildung libyscher Militär- und Poli-
zeibehörden am Aufbau von „Seepferdchen Mittelmeer“ mitgeholfen hat?

13. Auf welche Weise war oder ist die EU-Grenzagentur FRONTEX nach
Kenntnis der Bundesregierung an der Planung von „Seepferdchen Mittel-
meer“ beteiligt?

14. Über welche neueren Erkenntnisse verfügt die Bundesregierung aus Dis-
kussionen in Ratsarbeitsgruppen, Berichten aus Brüssel, ihrer Mitarbeit im
FRONTEX-Verwaltungsrat oder anderen Quellen über den Stand der Ver-
handlungen eines Arbeitsabkommens zwischen FRONTEX und Tunesien,
Marokko, Libyen und Ägypten bekannt (Bundestagsdrucksache 18/3024)?

15. Was ist damit gemeint, wenn die Bundesregierung erklärt, dass FRONTEX
„in unterschiedlicher Intensität mit Vertretern dieser Staaten in Verbindung
[steht], um den Verhandlungsprozess zu initiieren bzw. voranzutreiben“
(bitte für die vier Länder einzeln darstellen)?

16. Durch welche Mitgliedstaaten bzw. Agenturen der EU wurde der Bundes-
regierung „bekannt, dass sogenannte Apps von Schleusern existieren, mit
denen Angebote von Booten und Informationen über Bedingungen in ver-
schiedenen Zielländern abgerufen werden können“?

17. Welche Schlussfolgerungen und Konsequenzen zieht die Bundesregierung
bezüglich des Wahrheitsgehalts der Aussage, zumal eine App zu „Ange-
bote[n] von Booten“ weder den Fragestellern noch einer flüchtlingsunter-
stützenden Szene bekannt ist, eine solche aber nach Auffassung der Frage-
steller durchaus geeignet wäre, Überfahrten abzusichern und damit Leben
zu retten?

18. Welche „Anregungen“ aus der Behandlung eines „Optionenpapiers zur EU-
Unterstützung des Grenzmanagements in der Sahelregion“ sollen nach
Kenntnis der Bundesregierung „in einem EU-Aktionsplan konkretisiert“
werden?

19. Um welche konkreten „Optionen“ handelt es sich in dem Papier genau, und
welche davon hat die Bundesregierung „unterstützt“?

20. Inwiefern hat der italienische Ratsvorsitz inzwischen ein überarbeitetes Do-
kument zum Vorschlag einer Errichtung eines Polizeipostens in Libyen oder
Tunesien vorgelegt, und welchen Inhalt hat dieses?

21. Was war der Inhalt des von der Bundesregierung geplanten Ausbildungs-
programms für 200 Angehörige der libyschen Diplomatenpolizei?

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 5 – Drucksache 18/3292
22. Was ist der Bundesregierung darüber bekannt, wozu die „Grundfertigkeiten
und -kenntnisse des Grenzschutzes“ sowie „Grundlagen in den Bereichen
Organisation und Planung sowie der Risikoanalyse“, die libyschen Behör-
den im US-Konsulat in Frankfurt „vermittelt“ wurden und eine „Befragung
und Vernehmung, Durchführung von Grenzstreifen und -kontrollen, Kon-
trolle von Fahrzeugen, Verdeckte und offene Observation, Kontrolle von
Grenzübertrittsdokumenten“ zum Inhalt hatten, von libyschen Militärbe-
hörden überhaupt genutzt werden sollen?

23. Auf welche Weise soll nach Kenntnis der Bundesregierung auch Tunesien
mit „Schiffen, Fahrzeugen, technischer Ausrüstung und Trainings“ aus EU-
Mitteln unterstützt werden?
a) Welches ähnliche Projekt ist für Ägypten „in der Pipeline“?
b) Mit welchen anderen afrikanischen Ländern ist eine „Verbesserung des

Austauschs von Aufklärungsdaten“ angestrebt?
24. Inwiefern verfügt die Bundesregierung mittlerweile über Details zur „EU-

ROSUR Analysis Layer User Group“?
a) Wie kam es zur Gründung der Gruppe, und wer gehört ihr an?
b) Welche Aufgabe hat die Gruppe, und womit befasst sie sich?

25. Was ist der Bundesregierung über die Umsetzung der im Rahmen der „Task
Force Mittelmeer“ geplanten Maßnahmen mit Marokko bekannt?
a) Welche Behörden von welchen Mitgliedstaaten der EU nehmen an „Joint

analysis and police cooperation teams“ mit Marokko teil?
b) Welche Behörden tauschen „Aufklärungsdaten im Bereich Migration“

mit dem marokkanischen National Security General Directorate aus?

Berlin, den 19. November 2014

Dr. Gregor Gysi und Fraktion
anzeiger Verlag GmbH, Postfach 10 05 34, 50445 Köln, Telefon (02 21) 97 66 83 40, Fax (02 21) 97 66 83 44, www.betrifft-gesetze.de

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