BT-Drucksache 18/2494

Rückzug der Deutschen Bahn AG bei Nacht- und Autoreisezügen stoppen - Nachhaltige Reisekultur in Europa fördern

Vom 9. September 2014


Deutscher Bundestag Drucksache 18/2494
18. Wahlperiode 09.09.2014
Antrag
der Abgeordneten Sabine Leidig, Herbert Behrens, Caren Lay, Eva
Bulling-Schröter, Roland Claus, Annette Groth, Katrin Kunert, Thomas Lutze,
Cornelia Möhring, Dr. Kirsten Tackmann und der Fraktion DIE LINKE.

Rückzug der Deutschen Bahn AG bei Nacht- und Autoreisezügen stoppen –
Nachhaltige Reisekultur in Europa fördern

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

1. Seit einigen Jahren vollzieht sich der schleichende Prozess des Abbaus der Au-
toreisezüge und der Nachtzugverkehre im deutschen und europäischen Schie-
nennetz. Bis Ende Oktober 2014 sollen Autoreisezüge der Deutschen Bahn AG
(DB AB) komplett eingestellt und viele Nachtzugverbindungen gestrichen wer-
den.

2. Darüber hinaus kommt es auch zu einem kontinuierlichen Abbau der traditio-
nellen Eisenbahnverbindungen von Deutschland in andere europäische Länder,
insbesondere in Form des Niedergangs des konventionellen Eurocity(EC)-Ver-
kehrs. Mit dem parallel eingesetzten IC-Bus wird das Schienenverkehrsangebot
durch die DB AG selbst einer ruinösen Konkurrenz ausgesetzt mit der absehba-
ren Folge, dass es aufgegeben wird.

3. In dem mit der Bahnreform Ende 1993 beschlossenen neuen Artikel 87e des
Grundgesetzes (GG) wurde in Absatz 4 festgehalten: „Der Bund gewährleistet,
dass dem Wohl der Allgemeinheit, insbesondere den Verkehrsbedürfnissen,
beim Ausbau und Erhalt des Schienennetzes des Bundes sowie bei deren Ver-
kehrsangeboten auf diesem Schienennetz, soweit diese nicht den Schienenper-
sonennahverkehr betreffen, Rechnung getragen wird. Das Nähere wird durch
Bundesgesetz geregelt.“ Das Grundgesetz geht damit davon aus, dass der Bund
bei der Bahn weiterhin gemeinwirtschaftliche Aufgaben zu verfolgen hat, und
zwar nicht nur hinsichtlich der Infrastruktur, sondern ausdrücklich auch hin-
sichtlich der „Angebote“ auf diesem Schienennetz, insofern es sich nicht um
Schienenpersonennahverkehr handelt.

4. Nachtzugverkehre gibt es in Deutschland seit 162 Jahren (seit 1852), Autoreise-
züge seit knapp 60 Jahren (seit 1956). Beide Zugverkehre sind fester Bestandteil
des Angebotes auf der Schiene. Wenn solche elementaren Bestandteile des
grundgesetzlich garantierten Schienenverkehrsangebotes aufgegeben werden,
so handelt es sich nicht um eine rein betriebswirtschaftliche Thematik, sondern
um Verkehrsbedürfnisse der Allgemeinheit, für deren Wohl der Bund zuständig
ist.

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5. Für eine nachhaltige Reisekultur in Europa ist der Ausbau transnationaler Bahn-

verbindungen notwendig. Der (Re-)Aktivierung von Nachtreisezügen, als Alter-
native zum Flugverkehr, kann dabei eine besondere Bedeutung zukommen.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. in ihrer Funktion als Vertreterin des Bundes als dem alleinigen Eigentümer der
Deutschen Bahn AG im Aufsichtsrat dieses Unternehmens darauf hinzuwirken,
dass die angekündigten und im laufenden Jahr 2014 bereits vollzogenen Einstel-
lungen von Nachtzug- und Autoreisezugverkehren zurückgenommen werden
und ein zweijähriges Moratorium beschlossen wird, das den Erhalt bzw. die
Wiederherstellung der am 1. Januar 2014 bestehenden Nachtzugverkehre und
Autoreisezugverbindungen enthält;

2. eine Studie darüber in Auftrag zu geben, wie die Bedingungen aussehen müssen,
damit es zu einer Renaissance der europaweiten Nachtzugverkehre in Kombina-
tion mit Autoreisezügen kommt. Dabei müssen die Erfahrungen mit traditionel-
len Nachtzügen ebenso wie neue Möglichkeiten für Nachtzugverkehre unter
Ausnutzung von Hochgeschwindigkeitsstrecken Berücksichtigung finden;

3. darauf hinzuwirken, dass im Rahmen der innereuropäischen Eisenbahnverkehre
und der Ausweitung derselben insbesondere Formen der Kooperation zwischen
bestehenden Eisenbahngesellschaften im Zentrum stehen;

4. auf europäischer Ebene die Stärkung europaweiter Eisenbahnverbindungen und
insbesondere die Förderung europaweiter Nachtzugverbindungen voranzutrei-
ben und entsprechende Initiativen zu ergreifen.

Berlin, den 9. September 2014

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

Begründung

Die Nachtzugverkehre und die Autozugreisezüge stellen bislang (trotz der bereits vollzogenen Kürzungen von
vielen Verbindungen und des Wegfalls von Angeboten, wie die Urlaubs- und Skiexpress-Züge) für über eine
Million Reisende eine bequeme, entspannte, familien- und kinderfreundliche und vor allem ökologische Alter-
native zum Flugzeug oder Auto für Urlaubs-, Geschäfts- oder touristische Städtereisen dar. Bemerkenswert ist,
dass sowohl bei der EM 2000 in Belgien und den Niederlanden als auch bei der WM 2006 in Deutschland die
Nachtzüge der DB in großem Umfang von Fußballfans aus vielen Ländern genutzt wurden, um durch das
Reisen über Nacht den Tag zu gewinnen. Die in 13 Ländern ausgetragene Fußballeuropameisterschaft (EM)
im Jahr 2020 könnte ein Fixpunkt für den Aufbau eines europaweiten Nachtzugsystems darstellen als umwelt-
freundlichere Alternative zur massenhaften Nutzung innereuropäischer Flüge.

Der Rückzug der Schiene widerspricht den Nachhaltigkeitszielen und bedeutet Kulturverlust.

Der Abbau der Nachtzugverkehre und der grenzüberschreitenden Eisenbahnverbindungen widerspricht zum
ersten den Zielen des Klimaschutzes und einer nachhaltigen Verkehrspolitik. Die offizielle Verkehrspolitik auf
deutscher und auf EU-Ebene attestiert der Schiene, die am ehesten nachhaltige Verkehrsart unter allen motori-
sierten Verkehrsarten zu sein.

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Zum zweiten steht dieser Abbau in direktem Gegensatz zur offiziell erklärten Zielsetzung der EU und ihrer
Mitgliedstaaten, durch engmaschige Verkehrsverbindungen und Verkehrsströme dazu beizutragen, dass „Eu-
ropa zusammenwächst“. Der fortschreitende Abbau von Eisenbahnverbindungen wirkt dagegen wie ein Beitrag
zur Spaltung Europas.

Zum dritten widerspricht diese Kahlschlagpolitik der Zielsetzung, zu einer Gesundung der Eisenbahnunterneh-
men auf europäischer Ebene beizutragen.

Schließlich droht mit dieser Politik der Verlust einer Reisekultur, die seit 150 Jahren charakteristisch für die
Eisenbahn ist. Die Legenden, die sich um die großen europäischen Züge im Allgemeinen und um die Nachtzüge
im Besonderen ranken („Orientexpress“; „Calais-Meditarranée Express / Train Blue“ u. a.), oder der Nieder-
schlag in Filmgeschichte und Literatur (Theodor Fontane, „Die Brück´ am Tay“; Pascal Mercier, „Nachtzug
nach Lissabon“ u. a.) sind ein Ausdruck davon.

Die Zerstörung immer weiterer seiner Bestandteile stellt das System Eisenbahn als solches in Frage.

Der Abbau bei den europaweiten Verbindungen, bei den Autoreisezügen und den Nachtzugverbindungen muss
eingeordnet werden in die allgemeine Kahlschlagpolitik bei den europäischen Eisenbahnen. Bei den Eisenbah-
nen wurden in den letzten Jahrzehnten gewissermaßen „Zug um Zug“ Segmente abgebaut, die zuvor als ele-
mentare Bestandteile einer einheitlichen Eisenbahn gegolten hatten.

Am Beispiel der Eisenbahn in Deutschland (Bundesbahn/Reichsbahn und Deutsche Bahn AG) waren dies:
Aufgabe des Postzugverkehrs (1994/95), Aufgabe des Stückgutverkehrs (2. Hälfte 1990er Jahre); Einstellung
des Interregio (2001/2002); Verlagerung verbliebener Reisegepäckdienste auf die Straße (Ende der 1990er
Jahre); Aufgabe der personellen Präsenz und geöffneter Schalter bei tausenden Bahnhöfen (ein kontinuierlicher
Prozess seit Mitte der 1980er Jahre, beschleunigt seit der Bahnreform von 1994); Aufgabe der bahnaffinen
Verkehrsarten wie Bodenseeschifffahrt und der Schifffahrtsgesellschaften mit Verbindungen nach Skandina-
vien (Scandlines, 2005); Ausgliedern u. a. des Güterverkehrs (seit Ende der 1990er Jahre); Abbau des Netzes
vor allem in den regionalen Verästelungen („Nebenstrecken“; im Zeitraum 1994 bis 2013 wurde die Betriebs-
länge des Netzes um 7 000 km gekappt).

Wenn vor einem solchen Hintergrund die Autoreisezüge eingestellt werden und die Nachtzüge ganz oder weit-
gehend verschwinden, wird das System Eisenbahn ein weiteres Mal qualitativ geschädigt und gegenüber dem
Straßen- und Luftverkehr geschwächt.

Behauptung der DB AG zu mangelnder Rentabilität wird bestritten.

Grundsätzlich ist festzustellen, dass die Angebote der Autoreisezüge und der Nachtzüge oft lange vor Abfahrt
der entsprechenden Züge ausgebucht sind. Der Auslastungsgrad dieser Angebote liegt rund doppelt so hoch
wie im durchschnittlichen Schienenpersonenfernverkehr. Gleichzeitig gab es seitens der Deutschen Bahn AG
einen kontinuierlichen Abbau bei diesen Angeboten: Die Kapazitäten im Nachtzugverkehr wurden systema-
tisch reduziert. Das Wagenmaterial ist teilweise veraltet und oftmals unzureichend gewartet; letzteres resultiert
in vorzeitigem Verschleiß (so im Fall der Doppelstockwagen). Die Speisewagen wurden aus den Nachtreise-
zügen systematisch entfernt. Über einen längeren Zeitraum hinweg war es nicht möglich, von Skandinavien
aus Autoreisezüge der DB AG zu buchen.

Die DB AG rechtfertigt die Einstellung von Nachtzügen mit Schaubildern, die einen deutlichen Rückgang der
Fahrgastzahlen in den Nachtreisezügen suggerieren. Demgegenüber präsentierten Betriebsräte der zuständigen
Bahntochter DB European Railservice (DB ERS) andere Zahlen. Danach hat die DB ERS 2013 18,5 Prozent
mehr Fahrgäste in den Nachtzügen betreut als 2009. Das Aufkommen in den Monaten Januar bis Mai 2014 lag
nach diesen Berechnungen sogar um 38,4 Prozent über dem Niveau des entsprechenden Zeitraums im Jahr
2009.

Auch die Praxis und Bewertung seitens ausländischer Eisenbahnunternehmen unterscheidet sich von der der
DB AG. Die osteuropäischen Bahnen bauen den Sektor vorsichtig aus und übernahmen z.B. einige Destinati-
onen (Wien–Berlin und Wien–Bukarest), die zuvor die österreichische Bahn (ÖBB) aufgegeben hatte. Die rus-
sische Staatsbahn (RZB) fährt in diesem Segment eine Offensivstrategie und investierte jüngst in neue Schlaf-
wagen. Bei der ÖBB wird geprüft, mehr Waggons nach Rom zu schicken, wenn der Zugteil aus München
ausfällt.
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Angesichts solcher Widersprüche ist eine objektive Datenaufbereitung durch eine neutrale Instanz erforderlich
– als erste Voraussetzung, um über die weiteren Perspektiven der Nacht- und Autoreisezüge zu diskutieren.

Die Einstellung der Nachtzugverkehre geht zu Lasten der Bahn und der Umwelt.

Die Deutsche Bahn AG argumentiert in der Öffentlichkeit, dass die Nachtzug- und Autozugfahrgäste im Fall
eines Wegfalls dieser Schienenverkehrsangebote zum größten Teil auf andere Angebote im Schienenpersonen-
fernverkehr, etwa Tagesrand-ICE, zurückgreifen würden. Tatsächlich aber ergab im April 2014 eine Umfrage
der DB unter den Nachtzugfahrgästen, dass nur 25 Prozent der Nachtzugreisenden den Hochgeschwindigkeits-
verkehr der Bahn als Alternative nutzen würden. 33 Prozent würden in einem solchen Fall hingegen das Flug-
zeug wählen, zwölf Prozent das Auto oder den Bus. Ein Teil würde die Reise gar nicht antreten.

Laut dem „Umweltmobilcheck“ auf der Website der DB AG, der auf dem Rechenmodell „Tremod“ des Insti-
tuts für Energie- und Umweltforschung Heidelberg (IFEU) basiert, sind Flugverbindungen auf den Destinati-
onen der jetzigen Nachtzugverbindungen rund drei bis vier Mal klimaschädlicher als eine Nachtzugreise.

Der Arbeitsplatzverlust ist zu verhindern.

Insgesamt geht es bei der weitgehend erfolgten Einstellung der Autoreisezüge und bei der drohenden Einstel-
lung der Nachtzugverkehre allein in Deutschland um rund 1 000 Arbeitsplätze (550 beim DB ERS und weitere
rund 500 im direkten Umfeld vor Ort). Hinzu kommen Arbeitsplätze in den Bereichen Instandhaltung und
Fahrzeugbau. Ende 2014 soll der DB ERS in Dortmund geschlossen werden (120 Arbeitsplätze).

Der hier drohende Arbeitsplatzabbau ist vor dem Hintergrund des umfassenden massiven Jobabbaus zu sehen,
den es bei der Deutschen Bahn AG seit 1994 mit einer Halbierung der Zahl der Beschäftigten im Bahnbereich
bereits gab. Dazu kommt: Im Unterschied zu den Beschäftigten in anderen Konzernteilen sind Arbeitnehme-
rinnen und Arbeitnehmer bei der Deutsche-Bahn-Tochter DB ERS nicht in den konzerninternen Arbeitsmarkt
integriert. Im Fall von Betriebsschließungen sind diese zunächst arbeitslos. Dabei verfügt die DB im Bereich
Nachtzüge/Autoreisezüge über eine vielfältig qualifizierte und hochmotivierte Belegschaft, die im positiven
Sinn „Dienst am Kunden“ leistet und zu einer hohen Qualität des Servicestandorts Deutschland beiträgt.

Eine offensive und alternative Konzeption europaweiter Eisenbahnverkehre ist nötig und möglich.

Die Zukunft hat ihre Wurzeln in der Vergangenheit: Es hat bis weit in die 1990er Jahre ein recht gutes Nacht-
zugnetz gegeben. Damals setzten die Verantwortlichen bei der Bundesbahn und bei der DB AG interessante
Ideen zur Vermarktung, einschließlich einer attraktiven Preisgestaltung, um. Diese Ansätze waren mit erkenn-
bar positiven Resultaten verbunden und müssen analysiert und gegebenenfalls reaktiviert werden.

Insgesamt geht es allerdings um die offensive Entwicklung und Präsentation einer alternativen, europaweiten
Konzeption des europaweiten Bahnverkehrs unter den aktuellen technischen und verkehrspolitischen Bedin-
gungen. Es gibt ein erhebliches Potential dafür. Dies dokumentiert auch die neue Studie der International Union
of Railways (UIC) zu den Chancen des Nachtzugverkehrs (UIC-Study Night Trains 2.0 – New Opportunities
by HSR? Full Report by UIC-International Union of Railways, Frühjahr 2014). Diese Studie wurde durch die
Tochter der Deutschen Bahn AG, DB ML, in Auftrag gegeben und sieht ein erhebliches Potential zum Ausbau
der Nachtzüge. Die UIC-Studie geht davon aus, dass heute die neuen Hochgeschwindigkeitsstrecken in eine
Neukonzeption der Nachtzugverbindungen einbezogen werden können, wodurch sich der Radius solcher Ver-
kehre deutlich vergrößerte und sich die Konkurrenzposition der Nachtzugverkehre gegenüber den innereuro-
päischen Flügen erheblich verbesserte. Inwieweit eine solche Konzeption betriebswirtschaftlich trägt, müsste
überprüft werden. Immerhin geht die zitierte UIC-Studie davon aus, dass in einem solchen Fall 70 Prozent der
Betriebskosten auf die Infrastrukturabgaben (Trassengelder) entfallen. Denkbar wäre, die Trassengebühren für
Nachtzüge zu reduzieren. Immerhin werden Güterzüge generell mit weitaus niedrigeren Trassengebühren be-
lastet und in europäischen Nachbarländern sind die Trassengebühren für Fernverkehrszüge teilweise nur halb
so hoch wie in Deutschland.

Grundsätzlich scheint es sinnvoll zu sein, dass zunächst die traditionellen Nachtzugverbindungen erhalten und
optimiert bzw. reaktiviert werden.

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