BT-Drucksache 18/2464

Aufenthaltsrechtliche Situation von afghanischen Flüchtlingen in Deutschland

Vom 2. September 2014


Deutscher Bundestag Drucksache 18/2464
18. Wahlperiode 02.09.2014
Kleine Anfrage
der Abgeordneten Ulla Jelpke, Harald Petzold (Havelland), Martina Renner,
Frank Tempel und der Fraktion DIE LINKE.

Aufenthaltsrechtliche Situation von afghanischen Flüchtlingen in Deutschland

Ein regelmäßig wiederkehrender Tagesordnungspunkt der Tagungen der Ständi-
gen Konferenz der Innenminister und -senatoren der Länder (IMK) ist die
„Rückführung nach Afghanistan“. Gemeint sind damit Abschiebungen von
afghanischen Staatsangehörigen, deren Asyl- oder Flüchtlingsstatus widerrufen
wurde oder die erst gar nicht als schutzbedürftig eingestuft worden und deshalb
ausreisepflichtig sind. Viele dieser Menschen leben seit Jahren mit einer aufent-
haltsrechtlichen Duldung in Deutschland, weil ihre Abschiebung nicht vollzo-
gen werden kann. Laut Protokoll der Sitzung der IMK vom 11. bis 13. Juni 2014
in Bremen hat das Bundesministerium des Innern (BMI) dort einen Bericht zur
abschiebungsrelevanten Lage in Afghanistan vorgelegt. Die IMK hat die Bun-
desregierung laut Protokoll darum gebeten, einen Bericht mit detaillierteren Ein-
lassungen zu unterschiedlichen in Frage kommenden Gruppen – Familien,
alleinstehende junge Männer sind beispielhaft genannt – vorzulegen. Zugleich
wurde bekräftigt, dass Abschiebungen weiterhin nur nach umfassender Einzel-
fallprüfung vorgenommen werden sollten.
Soweit ersichtlich, werden tatsächlich nur in relativ wenigen Fällen afghanische
Staatsangehörige nach Afghanistan abgeschoben. Im vergangenen Jahr gab es
nach Angaben der Bundesregierung auf Bundestagsdrucksache 18/782 (Ant-
wort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Fraktion DIE LINKE.,
„Abschiebungen im Jahr 2013“, Frage 1) acht Abschiebungen nach Afghanis-
tan, im Jahr 2012 waren es neun (Bundestagsdrucksache 17/12442, Frage 1).
Über die Zahl der geduldeten afghanischen Staatsangehörigen liegen keine
aktuellen Erkenntnisse vor. Zum 31. Dezember 2013 hatten insgesamt 14 349
Afghaninnen und Afghanen in Deutschland als Asylsuchende eine Aufenthalts-
gestattung (vgl. Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Frak-
tion DIE LINKE., Bundestagsdrucksache 18/1033, Frage 19). Im vergangenen
Jahr stellten 7 735 afghanische Staatsangehörige einen Asylantrag, 44,8 Prozent
der diesbezüglichen Entscheidungen führten zu einem Schutzstatus. Rechnet
man die Verfahren heraus, in denen die Zuständigkeit eines anderen EU-Staates
festgestellt wurde, beträgt diese Quote sogar 63,1 Prozent (alle Angaben vgl.
Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Fraktion DIE LINKE.
„Ergänzende Angaben zur Asylstatistik für das Jahr 2013“ auf Bundestags-
drucksache 18/705).
Das bedeutet aber auch, dass die Anträge von tausenden schutzsuchenden
Afghaninnen und Afghanen abgelehnt werden und sie prinzipiell in ein Land
zurückkehren müssen oder abgeschoben werden, in dem allein im Jahr 2013
3 000 Tote bei Anschlägen zu beklagen waren, die Zentralregierung weiterhin
nicht in der Lage ist, ihr Gewaltmonopol durchzusetzen, ein Drittel aller Kinder

Drucksache 18/2464 – 2 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode
unterernährt ist, die Lage der Frauen prekär und allenfalls in den größeren
Städten die Versorgung mit Strom und Wasser gewährleistet ist. Aus diesen
Gründen hat das Ministerium für Integration, Familie, Kinder, Jugend und
Frauen des Landes Rheinland-Pfalz mit einem den Fragestellern vorliegenden
Schreiben die Aussetzung von Abschiebungen nach Afghanistan bis zum 27. Ja-
nuar 2015 angeordnet (Ausnahmen bei Straftätern und Personen mit Bezügen in
extremistische Kreise). Während de facto in einigen Bundesländern in den ver-
gangenen Jahren keine Abschiebungen nach Afghanistan durchgesetzt wurden,
werden nach Recherchen des Nachrichtenmagazins „Kontraste“ des Rundfunks
Berlin-Brandenburg aus Bayern sogar Menschen abgeschoben, die in Deutsch-
land wirtschaftlich integriert sind und sich ausreichende Deutschkenntnisse an-
geeignet haben („Abschiebung nach Afghanistan trotz Sicherheitsbedenken“,
Sendung vom 27. Februar 2014).

Wir fragen die Bundesregierung:
1. Was hat das BMI der IMK zur asylrelevanten Lage in Afghanistan im Detail

berichtet?
a) Worin unterschied sich der Vortrag oder die Vorlage insbesondere vom

Lagebericht des Auswärtigen Amts, der regelmäßig aktualisiert wird, und
was war die Motivation des BMI, einen eigenen Bericht zu verfassen?

b) Kann das BMI den Wunsch der Landesinnenminister und -senatoren nach
einem auf verschiedene Gruppen zugeschnittenen Bericht nachvollziehen,
wird sie einen solchen vorlegen, und wie fällt eine auf verschiedene Grup-
pen zugeschnittene Bewertung der asylrelevanten Lage in Afghanistan
derzeit aus?

c) Was sind die wesentlichen Quellen des BMI zur Abfassung solcher Be-
richte, und bezieht sie dabei insbesondere auch die Berichte des Hohen
Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen (UNHCR) und weiterer
Menschenrechtsgruppen mit ein?

2. Inwieweit sind die im November 2004 von der IMK beschlossenen „Grund-
sätze zur Rückführung und weiteren Behandlung der afghanischen Flücht-
linge“ weiterhin in Anwendung, nach denen bevorzugt verurteilte Straftäter
(bereits ab Verurteilung zu 50 Tagessätzen), Personen mit Extremismusbezü-
gen und so genannte Gefährder sowie alleinstehende Männer abgeschoben
werden sollten?

3. Wie viele ausreisepflichtige afghanische Staatsangehörige haben nach
Kenntnis der Bundesregierung von der im Jahr 2005 zugleich beschlossenen
Altfallregelung profitiert und bei mindestens sechsjährigem Aufenthalt und
grundsätzlich eigenständiger Lebensunterhaltssicherung eine Aufenthalts-
erlaubnis nach § 23 Absatz 1 des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG) erhalten,
wie viele haben durch eine der nachfolgenden Bleiberechtsregelungen und
Beschlüsse eine Aufenthaltserlaubnis erhalten (bitte differenziert darstellen
und nach Geschlecht und Alter differenzieren)?

4. Welche Regelungen der Länder zur Aussetzung oder Staffelung von Abschie-
bungen nach Afghanistan sind der Bundesregierung seit den Beschlüssen der
IMK 2004/2005 bekannt geworden, und wird sie für eine Verlängerung des
vom Land Rheinland-Pfalz beschlossenen Abschiebestopps (siehe Vorbemer-
kung der Fragesteller) ihr Einvernehmen erteilen bzw. gegenüber den an-
deren Bundesländern für vergleichbare Abschiebestopps werben bzw. ihr
Einvernehmen für eine Bleiberechtsregelung nach § 23 Absatz 1 AufenthG
erteilen (bitte begründet antworten)?

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5. Wie viele afghanische Staatsangehörige und Personen mutmaßlich afghani-
scher Herkunft befinden sich derzeit mit einem Aufenthaltstitel oder einer
Duldung in Deutschland (bitte nach Aufenthaltstitel/Duldung mit Rechts-
grundlage und jeweils Geschlecht, minderjährig/erwachsen, Aufenthalt seit
null bis sechs Jahren/über sechs Jahren und Bundesländern auflisten)?

6. Wie viele ausreisepflichtige Afghaninnen und Afghanen befinden sich der-
zeit in Deutschland (bitte nach Geschlecht, minderjährig/erwachsen, Auf-
enthalt seit null bis sechs Jahren/über sechs Jahren und Bundesländern auf-
listen)?

7. Wie viele Afghaninnen und Afghanen sind seit dem 1. Januar 2006 freiwil-
lig ausgereist (bitte nach Geschlecht, Alter – minderjährig/volljährig – und
Jahren und jeweils pro Jahr gewährten Rückkehrhilfen auflisten)?

8. Bei wie vielen Afghaninnen und Afghanen wurde seit dem 1. Januar 2006
ein Verfahren zur Prüfung des Widerrufs oder der Rücknahme der Asyl-
oder Flüchtlingsanerkennung durch das Bundesamt für Migration und
Flüchtlinge eingeleitet, wie viele Entscheidungen wurden getroffen, und in
wie vielen Fällen wurde die Anerkennung widerrufen (bitte nach Jahren
auflisten)?

9. Welche Erkenntnisse liegen der Bundesregierung zur Zahl der Personen
vor, die infolge des Widerrufs oder der Rücknahme einer Asyl- oder Flücht-
lingsanerkennung oder eines subsidiären bzw. Abschiebungsschutzes ihren
Aufenthaltstitel verloren haben bzw. die abgeschoben wurden (bitte nach
Jahren auflisten)?

10. Aus welchen Bundesländern wurden seit dem Jahr 2006 Personen mit dem
Zielstaat Afghanistan abgeschoben (bitte nach Jahren und Geschlecht auf-
listen und angeben, wie viele Minderjährige sich unter den Abgeschobenen
befunden haben)?

11. Welche Praxis ist der Bundesregierung aus den anderen EU-Staaten hin-
sichtlich der Anerkennung eines Schutzbedarfs bei afghanischen Asyl-
suchenden und hinsichtlich der zwangsweisen Aufenthaltsbeendigung aus-
reisepflichtiger Afghaninnen und Afghanen bekannt (bitte so genau wie
möglich antworten)?

12. Welche Prognose hat die Bundesregierung zur weiteren Entwicklung der
Zahl von Asylsuchenden aus Afghanistan in der EU und in Deutschland ins-
besondere nach dem vollständigen Rückzug der USA und ihrer Alliierten
aus Afghanistan, und welche Prognosen und Einschätzungen sind ihr dazu
bekannt (auch, wenn sie sich diese nicht zu eigen machen will)?

Berlin, den 1. September 2014

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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