BT-Drucksache 18/2742

Humanitäre Hilfe und Flüchtlingsschutz für Jesiden, Kurden und andere Schutzbedürftige im Norden des Irak und Syriens

Vom 7. Oktober 2014


Deutscher Bundestag Drucksache 18/2742
18. Wahlperiode 07.10.2014
Antrag
der Abgeordneten Ulla Jelpke, Wolfgang Gehrcke, Jan Korte, Karin Binder,
Inge Höger, Petra Pau, Kersten Steinke, Frank Tempel, Halina Wawzyniak und
der Fraktion DIE LINKE.

Humanitäre Hilfe und Flüchtlingsschutz für Jesiden, Kurden und andere
Schutzbedürftige im Norden des Irak und Syriens

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Infolge der Offensive der Terrororganisation „Islamischer Staat“ (IS) ab dem 9. Juni
2014 im Nordirak und der von ihr und ihren lokalen Verbündeten verübten Gräuel-
taten flohen über eine Million Menschen in die Kurdische Autonomieregion und in
die unter Selbstverwaltung stehenden Gebiete im Nordosten Syriens
(Rojava).

Der Bundestag ist erleichtert, dass hunderttausend Jesidinnen und Jesiden, andere
Minderheitenangehörige und allgemein vom „Islamischen Staat“ bedrohte Men-
schen gerettet werden konnten. Diese Menschen befinden sich nun in Flüchtlingsla-
gern in Rojava und im Nordirak sowie in der Türkei oder haben Aufnahme in Dör-
fern und Gemeinden der Region gefunden. Durch das massive Vorrücken des IS auf
Ain Al Arab (Kobanê) hat sich die Zahl der kurdisch-syrischen Flüchtlinge in der
Region nochmals deutlich erhöht. Die humanitäre Versorgungslage ist katastrophal
und wird sich deutlich verschlechtern, wenn der Winter beginnt. In Rojava geht die
humanitäre Notlage vor allem auf das Embargo der Türkei und der kurdischen Re-
gionalregierung im Irak zurück, die Hilfstransporte an der Grenze zu Syrien nicht
oder nur in Ausnahmefällen passieren lassen, sowie auf die Kontrolle der Verbin-
dungswege zwischen den drei Kantonen durch den IS und andere djihadistische
Gruppierungen. Aber auch im Norden des Irak bleibt die humanitäre Hilfe weit hin-
ter den Anforderungen zurück. Besonders verletzliche Flüchtlinge (Kranke, Trau-
matisierte, allein reisende Kinder und Frauen) leiden unter dieser Situation beson-
ders.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. die bislang bereitgestellte humanitäre Hilfe deutlich zu erhöhen und kurzfristig
mindestens 200 Mio. Euro zur Verfügung zu stellen und auf die unter Selbst-
verwaltung stehenden Gebiete Syriens auszudehnen;

2. gegenüber den Regierungen der Türkei und der Region Kurdistan-Irak der For-
derung nach einer Aufhebung des Embargos gegen Rojava und der Grenz-
schließungen Nachdruck zu verleihen;

Drucksache 18/2742 – 2 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode
3. gegenüber der Türkei auf ein Ende der Kooperation mit dem IS und der Dul-

dung seiner Aktivitäten innerhalb der Türkei zu drängen und der Organisation
so Rückzugsräume, Trainingscamps, Nachschublinien und die wichtigste Tran-
sitroute einreisender Kämpfer sowie die Möglichkeit der Finanzierung durch
den Verkauf geschmuggelten Öls in die Türkei zu nehmen;

4. gegenüber der Türkei und im Rahmen der NATO türkischen Forderungen nach
Einrichtung einer Flugverbots- und Pufferzone in Nordsyrien einschließlich
Teilen von Rojava, entgegenzutreten;

5. mit den Bundesländern Vereinbarungen zu treffen, um die Aufnahme von
Flüchtlingen aus der Region bei ihren Verwandten in Deutschland deutlich zu
erleichtern und hierbei auf eine Kontingentierung zu verzichten;

6. die deutschen Auslandsvertretungen in der Region personell so auszustatten,
dass sie die große Zahl an Visumanträgen im Rahmen von Aufnahmeprogram-
men von Bund und Ländern und zum Familiennachzug in kurzer Zeit bewälti-
gen können;

7. für Flüchtlinge aus der Region zusammen mit den Bundesländern ein Aufnah-
mekontingent nach § 23 Absatz 2 des Aufenthaltsgesetzes zu schaffen;

8. sich auf europäischer Ebene dafür einzusetzen, dass für Flüchtlinge sichere Zu-
gangswege zu den Staaten der Europäischen Union geschaffen werden;

9. sich bei der türkischen Regierung für den Wiederaufbau von jesidisch-kurdi-
schen Dörfern, die im Zuge der kriegerischen Auseinandersetzungen der 80er
und 90er Jahre verlassen oder gewaltsam geräumt wurden, einzusetzen; auf
Rechtssicherheit und Schutz vor Verfolgung für diejenigen zu drängen, die frei-
willig aus dem Exil in diese Dörfer zurückkehren wollen oder etwa auf freiwil-
liger Basis als Flüchtlinge aus dem Irak dort neu angesiedelt werden möchten;

10. angesichts der Tatsache, dass bei den Dorfzerstörungen in den 80er und 90er
Jahren in großem Maße Militärtechnik aus deutscher Lieferung zum Einsatz
kam, finanzielle Mittel für den Wiederaufbau und die Ausgestaltung dieser und
der noch bewohnten jesidischen Dörfer mit der nötigen Infrastruktur zur Ver-
fügung zu stellen.

Berlin, den 7. Oktober 2014

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

Begründung

Das Vorrücken der Terrorgruppe „Islamischer Staat“ im Irak hat die Zahl der intern Vertriebenen im Nordirak
auf 1,45 Millionen anwachsen lassen (Stand 26. August 2014, OCHA, UN-Office for the Coordination of Hu-
manitarian Affairs). Der größte Teil befindet sich mit etwa 400 000 Menschen im Norden des Irak im Gouver-
nement Dohuk an der Grenze zur Türkei. Dorthin sind viele der Menschen, die allein durch den Einsatz der
bewaffneten Kräfte der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) und der Volksverteidigungseinheiten (YPG) des
Selbstverwaltungsgebietes im Norden Syriens aus dem Shengal-Gebirge (arab. Sinjar) gerettet wurden, durch
die Provinz Cizîrê in Rojava (Syrien) geflohen. Einige Flüchtlinge sind auch in der Provinz Cizîrê verblieben,
ihre Zahl wird auf 20 000 geschätzt.

Die Auswirkungen dieser Ereignisse für die Gesellschaft des Irak sind noch gar nicht absehbar. Im Irak befan-
den sich vor der aktuellen Krise bereits eine halbe Million Menschen intern auf der Flucht. Zudem leben etwa

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225 000 syrische Flüchtlinge im Irak, vor allem im Westen und Norden des Landes. Sie sind wahrscheinlich
zu großen Teilen ebenfalls in die kurdische Autonomieregion weitergeflüchtet und somit erneut entwurzelt
worden. Genaue Zahlen liegen hierzu noch nicht vor. Die Versorgung und Unterbringung dieser Menschen
stellt die Regionalregierung Kurdistan-Irak und die Zentralregierung des Irak vor große Herausforderungen.
Zudem haben sich die konfessionellen Gräben weiter vertieft. Sunniten im Nordirak haben sich offen mit den
IS-Kämpfern verbündet und die jesidischen Nachbarn aus ihren Dörfern vertrieben; die „Peshmerga“-Soldaten
der in Erbil regierenden Demokratischen Partei Kurdistans (KDP) haben durch ihren Rückzug aus Sengal den
Völkermord in diesem Ausmaß erst möglich gemacht; weder die abgetretene Zentralregierung unter dem frühe-
ren Ministerpräsidenten Maliki noch die Regierung der Kurdischen Autonomiezone haben eine auf Ausgleich
orientierte Politik betrieben. Eine Änderung ist nicht in Sicht, vielmehr agiert die kurdische Regionalregierung
in Richtung einer Ausdehnung ihres Herrschaftsgebiets und einer noch weitergehenden Autonomie gegenüber
Bagdad.

Abgesehen von humanitären Überlegungen ist die Verbesserung der Lebensbedingungen der Flüchtlinge und
intern Vertriebenen im Norden des Irak in diesem Kontext ein entscheidender Schritt, um auch insgesamt wie-
der für stabilere Verhältnisse in dieser Region zu sorgen.

Eine Entlastung der lokalen Akteure bei der Versorgung der Flüchtlinge entsteht auch durch die Aufnahme von
Flüchtlingen in der EU und der Bundesrepublik Deutschland. Die Erfahrungen mit den Aufnahmeprogrammen
für syrische Flüchtlinge haben gezeigt, dass die Aufnahme bei Verwandten hierfür den schnellsten und unkom-
pliziertesten Weg bietet, solange alle beteiligten Behörden ausreichend Personalressourcen zur Verfügung stel-
len. Zudem wird über die hier lebenden Verwandten eine Integration erleichtert. Aber auch für besonders
schutzbedürftige Flüchtlinge müssen Möglichkeiten der Einreise geschaffen werden. Das soll über ein eigenes
Aufnahmeprogramm ermöglicht werden. Es sollte allerdings darauf verzichtet werden, für die Auswahl der
Aufzunehmenden Ressourcen des UN-Flüchtlingshilfswerks (UNHCR) oder anderen UN-Hilfsorganisationen
zu binden, deren Expertise und Personal dringend für die Linderung der akuten Notsituation der im Irak und
Syrien verbleibenden Flüchtlinge benötigt wird. Eine zügige und großzügige Auswahl kann auch durch Mitar-
beiterinnen und Mitarbeiter des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge und des Auswärtigen Amtes ge-
leistet werden.

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