BT-Drucksache 18/288

Das Massensterben an den EU-Außengrenzen beenden - Für eine offene, solidarische und humane Flüchtlingspolitik der Europäischen Union

Vom 15. Januar 2014


Deutscher Bundestag Drucksache 18/288
18. Wahlperiode 15.01.2014

Antrag
der Abgeordneten Ulla Jelpke, Jan Korte, Katrin Kunert, Petra Pau, Harald
Petzold, Martina Renner, Kersten Steinke, Frank Tempel, Halina Wawzyniak
und der Fraktion DIE LINKE.

Das Massensterben an den EU-Außengrenzen beenden – Für eine offene,
solidarische und humane Flüchtlingspolitik der Europäischen Union

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

1. Der Untergang eines Flüchtlingsbootes vor Lampedusa am 3. Oktober 2013
und der Tod von mehr als 400 Menschen sind eine eindringliche Mahnung,
die Abschottungspolitik der Europäischen Union schnellstmöglich und
grundlegend zu beenden. Nicht nur Flüchtlingsorganisationen, Verbände
und Vereine zeigten sich erschüttert und forderten ein Umdenken. Doch nur
acht Tage später kenterte ein weiteres Flüchtlingsschiff im Mittelmeer, das
zuvor unter Beschuss libyscher Milizen gestanden hatte. Obwohl die italie-
nische Küstenwache frühzeitig informiert und ein italienisches Kriegsschiff
nur etwa 48 Kilometer entfernt war, ertranken über 250 Menschen, weil die
notwendigen Rettungsmaßnahmen wegen der formalen Zuständigkeit Mal-
tas erst mit stundenlanger Verspätung veranlasst worden waren. Das Mas-
sensterben an den Außengrenzen der EU, der Tod Zehntausender Flüchtlin-
ge und Migrantinnen und Migranten seit den 90er-Jahren ist Teil und Folge
einer auf Grenzabwehr und Abschottung gerichteten Politik.

2. Die eklatanten Mängel der EU-Asylpolitik zeigen sich aktuell auch im Um-
gang mit syrischen Flüchtlingen. Über 2,3 Millionen Menschen sind laut
UNHCR inzwischen aus Syrien geflohen. Im Dezember 2013 lebten
129 000 der Flüchtlinge in Ägypten, 207 000 im Irak, 566 000 in Jordanien,
836 000 im Libanon und 537 000 in der Türkei, etwa die Hälfte von ihnen
sind Kinder. Mindestens 4,25 Millionen Menschen sind innerhalb Syriens
vertrieben worden. Es wird für viele Menschen immer schwieriger, aus dem
bewaffneten Konflikt in Syrien in Nachbarländer zu fliehen, da die Grenzen
nicht mehr durchgängig offen sind. Dennoch bleiben für die meisten Flücht-
linge nur illegale und lebensgefährliche Wege, um in die EU zu gelangen.
Deutsche Ermittlungsbehörden gehen trotz der offensichtlichen Notlage
strafrechtlich selbst gegen humanitär handelnde Fluchthelfer von syrischen
Flüchtlingen vor.

3. Die politisch Verantwortlichen verweigern ungeachtet der unzähligen Toten
im Mittelmeer und der verzweifelten Lage syrischer Flüchtlinge einen
grundlegenden Wandel der EU-Flüchtlingspolitik. Dies wurde durch die Be-
schlüsse des EU-Gipfels am 25. Oktober 2013 noch einmal bestätigt. Kon-

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kret wurden lediglich härtere Strafen gegen „kriminelle Schleuser“ gefor-
dert. Diese bereits seit Jahrzehnten betriebene restriktive Politik zur Verhin-
derung der illegalen Einreise ist heuchlerisch. Schutzsuchende und uner-
wünschte Migrantinnen und Migranten haben keine andere Wahl, als
Fluchthelfer in Anspruch zu nehmen, da ihnen eine legale Einreise in die EU
verwehrt wird. Wer „kriminellen Schleusern“ die Grundlage ihres Geschäfts
entziehen will, muss Schutzsuchenden eine sichere Einreise ermöglichen
und legale Einwanderungswege für Migrantinnen und Migranten schaffen,
und zwar nicht nur für ausgewählte (Hoch-)Qualifizierte nach nationalstaat-
lichem Bedarf. Auch auf dem Treffen der EU-Innenminister am 5. Dezem-
ber 2013 wurde die bisherige Politik bruchlos fortgeführt. Beschlossen wur-
de vor allem eine noch engere Zusammenarbeit mit Transit- und Herkunfts-
staaten zur Verhinderung unerwünschter Flucht und Migration, wofür an-
schaulich das Inkrafttreten des EU-Türkei-Rückübernahmeabkommens
steht.

4. Die europäische Grenzschutzagentur Frontex steht als Institution für die
Perfektionierung einer Politik der Abschottung: Geschützt werden die Gren-
zen der EU – nicht die Menschen. In der Praxis zeichnen Frontex und die
nationalen Grenzbehörden immer wieder verantwortlich für menschen-
rechtswidrige Abweisungen von Flüchtlingen an den EU-Außengrenzen. In
der Folge weichen Flüchtlinge auf immer gefährlichere Routen aus. Frontex
steht auch für eine Strategie der Vorverlagerung der Grenzabwehr. Verstärkt
wird diese Politik durch das im Dezember 2013 in Kraft getretene koordi-
nierende Grenzüberwachungssystem EUROSUR. Flüchtlinge und uner-
wünschte Migrantinnen und Migranten werden schon weit vor den EU-
Außengrenzen abgefangen. Zu diesem Zweck kooperieren die EU und ein-
zelne Mitgliedstaaten bereits seit längerem mit wichtigen Transitländern,
beispielhaft etwa mit Libyen und Ägypten. Für die in diesen Ländern an
Flüchtlingen begangenen Menschenrechtsverletzungen, irreguläre Inhaftie-
rungen, Zurückschiebungen und das Abfangen von Flüchtlingsbooten, ist
die EU deshalb mit verantwortlich.

5. Trotz der Grundsatzentscheidung des EU-Rates in Tampere im Jahr 1999 ist
es nicht gelungen, ein einheitliches, faires und solidarisches EU-Asylsystem
zu schaffen. Im Gegenteil: Einigkeit erzielten die Mitgliedstaaten vor allem
bei Maßnahmen zum effektiveren Abschottung der Grenzen gegen
illegalisierte Migration. Doch weiterhin gleicht die Asylsuche in der EU ei-
nem Lotteriespiel, drohen in einigen EU-Mitgliedstaaten menschenunwürdi-
ge Lebensbedingungen und Inhaftierung. In Griechenland ist noch nicht
einmal der Zugang zu einem fairen Asylverfahren gesichert, Asylsuchende
werden zum Teil EU- und völkerrechtswidrig zurückgewiesen. Für Flücht-
linge ist die EU kein Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, des-
sen sich die EU ansonsten immer rühmt.

6. Die Dublin-Verordnung regelt, welcher Mitgliedstaat für die Asylprüfung
zuständig ist. Demnach ist derjenige Staat für das Asylverfahren verantwort-
lich, der die Einreise der Asylsuchenden nicht verhindert hat. Für die Mit-
gliedstaaten an den EU-Außengrenzen ist dies ein „Anreiz“ zu immer weite-
ren Abschottungsmaßnahmen, Zurückweisungen an den Grenzen und einem
abschreckenden Umgang mit Schutzsuchenden. Die Flüchtlinge versuchen
ungeachtet der bürokratischen Regelungen in das EU-Land ihrer Wahl zu
gelangen – nicht selten mit dem Ergebnis, dass sie nach jahrelanger Odyssee
durch Europa als illegalisierte und weitgehend rechtlose Menschen nir-
gendwo Schutz finden.

7. Die deutschen Bundesregierungen der letzten 20 Jahre tragen für diese Poli-
tik der Menschenrechtsverletzungen und Verdrängung von Verantwortlich-
keit auf EU-Ebene historisch eine große Mitschuld. Die durch Grundgesetz-

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änderung im Rahmen des „Asylkompromisses“ im Jahr 1993 eingeführte
Drittstaatenregelung machte das Dublin-System erst möglich, und das Prin-
zip der Verlagerung der Schutzverantwortung auf Drittstaaten wurde Vor-
bild für die gesamte EU-Asylpolitik. Ein „Weiter so“ in der Asylpolitik darf
es angesichts der Zehntausenden Toten als Opfer dieser Politik nicht geben.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

sich im Europäischen Rat und umfassend auf der EU-Ebene für eine offene, soli-
darische und humane Flüchtlingspolitik der Europäischen Union einzusetzen, um
das Massensterben an den EU-Außengrenzen zu beenden. Dies beinhaltet unter
anderem:

a) Sichere Einreisemöglichkeiten für Flüchtlinge müssen geschaffen werden,
indem Visa zur Durchführung eines Asylverfahrens erteilt werden.

b) Es bedarf eines gemeinsamen Programms zur Aufnahme von besonders
schutzbedürftigen Personen, die vom UNHCR in anderen Ländern als
Flüchtlinge bereits anerkannt wurden, dort jedoch nicht bleiben können
(resettlement); EU-weit könnten so jährlich etwa 100 000 Flüchtlinge legal
aufgenommen werden.

c) Vor dem Hintergrund von Millionen syrischer Flüchtlinge ist es auf EU-
Ebene erforderlich, unverzüglich eine gemeinsame Aufnahmeaktion zur
Entlastung der überforderten Nachbarstaaten Syriens zu starten und Evaku-
ierungen aus Syrien vorzunehmen. Die humanitäre Unterstützung bei der
Einreise von Asylsuchenden und Flüchtlingen darf nicht kriminalisiert wer-
den.

d) Die Grenzschutzagentur Frontex ist aufzulösen, die bisherige, von Frontex
maßgeblich vorangetriebene Politik einer perfektionierten Grenzabschottung
und Vorverlagerung der Flüchtlingsabwehr in Drittländer ist aufzugeben.
Damit zusammenhängend müssen auch Grenzüberwachungsprojekte, wie
etwa das erst jüngst beschlossene EUROSUR, eingestellt werden.

e) Die Rettung von in Seenot geratenen Menschen ist eine völkerrechtlich
bindende und humanitäre Pflicht und darf nicht durch Straf- und Sanktions-
androhungen verhindert werden. Gerettete Schutzsuchende müssen einen si-
cheren Zugang zu einem fairen Asylverfahren in der EU erhalten. Den Über-
lebenden von Schiffskatastrophen wie jenen vor Lampedusa vom 3. bzw.
11. Oktober 2013 muss ein Bleiberecht in der EU erteilt werden.

f) Die Dublin-Verordnung muss geändert werden, so dass Asylsuchende die
Wahl haben, in welchem der Mitgliedstaaten sie ihr Asylverfahren durch-
führen wollen, etwa wegen familiärer Bindungen oder besonderer Sprach-
kenntnisse. Entstehende Ungleichgewichte bei der Aufnahme sollen ent-
sprechend der Größe und Wirtschaftskraft der Mitgliedstaaten und vor allem
auf finanzieller Ebene ausgeglichen werden.

g) Als weitere Maßnahme zur solidarischen Verantwortungsteilung in der EU
sollen Flüchtlinge und subsidiär Schutzberechtigte nach ihrer Anerkennung
ein Freizügigkeitsrecht innerhalb der EU erhalten.

h) Asylsuchende brauchen in der gesamten EU gleiche Rechte. Hierfür ist ne-
ben der Einhaltung asyl- und menschenrechtlicher Mindeststandards eine
Überarbeitung der asylrechtlichen Richtlinien der EU erforderlich zur
Durchsetzung höherer, einheitlicher Standards im Asylverfahren, bei der
Asylanerkennung, der Unterbringung und der Gewährung grundlegender so-
zialer Rechte für Asylsuchende. Die unverhältnismäßigen Regeln zur Inhaf-
tierung von Schutzsuchenden bzw. abgelehnten Flüchtlingen müssen gestri-

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chen werden: Flucht ist kein Verbrechen und darf kein Grund für eine Inhaf-
tierung sein!

i) Fluchtursachen müssen beseitigt werden. Erforderlich ist eine radikale Re-
form der bisherigen Wirtschafts-, Handels- und Außenpolitik der EU zu-
gunsten einer solidarischen Zusammenarbeit mit den Entwicklungs- und
Schwellenländern. Die Zusammenarbeit mit undemokratischen Regimes
jenseits humanitärer Hilfe für die Bevölkerung muss beendet werden, eben-
so die Zerstörung lokaler Märkte durch eine aggressive Freihandelspolitik
und Exportsubventionen, die Ausbeutung fossiler Ressourcen vorwiegend
im Interesse internationaler Konzerne und die Überfischung der Meere vor
den Küsten Afrikas.

Berlin, den 14. Januar 2014

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

Begründung

Auf das Massensterben an den Außengrenzen der EU als „Preis der Abschottung“ wird von Flüchtlingsver-
bänden und Nichtregierungsorganisationen seit vielen Jahren hingewiesen. Auch die Fraktion DIE LINKE.
forderte die Bundesregierung angesichts einer Schreckensbilanz Zehntausender Toter bereits mehrfach zu
einer grundlegenden Kurskorrektur auf (vgl. z. B. Bundestagsdrucksachen 16/5109 und 17/8139). Verge-
bens. Die Bürgermeisterin Lampedusas, Giusi Nicolini, fragte am 11. November 2012, nachdem ihr
21 Leichen übergeben worden waren, in einem offenen Brief: „Wie groß muss der Friedhof auf meiner
Insel noch werden? Ich bin über die Gleichgültigkeit entrüstet, die alle angesteckt zu haben scheint; mich
regt das Schweigen von Europa auf, das gerade den Friedensnobelpreis erhalten hat, und nichts sagt, ob-
wohl es hier ein Massaker gibt, bei dem Menschen sterben, als sei es ein Krieg. Ich bin mehr und mehr
davon überzeugt, dass die europäische Einwanderungspolitik diese Menschenopfer in Kauf nimmt, um die
Migrationsflüsse einzudämmen. Vielleicht betrachtet sie sie sogar als Abschreckung. Aber wenn für diese
Menschen die Reise auf den Kähnen den letzten Funken Hoffnung bedeutet, dann meine ich, dass ihr Tod
für Europa eine Schande ist.“
Infolge des „Massakers“ (Italiens Staatspräsident Giorgio Napolitano) vor Lampedusa vom 3. Oktober 2013
scheint es eine geänderte, kritische öffentliche Wahrnehmung der EU-Flüchtlingspolitik zu geben. Von
einer „Schande“ für Europa war danach oft die Rede, auch bei Papst Franziskus, dessen erste Reise im Juli
2013 nach Lampedusa gegangen war, „um die Toten zu beweinen“. Bürgermeisterin Giusi Nicolini machte
eine wichtige Ergänzung: „Man kann das nicht wiedergutmachen. Man darf jetzt nicht nur die Toten bewei-
nen, sie bergen und bestatten. Man muss weitere Tote verhindern, etwas ändern“.
Doch genau das geschieht nicht. Der Bundesminister des Innern Dr. Hans-Peter Friedrich erklärte nur we-
nige Tage nach dem Massaker, „selbstverständlich“ bleibe das Dublin-System unverändert, auf einem EU-
Gipfel Ende Oktober 2013 wurde eine Initiative südlicher Mitgliedstaaten zur Änderung der Dublin-
Verordnung abgewiesen. Wirksame Änderungen der bisherigen Politik gibt es nicht. Deutschland sei das
Land, das am meisten Flüchtlinge in der EU aufnehme, erklärt die Bundesregierung regelmäßig. Doch diese
Aussage stimmt nur in absoluten Zahlen, nicht aber im Verhältnis zur Bevölkerungsgröße und Wirtschafts-
kraft. Unzulässig ist der Vergleich der offiziellen Asylantragszahlen aber vor allem, weil hierdurch die
vielen Flüchtlinge nicht erfasst werden, die keinen Zugang zum Asylsystem finden oder die auf eine Asyl-
antragstellung verzichten, weil sie Angst vor einer Inhaftierung oder kein Vertrauen in die Asylprüfung
haben oder weil sie in einem anderen Land der EU ihr Asylverfahren betreiben möchten.

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 5 – Drucksache 18/288

Wie ein anderes, „gerechtes und solidarisches System der Verantwortlichkeit“ aussehen könnte, haben PRO
ASYL, AWO, Diakonie, Deutscher Anwaltverein, Neue Richtervereinigung, der Jesuiten-Flüchtlingsdienst
und der Paritätische Wohlfahrtsverband in einem im März 2013 gemeinsam veröffentlichten „Memoran-
dum“ im Detail beschrieben. Kern ist die Forderung nach einer freien Wahl des Mitgliedsstaates der EU, in
dem der Asylantrag gestellt werden soll. Zugleich soll mit diesem Prinzip ein finanzieller Ausgleichsfonds
geschaffen werden, über den die Mitgliedstaaten die unterschiedliche Beanspruchung ihrer Aufnahmesys-
teme in Solidarität ausgleichen. Es besteht dann auch kein Anreiz mehr wie im derzeitigen System, die
eigenen Grenzen gegen Schutzsuchende abzuschotten oder mit möglichst abschreckenden Aufnahmebedin-
gungen dafür zu sorgen, dass sich Asylsuchende wie derzeit auf eine aussichtslose Odyssee in andere Mit-
gliedsstaaten begeben. Somit ließe sich auch der Anspruch einheitlicher Verfahrens- und Aufnahmestan-
dards, wie er in den einschlägigen Asylrichtlinien der EU niedergelegt ist, endlich verwirklichen.

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