BT-Drucksache 18/325

Pläne der Europäischen Union für ein Elektronisches Ein- und Ausreiseregister

Vom 17. Januar 2014


Deutscher Bundestag Drucksache 18/325
18. Wahlperiode 17.01.2014
Kleine Anfrage
der Abgeordneten Ulla Jelpke, Jan Korte, Wolfgang Gehrcke, Sevim Dağdelen,
Annette Groth, Andrej Hunko, Stefan Liebich, Petra Pau, Harald Petzold
(Havelland), Dr. Petra Sitte, Kersten Steinke, Frank Tempel, Jörn Wunderlich und
der Fraktion DIE LINKE.

Pläne der Europäischen Union für ein elektronisches Ein- und Ausreiseregister

Die Europäische Kommission hat am 28. Februar 2013 das so genannte smart
border package, d. h. Vorschläge für eine umfassende elektronische Grenzüber-
wachung mithilfe biometrischer Daten vorgelegt. Das Maßnahmenpaket enthält
den Plan für ein Ein- und Ausreiseregister (Entry/Exit System, EES), mit dem
alle Ein- und Ausreisen von Drittstaatsangehörigen an den EU-Außengrenzen
elektronisch erfasst werden sollen, ein Programm für registrierte Reisende
(Registered Traveller Programme, RTP), das automatisierte biometrische
Grenzkontrollen und schnellere Einreisen für (auf freiwilliger Basis) vorab über-
prüfte Reisende bringen soll, und hieraus resultierende Änderungen des EU-
Grenzkodex.
Mit dem Einreise- und Ausreiseregister sollen das so genannte Außengrenzma-
nagement und die „Bekämpfung der irregulären Migration“ verbessert werden
(vgl. Vorschlag der Europäischen Kommission, Ratsdokument 6928/13). Zur
Begründung wird auf eine große Zahl so genannter overstayer in der EU verwie-
sen, d. h. Drittstaatsangehörige, die legal (mit oder ohne Visum) in die EU ein-
gereist sind und dann über die zulässige Aufenthaltsdauer hinaus ohne Erlaubnis
in der EU verbleiben. Die Zahl der irregulär in der EU lebenden Menschen wird
von der Europäischen Kommission insgesamt auf 1,9 bis 3,8 Millionen ge-
schätzt, mehrheitlich seien dies overstayer.
Der EU-Plan zur Errichtung eines EES wird aus unterschiedlichen Perspektiven
kritisch gesehen. So ist erstens fraglich, ob sich irreguläre Einwanderung durch
eine umfassende (biometrische) Datenerfassung und Datensammlung tatsäch-
lich wirksam verhindern oder beenden lässt. Zwar wird zumindest annäherungs-
weise die Zahl der overstayer bekannt werden, doch nicht jede Überschreitung
der ursprünglich eingeräumten Aufenthaltsdauer weist zwingend auf einen ir-
regulären Aufenthalt hin. Wer bereits mit dem Ziel einreist, ohne Aufenthalts-
titel in der EU verbleiben zu wollen, wird untertauchen und für die Behörden trotz
entsprechender Warnmeldung des EES nicht erreichbar sein. Zweitens drohen
enorme Kosten des technologischen Großprojekts (die Gesamtkosten für EES
und RTP belaufen sich nach der ersten Kommissionsplanung auf 1,1 Mrd. Euro),
die sich vor dem Hintergrund der Erfahrungen etwa mit dem Schengener Infor-
mationssystem SIS II bei entsprechenden technischen Problemen noch verviel-
fachen könnten. Drittens plädiert nach Kenntnis der Fragesteller eine Mehrheit
der Mitgliedstaaten dafür, die Daten des EES von Beginn an auch den Strafver-
folgungsbehörden zugänglich zu machen; andernfalls stünden Kosten und Nut-
zen des Systems in keinem angemessenen Verhältnis. Hierdurch aber würden

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alle in die EU reisenden Drittstaatsangehörigen unter den Pauschalverdacht
schwerer oder terroristischer Gewalttaten gestellt, der angeblich ihre anlasslose
biometrische Totalerfassung rechtfertigen können soll. Die Europäische Kom-
mission will die Frage des Zugangs der Strafverfolgungsbehörden erst nach
einer zweijährigen Testphase entscheiden, doch es steht zu befürchten, dass die
einmal teuer installierte Technik später auf jeden Fall auch für andere als die
ursprünglich vorgegebenen Zwecke genutzt werden wird.

Wir fragen die Bundesregierung:
1. Für wie realistisch hält die Bundesregierung die bisherige Kostenkalkulation

in Bezug auf das EES, auf welche Summe beläuft sich diese derzeit (bitte in-
haltlich so differenziert wie möglich auflisten, EU- bzw. nationale Anteile so-
wie einmalige Investitionen und laufende Kosten getrennt ausweisen, zudem
bitte im Zeitverlauf darstellen), und welche Kostenrisiken sieht die Bundes-
regierung?

2. Wie hoch war die ursprüngliche Kostenkalkulation für das SIS II, wie hoch
waren letztlich die tatsächlichen Kosten (EU- bzw. nationale Anteile sowie
einmalige Investitionen und laufende Kosten bitte getrennt ausweisen, zudem
bitte im Zeitverlauf darstellen), und welche Umstände haben zur Kosten-
steigerung beigetragen?

3. Rechnet die Bundesregierung vor dem Hintergrund der Erfahrungen mit der
Kostensteigerung beim SIS II damit, dass die für das EES derzeit anvisierten
Kosten vermutlich zu niedrig angesetzt sind und noch steigen werden (bitte
begründen), und wenn ja, mit welcher maximalen Höhe rechnet die Bundes-
regierung (bitte begründen)?

4. Inwieweit hat die Bundesregierung bzw. haben andere Mitgliedstaaten der
EU das Projekt des EES aufgrund der voraussichtlichen Kosten in Höhe von
1,1 Mrd. Euro oder aufgrund von Verhältnismäßigkeitserwägungen infrage
gestellt bzw. eine Ablehnung signalisiert oder zum Ausdruck gebracht (bitte
ausführen)?

5. Wie lassen sich die voraussichtlichen Kosten in Höhe von 1,1 Mrd. Euro für
das EES rechtfertigen vor dem Hintergrund, dass nach Auffassung der Frage-
steller der reale Nutzen des EES eher gering sein wird (nach den Vorstellun-
gen der Europäischen Kommission: leichtere Berechnung der zulässigen
Aufenthaltsdauer, Wegfall manuellen Abstempelns, statistische Aussagen
zur Zahl der overstayer; bitte begründen)?

6. Inwieweit trifft es nach Ansicht der Bundesregierung zu, dass das EES nicht
oder allenfalls geringfügig zur Beendigung irregulärer Aufenthalte führen
wird, weil der konkrete Aufenthaltsort untergetauchter Personen nicht durch
eine Warnmeldung des EES über eine Überschreitung der legalen Aufent-
haltsdauer bekannt wird (bitte ausführen) und dass das Ziel besserer statis-
tischer Angaben zur Zahl der overstayer die Einführung des EES nicht recht-
fertigen kann?

7. Inwieweit trifft es nach Ansicht der Bundesregierung zu, dass eine Warnmel-
dung im EES kein ausreichender Hinweis auf eine (vermeintlich) illegale
Überschreitung der Aufenthaltsdauer ist, weil es diverse Fallkonstellationen
gibt, in denen ein ursprünglich nur kurzfristig geplanter Aufenthalt legal ver-
längert werden oder in einen langfristigen Aufenthalt übergehen kann, in
welchen Fallkonstellationen ist dies nach deutschem Recht der Fall (z. B.
plötzliche Erkrankung, Heirat, Arbeitsaufnahme), und welche Vernetzungen
mit anderen Datensystemen über den Aufenthaltsstatus von Drittstaatsange-
hörigen sind in diesem Zusammenhang geplant, um „Fehlmeldungen“ zu
vermeiden?

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8. Inwieweit hat die Bundesregierung die mit dem Berichtsbogen des Bundes-
ministeriums des Innern vom 18. März 2013 zum Vorschlag für eine EES-
Verordnung angekündigte eingehendere Prüfung der Verhältnismäßigkeit
der Regelungen im Einzelnen inzwischen mit welchem Ergebnis vorgenom-
men (bitte detailliert darlegen, und wenn dies nicht erfolgt ist, warum
nicht)?

9. Inwieweit sieht die Bundesregierung angesichts der Verlaufs der Verhand-
lungen auf EU-Ebene die im Berichtsbogen des Bundesinnenministeriums
vom 18. März 2013 zum Vorschlag für eine EES-Verordnung notierten Ziel-
setzungen des besonderen deutschen Interesses (angemessenes Kosten-Nut-
zen-Verhältnis, Gewährleistung des Datenschutzes, Sicherstellung einer
zügigen Grenzabfertigung) als realisierbar bzw. gefährdet an (bitte differen-
ziert nach einzelnen Zielsetzungen darlegen)?

10. Was folgte daraus, dass im Berichtsbogen des Bundesinnenministeriums
vom 18. März 2013 zum Vorschlag für eine EES-Verordnung zu den finan-
ziellen Auswirkungen notiert wurde, dass die von der Europäischen Kom-
mission vorgeschlagene Finanzausstattung kritisch zu sehen sei, und welche
Einschätzung hat die Bundesregierung aktuell zu dieser Frage (bitte dar-
legen)?

11. Mit welcher Begründung haben einzelne Mitgliedstaaten im Rahmen der
Verhandlungen auf EU-Ebene Zweifel am Mehrwert des EES geäußert,
wenn dieses nicht auch von Strafverfolgungsbehörden genutzt werden
könne, und wie ist die Position der Bundesregierung hierzu (bitte aus-
führen)?

12. Wie und mit welcher Begründung haben sich die Mitgliedstaaten und ins-
besondere die Bundesregierung sowie die Europäische Kommission zu der
Frage des Zugangs von Polizei- und Strafverfolgungsbehörden zum EES
positioniert?
a) Bei welchen Deliktsformen, unter welchen Bedingungen und Vorausset-

zungen und in welchem konkreten Verfahren soll ein Zugriff möglich
sein?

b) Soll ein Zugriff von Strafverfolgungsbehörden ab Inkrafttreten des EES
gewährleistet sein, erst nach einer Übergangszeit und einer Verhältnis-
mäßigkeitsprüfung oder gar nicht?

13. Inwieweit ist ein Zugang von Polizei- und Strafverfolgungsbehörden zum
EES, der auf eine biometrische Erfassung aller kurzfristig einreisenden
Drittstaatsangehörigen hinausläuft, vereinbar mit verfassungsgerichtlichen
Vorgaben zur Vorratsdatenspeicherung und dem Grundrecht auf informatio-
nelle Selbstbestimmung sowie mit datenschutzrechtlichen Grundsätzen wie
Zweckbindung, Datensparsamkeit, Erforderlichkeit und anderen?

14. Welche Voraussetzungen, Einschränkungen und Bedingungen müssten
demnach für etwaige Zugriffe von Strafverfolgungsbehörden auf das EES
gelten, und wie vertritt die Bundesregierung diese Auffassung in den ent-
sprechenden Verhandlungen auf EU-Ebene?

15. Wie sind die Fragen 13 und 14 zur Verhältnismäßigkeit, Verfassungsmäßig-
keit und zum Datenschutz zu beantworten, wenn insbesondere auch noch
das Zusammenwirken mehrerer elektronischer Datensysteme berücksich-
tigt wird (z. B. SIS II, VIS, EURODAC), die zusätzlich zum EES Dritt-
staatsangehörige in der EU erfassen?

16. Welche Erfahrungen wurden nach Kenntnis der Bundesregierung bislang
mit dem Zugriff von (Sicherheits-)Behörden auf das Visa-Informationssys-
tem (VIS) zur Verhütung, Aufdeckung oder Ermittlung terroristischer oder

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sonstiger schwerwiegender Straftaten (Artikel 3 der VIS-Verordnung) ge-
macht (bitte auch konkrete Zahlen pro Jahr seit 2008 aufführen)?
a) Wie ist die allgemeine Einschätzung der Bundesregierung zur Nutzung

der Daten aus dem VIS durch Sicherheitsbehörden des Bundes und der
Länder?

b) In welchem Umfang wurden bislang von welchen deutschen Sicherheits-
behörden Daten aus dem VIS abgefragt, und wie viele Treffer gab es da-
bei?

c) Was ist der Bundesregierung zum Umfang der Datenabfrage durch die
Sicherheitsbehörden anderer Teilnehmerstaaten des VIS bekannt (soweit
möglich, nach Staaten und Behörden auflisten)?

d) In wie vielen Fällen gab es durch deutsche Behörden Anfragen an das
VIS, bei denen in dringenden Fällen erst nachträglich das Vorliegen aller
Zugangsvoraussetzungen geprüft wurde (Artikel 3 Absatz 2 Satz 3 der
VIS-Verordnung), und in wie vielen dieser Fälle ergab die nachträgliche
Überprüfung nach Artikel 3 Absatz 2 Satz 4 der VIS-Verordnung, dass
die Zugangsvoraussetzungen nicht vorlagen?

e) In wie vielen Fällen wurden Daten aus dem VIS (insgesamt bzw. durch
deutsche Behörden) an Drittländer oder internationale Organisationen
übermittelt oder ihnen zugänglich gemacht (bitte nach Jahren sowie
Organisationen bzw. Ländern differenzieren)?

17. Welche Überlegungen bestehen innerhalb der Bundesregierung bezüglich
der Sicherheitsbehörden, die Zugriff auf das EES erhalten sollten, und
wären dies, wie im Falle des VIS, ebenfalls neben den Bundesbehörden und
den Bundespolizeidirektionen fast sämtliche Landesämter für Verfassungs-
schutz, Landeskriminalämter, Polizeidirektionen und Staatsanwaltschaften
(vgl. Antwort der Bundesregierung auf Bundestagsdrucksache 17/6223,
Anlage zu Frage 8), insgesamt also 287 Behörden?

18. Welche Erfahrungen wurden bislang mit dem Zugriff von Behörden zur
Verhütung, Aufdeckung oder Ermittlung terroristischer oder sonstiger
schwerwiegender Straftaten auf die EURODAC-Datenbank entsprechend
der geänderten EURODAC-Verordnung vom 26. Juni 2013 gemacht (bitte
die Antwort entsprechend der Antwort zu Frage 16 aufschlüsseln)?

19. Inwieweit sieht die Bundesregierung mögliche (vor allem technische)
Schwierigkeiten für den Aufbau eines EU-weiten EES dadurch, dass die
Mitgliedstaaten mit bereits bestehenden nationalen EES (bitte, soweit nach
Kenntnis der Bundesregierung möglich, auflisten) das Interesse haben, ihre
bisherigen Systeme weiter nutzen zu können?

20. Welche Bewertungen des EES im Allgemeinen und eines möglichen Zu-
gangs der Strafverfolgungsbehörden hierzu im Besonderen haben der Bun-
desbeauftragte für den Datenschutz und die Informationsfreiheit, der Euro-
päische Datenschutzbeauftragte und die Artikel-29-Datenschutzgruppe
wann abgegeben?
Falls solche nicht vorliegen, wird die Bundesregierung sie veranlassen, und
wenn nein, warum nicht?

21. Inwieweit trifft es zu, dass die Europäische Kommission einen Zugriff von
Strafverfolgungsbehörden auf das EES zeitgleich mit dem Inkrafttreten des
EES mit dem Argument ablehnt, dass keine Prognose möglich sei, inwie-
weit dies zur Aufklärung von Straftaten führen könne und schon deshalb die
gebotene Verhältnismäßigkeitsprüfung für eine solche Regelung nicht mög-
lich sei, und wie steht die Bundesregierung zu dieser Argumentation (bitte
ausführen)?

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22. Wie haben sich die Mitgliedstaaten und insbesondere die Bundesregierung
zu der Frage der Erfassung von (welchen) biometrischen Daten im EES ver-
halten, und welche Position der Europäischen Kommission gibt es zu dieser
Frage (bitte ausführen)?

23. Wie haben sich die Mitgliedstaaten und insbesondere die Bundesregierung
zu der Frage einer Ausweitung des EES auch auf längerfristige Aufenthalte
von Drittstaatsangehörigen verhalten, und welche Position der Euro-
päischen Kommission gibt es zu dieser Frage (bitte ausführen)?

24. Mit welchen Auswirkungen auf die Wartezeiten bei Grenzkontrollen infolge
des EES ist zu rechnen?

25. Wie bewertet es die Bundesregierung, dass auch von bisher von der
Visumpflicht befreiten Drittstaatsangehörigen im Zuge der Errichtung des
EES künftig biometrische Daten (Fingerabdrücke) erfasst werden sollen?

26. Was genau ist das deutsche Interesse daran, automatisierte Grenzkontrollen
auch für Unionsbürgerinnen und Unionsbürger außerhalb des RTP vorzu-
sehen (vgl. Berichtsbogen des Bundesinnenministeriums vom 18. März
2013 zum Ratsdokument 6931/13), und wie soll dies realisiert werden (bitte
ausführen)?

27. Welche Technologie- oder Rüstungskonzerne sind nach Kenntnis der Bun-
desregierung dazu in der Lage, Großsysteme wie das EES oder das RTP zu
verwirklichen, und inwieweit hat die Bundesregierung überprüft, ob diese
Konzerne im Rahmen ihrer allgemeinen Lobbytätigkeit oder durch das Er-
stellen von Machbarkeitsstudien (auch im Auftrag der EU) Einfluss auf die
Entwicklung des smart border package genommen haben oder nehmen
könnten, an wen sind die Aufträge zur Planung bzw. zur technischen Reali-
sierung des EES vergeben worden, bzw. wann ist die Ausschreibung mit
welchem Text erfolgt oder zu erwarten?

28. Welche Erfahrungen und Probleme sind der Bundesregierung mit Ein- bzw.
Ausreisesystemen anderer Länder bekannt, insbesondere anderer EU-Mit-
gliedstaaten und der USA?

Berlin, den 16. Januar 2014

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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