BT-Drucksache 18/2733

Umgehung der frühen Nutzenbewertung bei neuen Arzneimitteln

Vom 7. Oktober 2014


Deutscher Bundestag Drucksache 18/2733
18. Wahlperiode 07.10.2014
Kleine Anfrage
der Abgeordneten Kathrin Vogler, Sabine Zimmermann (Zwickau),
Susanna Karawanskij, Harald Weinberg, Birgit Wöllert, Jörn Wunderlich,
Pia Zimmermann und der Fraktion DIE LINKE.

Umgehung der frühen Nutzenbewertung bei neuen Arzneimitteln

Mit dem Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz (AMNOG) wurde zum 1. Januar
2011 die frühe Nutzenbewertung von neuen Arzneimitteln eingeführt (§ 35a des
Fünften Buches Sozialgesetzbuch – SGB V). Das pharmazeutische Unterneh-
men legt dem Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) bei Marktzugang ein
Dossier vor, auf dessen Grundlage insbesondere darüber entschieden wird, in-
wieweit das neue Präparat einen therapeutischen Mehrwert (Zusatznutzen) ge-
genüber dem bisherigen Therapiestandard („zweckmäßige Vergleichstherapie“)
besitzt. Auf Grundlage des G-BA-Beschlusses über den Zusatznutzen verhan-
deln der Spitzenverband der gesetzlichen Krankenkassen (GKV-Spitzenver-
band) und der Hersteller einen Rabatt für die Erstattung, der dann auch für die
private Krankenversicherung (PKV) gilt.
Legt das pharmazeutische Unternehmen die erforderlichen Nachweise trotz
Aufforderung durch den G-BA nicht rechtzeitig oder nicht vollständig vor, gilt
ein Zusatznutzen als nicht belegt (§ 35a Absatz 1 SGB V). In diesem Fall hat
sich der Erstattungsbetrag an dem der zweckmäßigen Vergleichstherapie zu be-
messen. Im Jahr 2013 wurde mit dem Dritten Gesetz zur Änderung arzneimittel-
rechtlicher und anderer Vorschriften die Vorgabe dahingehend konkretisiert,
dass die Vergleichstherapie nicht nur zweckmäßig, sondern auch wirtschaftlich
zu sein hat. Wenn mehrere Vergleichstherapien zur Verfügung stehen, so gilt als
Orientierung die preisgünstigste Therapie. Damit sollte unter anderem verhin-
dert werden, dass sich der Hersteller bei mehreren infrage kommenden Ver-
gleichstherapien „stets diejenige mit den höchsten Jahrestherapiekosten aus-
wählt, um einen entsprechend hohen Erstattungsbetrag zu verlangen“. Laut
Gesetzesbegründung sei es ausdrücklich nicht Zweck gewesen, bei nicht vor-
handener Evidenz dem Hersteller die Wahl einer möglichst hochpreisigen Ver-
gleichstherapie zu ermöglichen, um ohne Nachweis eines Zusatznutzens einen
entsprechend hohen Erstattungsbetrag vereinbaren zu können (vgl. Bundestags-
drucksache 17/13770, S. 24).
Nach aktueller Gesetzeslage kann ein Hersteller die Aufforderung zur Dossier-
einreichung ignorieren und – sofern das Präparat nicht festbetragsfähig ist – in
den folgenden Preisverhandlungen auf einen Erstattungsbetrag in der Größen-
ordnung der Vergleichstherapie setzen. Allerdings bleibt der Zusatznutzen dann
unklar.
Für Josef Hecken, Vorsitzender des G-BA, die fehlende oder unvollständige
Einreichung eines Dossiers „in der überwiegenden Zahl der Fälle als beabsich-
tigt einzustufen. […] Problematisch kann ein so kalkuliertes Vorgehen u. U. dann

Drucksache 18/2733 – 2 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode
für die Patienten sein, wenn das neue Arzneimittel tatsächlich schlechter als die
bestehenden zweckmäßigen Vergleichstherapien zu bewerten wäre. Durch den
Verzicht auf eine formal vollständige Dossiereinreichung verhindert der Unter-
nehmer die Bewertungsstufe ,geringer als der Nutzen der zweckmäßigen Ver-
gleichstherapie‘. Eine derartige Bewertung würde zweifelsohne in der Verord-
nungspraxis der Ärzte einen Niederschlag finden und die Umsatzentwicklung
des Unternehmens belasten“ (aus einem vorliegenden Brief von Josef Hecken an
die Fraktion DIE LINKE.).

Wir fragen die Bundesregierung:
1. Trifft es nach Ansicht der Bundesregierung zu, dass das Unterlassen der

Dossier-Einreichung eine Bewertung des Zusatznutzens neuer Arzneimittel
verhindert?

2. Inwiefern wird der Zweck des AMNOG, für „jedes neu in den Markt einge-
führte Arzneimittel mit neuen Wirkstoffen eine Nutzenbewertung durchzu-
führen“ (vgl. Gesetzesbegründung AMNOG, Bundestagsdrucksache 17/2413)
durch diese Praxis unterminiert?
a) Inwiefern hält es die Bundesregierung für zulässig, der Aufforderung des

G-BA nach Einreichung bzw. Vervollständigung des Dossiers nicht nach-
zukommen?

b) Welche Folgen hat die fehlende oder unvollständige Einreichung des Dos-
siers für das pharmazeutische Unternehmen?

3. Inwiefern kann die gesetzliche Vorgabe, dass der Zusatznutzen maßgeblich
für die Vereinbarung des Erstattungsbetrages zu sein hat, eingehalten werden,
wenn keine Bewertung des Zusatznutzens vorliegt?

4. Inwiefern stimmt die Bundesregierung der Aussage zu, dass durch die feh-
lende Dossierbewertung neue Arzneimittel auf den Markt kommen können,
die einen unklaren und auch möglicherweise geringeren therapeutischen Nut-
zen haben als die Vergleichstherapie?
a) Inwiefern hält es die Bundesregierung dann für vertretbar, dass der verein-

barte Erstattungsbetrag trotzdem auf dem Niveau der therapeutisch wert-
volleren Standardtherapie liegt (sofern kein Festbetrag zur Anwendung
kommt)?

b) Inwiefern hielte die Bundesregierung eine solche Entwicklung für proble-
matisch?

c) Inwiefern hält die Bundesregierung eine diesbezügliche gesetzliche Kon-
kretisierung für sinnvoll, und wie könnte sie aussehen?

5. Für wie viele neue Arzneimittel wurde nach Kenntnis der Bundesregierung
durch das pharmazeutische Unternehmen kein Dossier zur Nutzenbewertung
vorgelegt, und wie hat sich diese Zahl seit Geltung des AMNOG entwickelt?
a) Für wie viele seit Geltung des AMNOG auf den Markt gekommene Arz-

neimittel existiert keine frühe Nutzenbewertung nach § 35a SGB V?
b) Wie viele dieser neuen Arzneimittel wurden keinem Festbetrag zugeord-

net?
c) Für wie viele dieser Arzneimittel wurde der Erstattungsbetrag zwischen

GKV-Spitzenverband und pharmazeutischem Unternehmer ausgehandelt?
d) Welche Kenntnisse hat die Bundesregierung über die Listenpreise und die

Erstattungsbeträge dieser Arzneimittel?

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 3 – Drucksache 18/2733
6. Für wie viele neue Arzneimittel wurde nach Kenntnis der Bundesregierung
durch den pharmazeutischen Unternehmer ein unvollständiges Dossier zur
Nutzenbewertung vorgelegt, und wie hat sich diese Zahl seit Geltung des
AMNOG entwickelt?
Für wie viele dieser Arzneimittel wurde das Dossier auch nachträglich nicht
vervollständigt?

7. Wie viel Geld wurde nach Kenntnis der Bundesregierung von der GKV und
der PKV für die Erstattung von neuen, seit dem 1. Januar 2011 vermarkteten
Arzneimitteln ohne frühe Nutzenbewertung bezahlt?

8. Inwieweit ist nach Ansicht der Bundesregierung von einer Benachteiligung
derjenigen Firmen auszugehen, die ihrer Pflicht zur Dossier-Einreichung um-
fänglich nachkommen?

Berlin, den 6. Oktober 2014

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.