BT-Drucksache 18/3166

Personelle Konsequenzen im Bundesamt für Verfassungsschutz nach der Selbstenttarnung des mutmaßlichen NSU-Kerntrios

Vom 6. November 2014


Deutscher Bundestag Drucksache 18/3166
18. Wahlperiode 06.11.2014
Kleine Anfrage
der Abgeordneten Martina Renner, Petra Pau, Ulla Jelpke, Harald Petzold
(Havelland), Frank Tempel, Halina Wawzyniak und der Fraktion DIE LINKE.

Personelle Konsequenzen im Bundesamt für Verfassungsschutz nach der
Selbstenttarnung des mutmaßlichen NSU-Kerntrios

Seit dem 4. November 2011 wurde infolge eines Polizeieinsatzes nach einem
Banküberfall in Eisenach sowohl die Existenz des „Nationalsozialistischen
Untergrunds“ (NSU) bekannt als auch dessen Verantwortung für eine rassistisch
motivierte Mordserie an neun migrantischen Kleinunternehmern, mindestens
drei Bombenanschlägen mit mehr als zwei Dutzend verletzten Migrantinnen und
Migranten, dem Mord an der Polizistin Michèle Kiesewetter und mindestens
14 Banküberfälle. Mittlerweile ist bekannt, dass der NSU ein breites Unter-
stützerumfeld hatte und das mutmaßliche NSU-Kerntrio von zahlreichen polizei-
und verfassungsschutzbekannten Aktivistinnen und Aktivisten der militanten
neonazistischen Bewegung und Organisationen wie „Blood&Honour“ und
„Hammerskins“ unterstützt wurde (vgl. Bundestagsdrucksache 17/14600).
Nicht allein die Tatsache, dass der NSU 13 Jahre lang unentdeckt Menschen er-
morden sowie Sprengstoffanschläge und Banküberfälle verüben konnte, löste in
Politik und Gesellschaft Fassungslosigkeit und Entsetzen aus. Dies umso mehr,
da die bundesdeutschen Strafverfolgungs- und Geheimdienstbehörden die
Gefahr, die von neonazistischen Strukturen ausgeht, gleichermaßen verharmlost
und unterschätzt hatten. Dies gilt insbesondere für das Bundesamt für Verfas-
sungsschutz (BfV). Jahrelang wurde in den Verfassungsschutzberichten des
Bundes und der Länder eine rechtsterroristische Gefahr öffentlich verneint. Für
rechtsterroristische Bestrebungen hatte man keine Hinweise. Im Bericht des
BfV für das Jahr 2007 hieß es beispielhaft: „Rechtsterroristische Strukturen
waren 2007 in Deutschland nicht feststellbar.“ (Verfassungsschutzbericht 2007,
Bundesministerium des Innern, 2008, Vorabfassung, S. 43). Fast wortgleich
wurde diese Behauptung in den Jahren davor und danach verbreitet.
Diese völlige Fehleinschätzung der neonazistischen Bewegung durch das BfV
war so gravierend, dass selbst der damalige Präsident des BfV, Heinz Fromm,
auf einer Veranstaltung des Zentralrats der Juden in Deutschland am 27. Novem-
ber 2011 in Weimar das Versagen seiner Behörde unumwunden einräumte. Er
äußerte über seine Behörde: „Wir haben die jetzt bekannt gewordenen Täter
nicht wirklich verstanden. Wir haben die Dimension ihres Hasses ebenso unter-
schätzt wie ihren Willen zur Tat.“ Fromm weiter: „Dabei hätte man es durchaus
besser wissen können:“ (Zitat aus dem Redetext von Heinz Fromm „Vom
Rechtsextremismus zum Rechtsterrorismus, Rede in Weimar, 27. November
2011).
Mit diesen Aussagen hatte Heinz Fromm völlig recht. Sie verdeutlichen, dass das
BfV mit seinen Lageeinschätzungen zum gewaltbereiten Rechtsextremismus

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grundlegend falsch lag und, schlimmer noch, die zunehmende Bewaffnung von
Teilen der neonazistischen Bewegung und deren Diskussionen über terroristi-
sche Konzepte in den BfV-Analysen völlig verharmloste.
Hinzu kommt, dass im BfV am 11. November 2011 zahlreiche Akten mit Bezug
zur thüringischen Neonaziszene sowie zur „Operation Rennsteig“ vernichtet
wurden. Im BfV hat es als Reaktion auf das Vernichten von Akten nach der
Selbstenttarnung des NSU sowie aufgrund der zahlreichen Fehler von Mitarbeitern
im Bereich Rechtsextremismus zahlreiche personelle Veränderungen gegeben.
Dazu gehört auch das Disziplinarverfahren gegen Lothar Lingen, der als Refe-
ratsleiter für die Vernichtung zahlreicher Akten von V-Leuten des BfV aus der
Operation Rennsteig verantwortlich war sowie dienstrechtliche Maßnahmen
gegen zwei Vorgesetzte des Lothar Lingen – der Abteilungsleiter und der Refe-
ratsgruppenleiter. Die Entscheidung des BfV, die beiden von ihren bisherigen
Aufgaben zu entbinden und umzusetzen (vgl. Bundestagsdrucksache 17/14600,
S. 786), wurde vom Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen
in Münster allerdings wieder aufgehoben. Schon im Januar 2012 hatte der dama-
lige Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Heinz Fromm, den lang-
jährigen Direktor beim BfV, A. H., der für den Bereich Rechtsextremismus seit
dem Jahr 1990 zuständig war, seiner Zuständigkeiten für Rechtsextremismus
enthoben (Handelsblatt vom 15. Januar 2012, Geheimdienstler stolpert über
Rechtsterror-Pannen).
Mehr als ein Jahr nach dem Ende des 2. Untersuchungsausschusses im Deut-
schen Bundestag stellt sich nun die Frage nach personellen und dienstrecht-
lichen Konsequenzen im BfV im Bereich Rechtsextremismus erneut.

Wir fragen die Bundesregierung:
1. Welche disziplinarrechtlichen Maßnahmen wurden wann und aus welchen

Gründen gegen den langjährigen Direktor beim BfV, A. H., vonseiten des
BfV ergriffen?

2. Welche Zuständigkeiten obliegen dem langjährigen Direktor im BfV, A. H.,
nunmehr, und in welcher Abteilung kommt er ihnen nach?

3. Hat der langjährige Direktor im BfV, A. H., nach dem Verlust seiner Zustän-
digkeit für den Bereich Rechtsextremismus auch seinen Direktorenposten ab-
geben müssen?

4. Seit wann ist der langjährige Direktor des BfV, A. H., krankgeschrieben?
5. Wurde der langjährige Direktor des BfV, A. H., vom Sonderermittler der

Bundesregierung für die Aufklärung der Aktenvernichtungsvorgänge im
BfV, Ministerialdirigent Hans-Georg Engelke, befragt, und wenn ja, wann?
Und wenn nein, aus welchen Gründen wurde er nicht befragt?

6. Wie viele Direktorenposten gibt es im BfV überhaupt, und wie viele Direk-
toren mit Bezug zum Thema und Zuständigkeiten im Bereich Rechtsextre-
mismus sind seit dem 4. November 2011 in den vorzeitigen Ruhestand ver-
setzt worden?

7. Wie viele Direktoren im BfV mit Bezug zum Thema und Zuständigkeiten im
Bereich Rechtsextremismus sind seit dem 4. November 2011 krankgeschrie-
ben?

8. Wie viele Direktoren im BfV mit Bezug zum Thema und Zuständigkeiten im
Bereich Rechtsextremismus wurden ihres Direktorenpostens enthoben, und
inwiefern hat sich das in ihrer dienstlichen Bewertung niedergeschlagen?

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9. Wie viele Mitarbeiter des BfV, einschließlich der Abteilungsleiterinnen und
Abteilungsleiter aus den Abteilungen und Referaten, die mit dem Thema
Rechtsextremismus vor dem 4. November 2011 befasst waren, sind seit dem
4. November 2011 aus welchen Gründen befördert worden (bitte unter An-
gabe der Referate und Abteilungen sowie der neuen Dienstgrade und Ab-
teilungen)?

10. Wie viele Mitarbeiter aus den Abteilungen und Referaten des BfV, die vor
dem 4. November 2011 mit dem Thema Rechtsextremismus befasst waren,
sind in andere Abteilungen ohne Rechtsextremismusbezug versetzt worden
(bitte unter Angabe, ob diese Versetzungen auf eigenen Wunsch oder An-
ordnung der Amtsleitung bzw. Vorgesetzten geschahen)?

11. Wie viele Mitarbeiter des BfV aus den Abteilungen und Referaten, die mit
dem Thema Rechtsextremismus vor dem 4. November 2011 befasst waren,
wurden seit dem 4. November 2011 dienstrechtlichen Maßnahmen unter-
worfen (bitte unter Angabe der Referate und Abteilungen und Dienstgrade)?

12. In welcher Form und durch wen wurde die in den Abteilungen und Refera-
ten geleistete Arbeit der Beschäftigten, die mit dem Thema Rechtsextremis-
mus vor dem 4. November 2011 befasst waren, kritisch untersucht, und bei
wie vielen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern dieser Abteilungen und Refe-
raten hat sich diese Überprüfung in einer dienstlichen Schlechterbewertung
niedergeschlagen?

13. Welche konkreten Maßnahmen wurden im Bereich der Führer von V-Leuten
seit dem 4. November 2011 mit welchen personellen Konsequenzen (Be-
wertungen, Versetzungen, disziplinarisch) für die in den entsprechenden
Abteilungen vor dem 4. November 2011 arbeitenden Mitarbeiterinnen und
Mitarbeitern durchgeführt?

14. Welche konkreten personellen Folgen hatte die als Reform angestrebte Ver-
zahnung von Auswertung und Beschaffung, und welchen Stand hat dieses
Reformprojekt heute?

15. Welche personellen Folgen ergeben sich für das BfV und seine Abteilungen
aus der Neupriorisierung der Beobachtungsprojekte nach deren Gewalt-
orientierung?

16. Ist das Disziplinarverfahren gegen Lothar Lingen mittlerweile abgeschlos-
sen, und wenn ja, mit welchem Ergebnis?

17. Wird Lothar Lingen weiterhin im BfV eingesetzt, und wenn ja, in welcher
Abteilung, in welchem Referat, und mit welcher thematischen Zuständig-
keit?

18. Sind der Abteilungsleiter und der Referatsgruppenleiter des Lothar Lingen
an ihre vorherigen Abteilungen bzw. Referate zurückversetzt worden, und
wenn ja, wann geschah dies mit welcher Begründung?

19. Bei wie vielen der BfV-Mitarbeiterinnen und -Mitarbeiter, die als Zeugen
vom 2. Untersuchungsausschuss des Deutschen Bundestages gehört wur-
den, ergaben sich dienstliche Veränderungen (Versetzungen, Beförderun-
gen) seit ihren Zeugenaussagen?

20. Wie viele BfV-Mitarbeiterinnen und -Mitarbeiter, die als Zeugen vom
2. Untersuchungsausschuss des Deutschen Bundestages gehört wurden, sind
seit oder nach ihrer Zeugenaussage krankgeschrieben?

21. Wie viele BfV-Mitarbeiterinnen und -Mitarbeiter, die vom Sonderermittler
der Bundesregierung zur Aufklärung der Aktenvernichtungsvorgänge,
Ministerialdirektor Hans-Georg Engelke, befragt wurden, sind seit oder
nach ihrer Zeugenaussage krankgeschrieben?

Drucksache 18/3166 – 4 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode
22. Wie viele BfV-Mitarbeiterinnen und -Mitarbeiter, die als Zeugen vom
2. Untersuchungsausschuss des Deutschen Bundestages gehört wurden, sind
dienstrechtlichen Maßnahmen seit dem 4. November 2011 unterworfen
worden (bitte unter Angabe der Referate, Abteilungen und Dienstgrade)?

23. Wie viele BfV-Mitarbeiterinnen und -Mitarbeiter, die als Zeugen vom
2. Untersuchungsausschuss des Deutschen Bundestages gehört wurden, sind
in andere Abteilungen ohne Rechtsextremismusbezug seit ihrer jeweiligen
Zeugenaussage vor dem 2. Untersuchungsausschuss der 17. Wahlperiode
versetzt worden (bitte unter Angabe, ob diese Versetzung auf eigenen
Wunsch oder Anordnung der Amtsleitung bzw. Vorgesetzten geschahen)?

24. Wie viele BfV-Mitarbeiterinnen und -Mitarbeiter, die in der Lageorientierten
Sondereinheit des BfV nach dem 4. November 2011 eingesetzt waren oder
sind, sind seitdem dienstrechtlichen Maßnahmen unterworfen worden (bitte
unter Angabe der Referate, Abteilungen und Dienstgrade)?

25. Wie viele BfV-Mitarbeiterinnen und -Mitarbeiter, die in der Lageorientierten
Sondereinheit des BfV nach dem 4. November 2011 eingesetzt waren oder
sind, sind in andere Abteilungen ohne Rechtsextremismusbezug versetzt
worden (bitte unter Angabe, ob diese Versetzung auf eigenen Wunsch oder
Anordnung der Amtsleitung bzw. Vorgesetzten geschahen)?

Berlin, den 5. November 2014

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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