BT-Drucksache 18/3206

Schädigung von Föten durch Alkoholkonsum während der Schwangerschaft

Vom 12. November 2014


Deutscher Bundestag Drucksache 18/3206
18. Wahlperiode 12.11.2014
Kleine Anfrage
der Abgeordneten Frank Tempel, Birgit Wöllert, Jan Korte, Ulla Jelpke, Kathrin
Vogler, Halina Wawzyniak, Harald Weinberg, Jörn Wunderlich und der Fraktion
DIE LINKE.

Schädigung von Föten durch Alkoholkonsum während der Schwangerschaft

Legale Drogen wie Alkohol und Nikotin sind allgegenwärtig. Hinsichtlich der
Tabakregulierung sind inzwischen sehr weitreichende Maßnahmen gesellschaft-
lich akzeptiert. Bestimmte Drogen sind strafrechtlich verboten und die Not-
wendigkeit von Präventionsarbeit zum Schutz vor den gesundheitlichen Schädi-
gungen aufgrund des Konsums illegaler Drogen weitestgehend gesellschaftlich
anerkannt. Konsum von Alkohol, seine Suchtwirkung und die massiven gesund-
heitlichen Schäden, die durch den Genuss von Alkohol entstehen, werden hin-
gegen nicht nur durch die Einstufung als legale Droge, sondern auch in der Re-
gulierungspolitik im Vergleich zu Tabakprodukten relativiert und verharmlost.
Dies gilt – genau wie bei Alkoholmissbrauch von Männern – in bestimmter Hin-
sicht auch für die Wirkung von Alkohol während der Schwangerschaft, obwohl
von einer latenten Bewusstheit des schädigenden Einflusses grundsätzlich aus-
gegangen werden kann. Genussgewohnheiten und Drogenkonsumgewohnhei-
ten ändern sich mit Beginn einer Schwangerschaft nicht von heute auf morgen.
Alkoholkonsum während der Schwangerschaft kann erhebliche Folgen für Neu-
geborene haben. Die Auswirkungen können von unspezifischen Beeinträchti-
gungen etwa der Lernfähigkeit oder der Impulskontrolle bis hin zu schweren
Behinderungen mit charakteristischen Ausprägungen reichen. Um die Breite der
Schädigungen zu benennen, wird in der Regel der Begriff fetale Alkoholspek-
trumstörungen (Fetal Alcohol Spectrum Disorder – FASD) verwendet.
Das fetale Alkoholsyndrom (FAS) bezeichnet die schwersten Formen der Schä-
digung und ist die häufigste nichtgenetische Ursache für eine geistige Behinde-
rung (http://fasd-zentrum.blogspot.de/p/fetale-alkoholspektrum-storungen-fasd.
html). Unspezifischere Formen müssen nicht automatisch weniger schwerwie-
gend sein. Sie werden als fetale Alkoholeffekte (FAE) bezeichnet (www.dhs.de/
fileadmin/user_upload/pdf/Factsheets/100319_Factsheet_FASD_-_DIN.pdf).
Der Alkoholkonsum in der Schwangerschaft hängt – genau wie der Alkohol-
konsum im Allgemeinen – von einer Vielzahl von Faktoren ab. Laut Studien
können etwa das Leben in einer Partnerschaft, Regelmäßigkeit und Sicherheit in
der beruflichen Situation sowie Überschaubarkeit der Anforderungen vor einem
riskanten Konsumverhalten schützen. Leider sind Überforderungen bei unge-
wolltem Alleinleben und Alleinerziehen von Kindern sowie mangelnde soziale
Unterstützung offenbar Indikatoren, die das Risiko eines riskanten Alkoholkon-
sums erhöhen (vgl. oben verlinktes Factsheet der DHS). Wie bei anderem ge-
sundheitsrelevanten Verhalten liegen die Ursachen weniger in den individuellen
Entscheidungen und der subjektiven Motivation. Vielmehr zeigte sich in der

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Public-Health-Wissenschaft, dass „gesundheitliche Ungleichheiten vor allem
durch materielle Faktoren zu erklären sind, denn sie wirken sich im hohen Maße
über das Gesundheitsverhalten und über psychosoziale Faktoren aus.“
(www.bag.admin.ch/themen/gesundheitspolitik/10417/index.html?lang=de&
download=NHzLpZeg7t,lnp6I0NTU042l2Z6ln1acy4Zn4Z2qZpnO2Yuq2Z6
gpJCLeIN9gWym162epYbg2c_JjKbNoKSn6A--).
In Frankreich wurde eine FAS-Prävalenz von 1:212 gefunden (www.
kindernetzwerk.de/images/Krankheitsuebersichten/Krankheitsuebersichten-
alkoholembryopathie.pdf). Allerdings tritt „das Vollbild des Fetalen Alkohol-
syndroms […] nach Expertenschätzung nur bei ca. 10 % aller Kinder mit prä-
natalen Alkohol-Folgeschäden auf. Das bedeutet, dass die Fetale Alkoholspek-
trumstörung eine der häufigsten angeborenen Erkrankungen darstellt, ohne als
solche bislang erkannt und berücksichtigt zu werden“ (www.awmf.org/uploads/
tx_szleitlinien/022-025l_S3_Fetales_Alkohol-Syndrom_Diagnostik_
Langfassung_2012-12.pdf). Frankreich hat verpflichtende Piktogramme als
Warnhinweise für alle Alkoholflaschen vorgeschrieben.
Der Erfassung und Behandlung muss eine ärztliche Diagnose vorausgehen.
„Allerdings wird die Diagnose FAS viel zu selten gestellt, da die professionellen
Helfer im Gesundheitssystem Hemmungen haben, einen diesbezüglichen Ver-
dacht auszusprechen oder zu wenig über das Krankheitsbild informiert sind“,
stellt die zuständige wissenschaftliche Fachgesellschaft für Neuropädiatrie in
ihrer Leitlinie für die FAS-Diagnostik fest (siehe ebenda). Die Unkenntnis oder
moralisierende Scham, die zu ausbleibenden Diagnosen führen, sind damit Teil
eines Stigmatisierungsdiskurses, wo eigentlich Unterstützungsangebote und
soziale Verantwortung bei der Problemlösung nötig wären. Alkoholmissbrauch
wird damit individualisiert und unter der Hand als verantwortungslose psycho-
soziale Problemlage der Schwangeren klassifiziert. Unterstützungs- und Lö-
sungsangebote bleiben auf der Strecke.
Überdies haben wir ein unzureichendes Netz von Angeboten in Deutschland, die
insbesondere Frauen während der Schwangerschaft oder mit Kinderwunsch
Information, Beratung und helfende Unterstützung bieten. Angebote, wie das
neue internetbasierte Beratungsprogramm „IRIS II“ für tabak- und alkoholkon-
sumierende Schwangere, das am Universitätsklinikum Tübingen entwickelt
wurde, zeigen die Möglichkeiten einer modernen Mediengesellschaft auf,
machen zugleich aber auch den großen Mangel an entsprechenden Angeboten
im Spektrum der Gesundheitsprävention und aber auch an Familienberatungs-
systemen und Familienhilfesystemen offenbar. Solange das Beratungsangebot
auf diesem niedrigen Level bleibt, wird sich ein moralisierender, Alkoholmiss-
brauch individualisierender und damit ein stigmatisierender Umgang mit FAS
und FAE bestimmend sein. Schwangere werden somit – genau wie andere Men-
schen, die einen riskanten Alkoholkonsum auch im Umfeld von Schwangeren
betreiben – nicht in ihren sozialen Konflikten angesprochen und Lösungsan-
gebote werden allein auf einer individualisierten und moralisierten psycho-
sozialen Ebene entworfen, obwohl eine spürbare Verbesserung der sozialen
Sicherheit für Alleinerziehende die unmittelbaren weiterführenden Lebensper-
spektiven und damit die persönliche Handlungsmotivation verbessern könnte.

Wir fragen die Bundesregierung:
1. Welche Zahlen sind der Bundesregierung über Alkoholkonsum während der

Schwangerschaft bekannt?
Wie bewertet die Bundesregierung diese Zahlen im internationalen Vergleich
und in Relation zu anderen Gruppen mit riskantem Alkoholkonsum, z. B.
Jugendliche, Ältere, bestimmte Berufsgruppen?

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 3 – Drucksache 18/3206
2. Wie hoch ist der Anteil alkoholabhängiger, also chronisch kranker Frauen,
in der Gruppe der während der Schwangerschaft Alkohol konsumierenden
Frauen?

3. Wie bewertet die Bundesregierung die Aussagefähigkeit der Daten für die
Beantwortung der Fragen 1 und 2 für Deutschland (Aktualität, Validität
etc.), und welche Rückschlüsse zieht sie daraus?

4. Welche physischen, psychischen, geistigen und sozialen Beeinträchtigun-
gen durch FAS sind der Bundesregierung bekannt?

5. Welche physischen, psychischen, geistigen und sozialen Beeinträchtigun-
gen durch FAE sind der Bundesregierung bekannt?

6. Wie beurteilt die Bundesregierung die vorliegenden Daten unter dem Ge-
sichtspunkt der UN-Behindertenrechtskonvention, insbesondere Artikel 25
(Gesundheit) und Artikel 26 (Habilitation und Rehabilitation), die sowohl
für Menschen mit chronischen Erkrankungen als auch mit Behinderungen
gilt?

7. Welche Mengen Alkohol können nach Kenntnis der Bundesregierung wäh-
rend der Schwangerschaft als unbedenklich gelten (bitte aufgliedern nach
Schwangerschaftsphasen)?

8. Ab welcher Menge Alkohol während der Schwangerschaft kann nach
Kenntnis der Bundesregierung ein FAS verursacht werden?

9. Wie hoch schätzt die Bundesregierung die Zahl der nichtdiagnostizierten
FAS?

10. Wie hoch ist nach Kenntnis der Bundesregierung in Deutschland die Präva-
lenz von FAE, und welche Unsicherheiten sieht die Bundesregierung bei der
Angabe?

11. Wie hoch schätzt die Bundesregierung die Zahl der nichtdiagnostizierten
FAE?

12. Welche Kenntnisse hat die Bundesregierung über internationale Prävalenz-
zahlen von FAS bzw. FAE?

13. Wie hoch ist nach Kenntnis der Bundesregierung in Deutschland die Präva-
lenz von FAS, und welche Unsicherheiten sieht die Bundesregierung bei der
Angabe?

14. Welche Rolle spielt nach Kenntnis der Bundesregierung der Alkohol-
konsum der Väter oder Lebenspartnerinnen, Familien auf die Entstehung
einer FASD?

15. Welchen Stellenwert misst die Bundesregierung FASD bei?
16. Was unternimmt die Bundesregierung, um in der Gesellschaft für die Rolle

des sozialen Umfelds, insbesondere des Lebenspartners bzw. der Le-
benspartnerin der Schwangeren für die Entstehung von FASD zu sensibili-
sieren?

17. Welche Kenntnisse hat die Bundesregierung über soziale Determinanten
und FASD?

18. Welche Rückschlüsse zieht die Bundesregierung aus diesen Kenntnissen
über soziale Determinanten auf ihre Präventionspolitik allgemein und in
Bezug auf FASD im Speziellen?

19. Sind seitens der Bundesregierung Programme in Planung, die sich ähnlich
dem in der Vorbemerkung der Fragesteller erwähnten Beratungsprogramm
„IRIS II“ um die besonderen Beratungs- und Hilfebedarfe von Schwangeren
und deren Partnerinnen und Partnern mit Suchtproblemen widmen?

Drucksache 18/3206 – 4 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode
20. Ist eine Fortsetzung der Förderung des Beratungsprogramm „IRIS II“ durch
das Bundesministerium für Gesundheit über den bisher angegebenen
Förderzeitraum (April 2015) vorgesehen?
Wenn ja, bis wann, und wenn nein, bitte begründen?

21. Ist eine Ausweitung auf andere Städte bzw. Kommunen bzw. Länder des
Beratungsprogramms „IRIS II“ vorgesehen?
Wenn ja, bitte einzeln benennen, und wenn nein, bitte begründen?

22. Plant die Bundesregierung, die Kenntnisse über FASD-Prävalenz und
FASD-Inzidenz und Konsummuster von Schwangeren zu verbessern?
Falls ja, wann und wie?

23. Welche Forschungsvorhaben plant und unterstützt die Bundesregierung zur
Verbesserung der Datenlage und zur Einschätzung von Entwicklungstrends
bei FASD?

24. Welche Möglichkeiten sieht die Bundesregierung, die Information über die
entsprechenden Krankheitsbilder bei professionellen Helferinnen und
Helfern und damit auch die Verfahren zur Diagnostizierung zu verbessern?

25. Plant die Bundesregierung, wie in Frankreich, verpflichtende Piktogramme
oder andere Warnhinweise für Alkoholflaschen und bzw. oder deren Sekun-
därverpackungen vorzuschreiben?
Falls nein, warum nicht?
Falls ja, wann?

26. Welche verhältnispräventiven Maßnahmen zur Bekämpfung (außerhalb von
Aufklärungskampagnen etc.) sind der Bundesregierung bekannt?

27. Wie bewertet die Bundesregierung die Wirksamkeit der verschiedenen
Maßnahmen aus Public-Health-Sicht (morbiditätsorientierte Zielparame-
ter)?
Welche Informationen hat die Bundesregierung bezüglich sozialer Einfluss-
faktoren für Alkoholkonsum während der Schwangerschaft, und welche
Rückschlüsse zieht sie daraus?

28. Wie schätzt die Bundesregierung den Wissensstand in der Bevölkerung über
die Auswirkungen von (auch geringem) Alkoholkonsum während der
Schwangerschaft ein?

29. Welche Regelungen gibt es nach Kenntnis der Bundesregierung bezüglich
der Zulassung von alkoholhaltigen Arzneimitteln zur Anwendung von
Schwangeren?

30. Welche Regelungen gibt es nach Kenntnis der Bundesregierung bezüglich
der Zulassung von Alkohol als Konservierungsstoff in Lebensmitteln?

31. Wie beurteilt die Bundesregierung die Aufklärung und Information sowie
die deutliche Kennzeichnung solcher Konservierungs- und Zusatzstoffe,
insbesondere für besonders gefährdete schwangere Verbraucherinnen in
diesem Sachverhalt, und welche Möglichkeiten der Verdeutlichung einer
Gefährdung sieht die Bundesregierung?

32. Wie hoch darf der Alkoholgehalt in Lebensmitteln ohne Deklarationspflicht
sein?

33. Welche Lebensmittel enthalten natürlicherweise Alkohol?
34. Inwieweit ist nach Ansicht der Bundesregierung gesichert, dass der Konsum

von als alkoholfrei deklariertem Bier, also mit max. 0,5 Prozent V/V, wäh-
rend der Schwangerschaft unschädlich ist?

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 5 – Drucksache 18/3206
35. Wie beurteilt die Bundesregierung, dass alkoholfreie Biere durch die
Bewerbung dieser alkoholfreien Getränke durch (ehemalige) Leistungs-
sportlerinnen und Leistungssportler wie Franziska Schenk oder Vitali
Klitschko sogar eine gesundheitsfördernde Wirkung angedeutet wird?

Berlin, den 12. November 2014

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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